Status quo und quo vadis? Neue Forschungen zur Anerkennung und Wiedergutmachung von NS-Unrecht in vergleichender Perspektive

Symposium
30. März 2023 -
31. März 2023
Ort: Hochschule für jüdische Studien Heidelberg, Landfriedstraße 12, 69117 Heidelberg
Veranstalter: Forschungsstelle Antiziganismus am Historischen Seminar der Universität Heidelberg; Hochschule für jüdische Studien Heidelberg

Das von der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg in Zusammenarbeit mit der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg ausgerichtete Symposium dient dazu, das Thema "Wiedergutmachung für NS-Unrecht" unter Einbeziehung vielfältiger interdisziplinärer, raum- und epochenübergreifender Vergleichsperspektiven zu beleuchten und (neu) zu historisieren.

2022 jährt sich das Luxemburger Abkommen von 1952 zum 70. Mal. Diesem von Bundeskanzler Konrad Adenauer forcierten Vertragswerk mit dem Staat Israel und der Jewish Claims Conference folgten in Westdeutschland weitere Regelungen zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts. Mit dem Bundesergänzungsgesetz von 1953 wurde die Individualentschädigung bundesweit vereinheitlicht und richtete sich an einen erweiterten Personenkreis ehemaliger Verfolger. Doch zahlreiche Opfergruppen blieben unberücksichtigt. Erst 2020 erkannte der Deutsche Bundestag Personen, die als sogenannte „Asoziale” und „Berufsverbrecher“ verfolgt worden waren, als Opfer des Nationalsozialismus an, wodurch die wenigen verbliebenen Überlebenden dieser Gruppe einen erleichterten Zugang zu Entschädigungsleistungen erhielten. Sowohl im politischen Diskurs um die Anerkennung der Opfer als auch in der Verwaltungspraxis der Entschädigung zeigen sich Kontinuitäten der Diskriminierung, so dass viele Überlebende gezwungen waren, Forderungen öffentlich Nachdruck zu verleihen. Tendenzen wie diese offenbarten sich ebenfalls in der DDR. Nichtsdestoweniger sind Unterschiede im Behörden- und Verwaltungsalltag auf regionaler und lokaler Ebene auszumachen, die über die Differenzen im deutsch-deutschen Systemkonflikt hinausgehen.

So stellt sich heute nicht nur die Frage, wie die gesamtdeutsche Entschädigungspolitik und -praxis bilanziert werden kann, sondern damit zusammenhängend auch, wie es um den Stand der historischen Aufarbeitung dieser Felder bestellt ist. Zahlreiche Forschungen widmen sich der „Vergangenheitsbewältigung“ oder der „Transitional Justice“ in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus. Sie beschäftigen sich neben der Strafverfolgung von NS-Täter:innen oder Formen des Gedenkens u.a. auch mit der Anerkennung und Entschädigung von Überlebenden der Verfolgung. Die Wiedergutmachung stand historiographisch jedoch lange im Schatten anderer Seiten von Vergangenheitspolitik wie der alliierten Militärtribunale, der Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen oder der Entnazifizierung. Eine erste Welle von Forschungen setzte erst in den 1980er-Jahren ein. Dabei verteilte sich die wissenschaftliche und öffentliche Aufmerksamkeit nicht gleichmäßig auf die verschiedenen Teilgebiete dieser Thematik: Die Globalentschädigung für Israel und die Claims Conference nach dem Luxemburger Abkommen stand stets im Zentrum. Indes sind andere Aspekte wie die Rückerstattung und Individualentschädigung auch nichtjüdischer Opfergruppen weniger systematisch aufgearbeitet, was mit der bis heute anhaltenden Tätigkeit der Wiedergutmachungsverwaltung, aber auch mit der lange Zeit fehlenden gesamtgesellschaftlichen Anerkennung sogenannter „vergessener Opfer“ zu begründen ist. Den Einfluss der weltpolitischen Lage auf die Geschichte der Wiedergutmachung verdeutlicht die jahrzehntelang völlig ausgeklammerte Gruppe der ausländischen, mehrheitlich osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, deren Entschädigung aus Mitteln der im Jahr 2000 gegründeten Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ)“ erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus möglich geworden war.

