Ein Digital Remembrance Game für die Gedenkstätte Bullenhuser Damm

09/2025Gedenkstättenrundbrief 219, S. 4-14
Iris Groschek

Als Mitarbeitende an Gedenkorten gehen wir positiv davon aus, dass eine junge Generation durchaus Interesse an der NS-Zeit hat und – gerade vor dem Hintergrund beunruhigender aktueller gesellschaftlicher Tendenzen – das Wissen darüber als relevant für unsere Gesellschaft ansieht, sogar in stärkerem Maße als die Elterngeneration. Wir verstehen auch, dass junge Menschen in ihrer eigenen Kommunikationswelt angesprochen werden möchten und dass Geschichtsbilder zum NS-Unrecht zunehmend durch digitale Spiele mitgeprägt sind. Daher haben wir uns gefragt, wie vor diesen Hintergründen ein zielgruppenorientierter digitaler Ansatz bei der Vermittlung von NS-Geschichte in einer Gedenkstätte aussehen kann, der sowohl methodisch ansprechend als auch zu beiden Seiten respektvoll ist. 

Wir haben einen Ort und eine Geschichte. Eine Schule in Hamburg-Rothenburgsort, die während der NS-Zeit zu einem Außenlager des Konzentrationslager Neuengamme wurde. Am 20. April 1945 ermordeten SS-Männer im Keller des Gebäudes 20 jüdische Kinder und mindestens 28 erwachsene KZ-Häftlinge. An den Kindern waren zuvor im KZ Neuengamme pseudomedizinische Versuche durchgeführt worden. Nach dem Krieg wurde die Schule wiedereröffnet. Seit 1979 erinnert als Ergebnis bürgerschaftlichen Engagements die Gedenkstätte Bullenhuser Damm an das Geschehene. Sie gehört heute zur Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen. 

Die Gedenkstätte Bullenhuser Damm wird im Rahmen von Gruppenbesuchen auch von jüngeren Klassen aufgesucht, da Lehrkräfte die konkrete Geschichte der Ermordung von 20 Kindern am Bullenhuser Damm emotional näher an ihren Schüler*innen verorten und damit ein Besuch dieser kleinen Gedenkstätte beispielsweise dem Besuch der KZ-Gedenkstätte Neuengamme vorziehen. Die Gedenkstätte Bullenhuser Damm wird so zur Schablone für die Gräueltaten der Nazis und der Vermittlung der Shoah in Hamburg. Wir vermitteln dort nicht nur Geschichte, sondern möchten darüber hinaus mit den jungen Menschen ins Gespräch kommen, um persönliche Auseinandersetzung anzuregen. Dies vor dem Hintergrund, dass aktuelle gesellschaftspolitische Themen häufig einen direkten Bezug zur NS-Zeit haben und in unserem Fall ganz konkret zu der Geschichte und den Geschichten, die wir in der Gedenkstätte Bullenhuser Damm erzählen.

 

Erinnerung spielbar machen?

Gedenkstätten müssen immer wieder neu gedacht werden, offen für neue Formen von Erinnerung sein und sich damit verändern. In der Gedenkstätte Bullenhuser Damm bieten wir darum beispielsweise Schulklassen die Möglichkeit, in den ehemaligen Taträumen eigene Erinnerungsprojekte zu zeigen. Schüler*innen müssen sich dafür über den Ort, die Taten, die Biografien aber auch die Bedeutung von Erinnerung informieren und sich darüber hinaus Gedanken darüber machen, was Kunst an so einem speziellen Ort aussagen und bewirken soll. Darauf basierend entwickeln sie eigene Ausdrucksformen. Dabei versuchen sie über diese intensive Beschäftigung auch die Frage zu beantworten, welche Bedeutung ein solcher Erinnerungsort heute hat, welche Emotionen er auslösen kann, aus welchen unterschiedlichen Gründen Menschen ihn aufsuchen – und auch, was NS-Geschichte eigentlich ganz persönlich mit ihnen zu tun hat. Und diese Fragen – insbesondere, was Geschichte heute noch mit uns zu tun hat – sind zentral in der Vermittlung, um die Erinnerung an die NS-Verbrechen relevant für die Zukunft zu halten. 

Die Tatsache, dass weite Teile der aktuellen Gesellschaft in Deutschland digitale Spiele nutzen und dabei auch historischen Szenarien begegnen, zeigt die Relevanz digitaler Spiele auch für die historisch-politische Grundbildung und damit auch der Erinnerungskultur. Akteur*innen der Erinnerungskultur sollten mit den Potentialen von Games zugewandter umgehen. Die Anregung, für die Gedenkstätte 

Bullenhuser Damm »ein digitales Spiel, das nicht in der Vergangenheit verharrt, sondern einen Bezug zur Gegenwart herstellt« zu entwickeln, gab Nicole Mattern, die Vorsitzende der Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm e. V.. Erste konkretere Ideen und damit die Grundlagen für das spätere Game wurden im November 2021 im Rahmen eines zweitägigen Online-Workshops entwickelt. Es entstand das Digital Remembrance Game »Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm« über die Bedeutung von Erinnerung, das im November 2024 gelauncht wurde. Was heißt Erinnerung? Woran erinnern wir uns und woran nicht? Warum gibt es Gedenkstätten? Diese mit dem Titel des Games verknüpfte Fragestellungen, vor allem aber unterschiedliche, eng mit der Gedenkstätte verbundene aktuelle Themenkomplexe wie Ausgrenzung, Rassismus, Antisemitismus, menschenfeindliche Ideologien und ihre Folgen, Verantwortung in journalistischer Recherche, Bedeutung von Familie und Familiengeschichte, Bedeutung von Religion im Alltag, Ethik in der Medizin wurden zu Themen des Games, das damit mehr ist als ein erinnerungskulturelles Spiel. Es ist aktuell.

Im Laufe des Entwicklungsprozesses haben wir uns intensiv mit der Vermittlung von Geschichte durch digitale Spiele auseinandergesetzt, insbesondere mit der Rolle von Interaktivität und Spielmechaniken im erinnerungskulturellen Raum. Das Game wurde nicht als Lernspiel mit reinem Wissenserwerb als Ziel konzipiert, sondern möchte eine spielerische Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Erinnerung anbieten, mit spielerischer Leichtigkeit komplexe Themenfelder eröffnen und dabei das Medium Game und somit die Spielenden ernst nehmen. Da Referenzprojekte anfänglich fehlten, mussten Methoden und Wege in einem längeren Prozess erst entwickelt werden, bevor mit der eigentlichen Entwicklung des Games gestartet werden konnte. Eine weitere Voraussetzung bei der Entwicklung war, dass das Game nicht in einer Doppelung der Gedenkstätte verharren, sondern einen eigenen didaktischer Beitrag bilden sollte mit dem Ziel der Eröffnung eines Diskussionsraums zum Thema »Was hat Geschichte mit mir zu tun?« Unser Wunsch war, dass das Game auch entkoppelt von der Gedenkstätte Bullenhuser Damm funktionieren sollte. Es hat sich später in der Praxis gezeigt, dass die Neugier auf den Besuch des Ortes nach dem Kennenlernen des Games wächst.