Der mittlerweile durch systematisch angelegte Digitalisierungsprozesse der Archive erleichterte Zugang zu den Einzelfallakten der Landesentschädigungsämter behebt das zentrale Quellenproblem, das die Erforschung der Individualentschädigung in den letzten 40 Jahren stark gehemmt hat. Darüber hinaus steht mit dem in absehbarer Zeit bevorstehenden Tod der letzten Überlebenden das Auslaufen von Entschädigungszahlungen bevor. Diese Faktoren – verbunden mit Impulsen aus dem Bereich der Provenienzforschung – lassen einen neuen Boom der Wiedergutmachungsforschung in Deutschland sowie eine systematischere Historisierung der Wiedergutmachungspraxis erwarten. Die Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg und die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg wollen diese Entwicklungen zum Anlass nehmen, den bisherigen Forschungsstand zu rekapitulieren und zur Diskussion von Entwicklungs- und Erkenntnispotentialen des Themas auf einem wissenschaftlichen Symposium einzuladen. Dabei sollen die Perspektiven der älteren Forschung in einen produktiven Dialog mit neueren Fragestellungen treten. Vorgestellt werden sollen vor allem laufende und avisierte Forschungen, die sich u.a. den folgenden Problemkreisen widmen:

  • Politische Anerkennung von NS-Unrecht und gesetzlicher Rahmen für Entschädigungsleistungen
  • Verwaltungsalltag, Entscheidungsmechanismen, behördliche Handlungsspielräume und Vergleichsperspektiven auf regionaler und lokaler Ebene
  • Perspektive der Überlebenden und ihre Handlungsspielräume
  • Einordnung von Wiedergutmachung oder Entschädigungsleistungen in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge oder den allgemeinpolitischen Diskurs
  • Transnationale Zusammenarbeit und Allianzen bei der Anerkennung als Verfolgte und der Entschädigungspraxis
  • Nationale und institutionelle Auslegungen und Umsetzungen der auf der Washingtoner Konferenz erarbeiteten Empfehlungen hinsichtlich NS-Raubgut
  • Interdisziplinäre Ansätze und Theorien
  • Methodologische Zugänge, z.B. quantitative Analysen oder Digital Humanities
  • Vergleichende Perspektiven in Bezug auf unterschiedliche Opfergruppen („rassisch“, „politisch“ oder „religiös“ Verfolgte, Homosexuelle, Zwangsarbeiter:innen, sowjetische Kriegsgefangene oder sog. „Italienische Militärinternierte“, Zwangssterilisierte, „Euthanasie“-Opfer, als „Asoziale“ Verfolgte und andere „vergessene“ Opfergruppen)
  • Vergleichsperspektiven auf die verschiedenen Schadensarten nach dem Bundesentschädigungsgesetz (Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum und Vermögen, berufliches Fortkommen), Verknüpfung opfergruppenspezifischer und schadensartspezifischer Probleme
  • Diachrone Analysen und Entwicklung der Aufarbeitung oder der Historisierung der Aufarbeitung von NS-Unrecht, Vergleiche zur Aufarbeitung von Unrecht durch die SED-Diktatur nach 1989/90
  • Globale und transnationale Vergleiche zu historischen Diktaturüberwindungen in anderen Ländern, insbesondere der Umgang mit Opfern staatlichen Unrechts

Formalia:

Bitte reichen Sie Ihr Exposé in deutscher oder englischer Sprache, bestehend aus einem Abstract mit Titel (500 Wörter) und einem kurzen akademischen CV einschließlich Kontaktmöglichkeit und institutioneller Zugehörigkeit bis zum 31. Dezember 2022 per E-Mail an FSA-Symposium@zegk.uni-heidelberg.de ein. Die Bewerbung von Nachwuchswissenschaftler:innen ist ausdrücklich erwünscht. Die Benachrichtigung über die Annahme erfolgt Mitte Januar 2023.

Das Symposium wird aus Mitteln der Baden-Württemberg-Stiftung im Rahmen des Verbundprojekts „Reintegration, Schuldzuweisung und Entschädigung. Bewältigung und Nicht-Bewältigung der NS-Vergangenheit in den drei Vorgängerländern Baden-Württembergs 1945–1952“ gefördert. Die Veranstaltung findet vom 30. bis 31. März 2023 in Heidelberg statt und wird von der Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg (Verena Meier, Joey Rauschenberger) und der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (Philipp Zschommler) organisiert.

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