 

Entwicklung als dynamischer und kreativer Prozess

Da wir das Game vor allem für einen Einsatz im Rahmen des schulischen Unterrichts anbieten wollten, dabei spielmechanische Möglichkeiten einsetzen, aber auch dem Thema, den Angehörigen als auch der Zielgruppe gegenüber angemessen bleiben wollten, haben wir Expert*innen gebeten, uns zu begleiten – in vielseitig besetzten Auftaktworkshops, in einem spielbeglei-tenden Beirat mit Personen u.a. aus der Geschichtsdidaktik, Game Studies, Public History, von der Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm und mit einem Angehörigen eines der ermordeten Kinder – und auch während der Fokusgruppentests. Wir konnten mit Markus Bassermann einen engagierten Projektleiter mit passender Expertise im Spannungsfeld zwischen Erinnerungskultur und Gameskultur gewinnen. Auch wenn zu Beginn die grundlegende Idee für die Umsetzung eines spielerischen Ansatzes bereits gegeben war, so entstand das letztliche Produkt erst durch einen agilen Prozess in der Interaktion zwischen Expert*innen unterschiedlicher Fachbereiche und solchen mit persönlicher Perspektive auf die Themenkomplexe, zwischen Spielentwickler*innen, Historiker*innen, Didaktiker*innen und Betroffenen sowie Vertreter*innen der Zielgruppe. Da während des Entwicklungsprozesses auch andere Akteur*innen der historisch-politischen Bildung in verschieden weit vorangeschrittenen Entwicklungsphasen digitaler Spiele waren, haben wir im Sommer 2023 außerdem ein Vernetzungstreffen organisiert zum Austausch über möglicherweise ähnliche Problemfelder. Für künftige Game-Entwicklungen im Gedenkstättenbereich wurden »Good-to-know«-Regeln formuliert, die Herausforderungen ehrlich benennen und erste Tipps für eine praktische Umsetzung auf arbeitsstruktureller als auch inhaltlicher Ebene geben.

Zwei Jahre lang hat ein Team der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen und der Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm, gefördert und unterstützt von der Alfred Landecker-Stiftung, mit dem Entwicklerstudio Paintbucket Games das Game entwickelt. Dabei wurden Spielziele und Spielmechaniken erarbeitet, die für den anspruchsvollen Bereich Erinnerungskultur sowohl ansprechend als auch angemessen sind. Das Entwicklerstudio hat bereits große Expertise in der Vermittlung von NS-Themen mittels Games. Es hat das in Deutschland bahnbrechende Game Through the Darkest of Times herausgebracht, in dem eine Widerstandsgruppe gegen die Nazis zusammengestellt werden muss oder jetzt aktuell The Darkest Files, wo eine junge Staatsanwältin bei Fritz Bauer gespielt wird, die den Auftrag hat, Verbrechen aufzuklären.

Uns war es wichtig, das Spielsetting nicht in die NS-Zeit zu setzen, um so eine von den Emotionen der Taten entkoppelte Auseinandersetzung zu erreichen. Immersive Effekte des Spielens bergen das Risiko, unreflektiert damalige Perspektiven zu wiederholen und auch, sich zu sehr in eine Rolle hineinversetzen. Diese Überwältigung wollten wir vermeiden. Wir wollten den Spielenden auch nicht mögliche alternative Handlungsverläufe suggerieren, was eine spielerische Reinszenierung nahelegen könnte. So haben wir das Setting des Games in einer Zwischenzeit platziert: Es spielt weder in der NS-Zeit, noch in der heutigen Zeit, sondern im Jahr 1979/1980, als Gedenkstätten noch keine etablierten Erinnerungsorte waren. Und so muss ich als Spieler*in nicht als »ich« heute spielen und auch nicht als eine Person in der Nazizeit, sondern ich bewege eine Schülerin oder einen Schüler aus der Zeit, als die Großmutter der Zielgruppe jung war. Dieser Kniff ermöglichte zudem im schulischen Setting eine Erweiterung von Geschichtserfahrungen im Sinne von Binnendifferenzierung, da nicht nur die NS-Zeit, sondern auch die Nachkriegszeit in ihren verschiedenen Facetten mit Hilfe des Games erarbeitet werden kann.

In »Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm« können fünf unterschiedliche Schüler*innen der Schule Bullenhuser Damm im Jahr 1979/1980 als Charaktere ausgewählt werden. So sind fünf Erinnerungsgeschichten spielbar. Die Charaktere treffen in jeweils drei Kapiteln auf verschiedene andere Figuren und entdecken so unterschiedliche Erzählungen der Vergangenheit. Dabei steht jeder Charakter für einen oder mehrere thematische Schwerpunkte mit Bezug zur Geschichte vom Bullenhuser Damm, wie oben schon erwähnt: Die Charaktere beschäftigen sich beispielsweise mit konkreten ethischen Fragen bei der Entwicklung von Impfstoffen bis hin zu Fluchtgeschichten oder unbeantworteten familiengeschichtlichen Fragen. Ziel ist es, beim Spielen nicht nur zu lernen, was in der NS-Zeit an diesem konkreten Ort am Bullenhuser Damm passierte, sondern sich mit Hilfe der spielbaren Charaktere mit der Bedeutung von Geschichte und Formen und Mechaniken von Erinnerung auseinanderzusetzen.

 

Wie sieht das konkret aus? 

Jede Figur beginnt mit einer Alltagsszene oder einem Alltagsproblem. Karsten will abends zu einem Punkmusikkonzert. Aber irgendwie nimmt schon das erste Gespräch mit seinem 

Vater, der eine Kneipe besitzt, eine andere Wendung. Im Laufe des Games begegnet Karsten 

verschiedenen Figuren, mit denen er interagiert, und drei von ihnen teilen ihm unterschiedliche Erinnerungen an die Nazi-Zeit mit: Der Vater, der sich erinnert, wie schwer er selber es in der Nachkriegszeit hatte, der Hausmeister der Schule, der schon in der Nazizeit Hausmeister der Schule Bullenhuser Damm war, aber sich nicht wirklich erinnern mag, und ein Mann in der Kneipe, bei dem sich herausstellt, dass er ein ehemaliger Häftling ist. 

Die einzelnen Bezüge zu den Ereignissen am Bullenhuser Damm müssen im Dialog in Form eines Point-and-Click-Games erspielt werden. Karsten erfährt schließlich im Laufe des Games inhaltlich, dass seine Schule in der Kriegszeit ein Außenlager des KZ Neuengamme war, aber er begegnet auch Verdrängung und Vorurteilen, Alt-Nazis und Erinnerungsabwehr. Schüler*innen, die Karsten spielen, haben am Ende Erinnerungsnarrative und mehrere vertiefende Hinweise zur Geschichte kennengelernt – Schüler*innen, die andere Figuren spielen, haben andere Hinweise erhalten. 

So wird Erinnern und damit Geschichte in unserem Game nicht als ein linearer Prozess dargestellt, sondern perspektivisch und fragmentarisch erlebt. Die Erinnerungen repräsentieren mitunter ambivalente Perspektiven verschiedener Akteure, die durchaus widersprüchlich und vor allem subjektiv sein können. Durch diese Darstellungsweise von fünf unterschiedlichen Erfahrungswelten, repräsentiert durch die fünf spielbaren Charaktere, zeigen wir im Game verschiedene Perspektiven auf Erinnerung auf. Erst durch den Blick auf das Nebeneinander von Narrativen, das Zusammensetzen verschiedener Erinnerungen und damit verschiedener Aspekte ergibt sich ein größeres Bild der Geschichte, für die die Gedenkstätte Bullenhuser Damm steht.

 

Funktioniert das?

Von Anfang an haben wir mit Schulklassen zusammengearbeitet, die uns aus spielmechanischer oder inhaltlicher Sicht ihr Feedback gaben. Sie begrüßten den kreativen digitalen Zugang zu individuellen Geschichten, verstanden die unterschiedlichen Zeitebenen, wünschten sich kürzere Texte und mehr ausformulierte Bezüge zur tatsächlichen Geschichte.

Wir haben sehr viel positiven Zuspruch bekommen. Nicht nur, weil das Spielen als Methode eine deutliche Abwechslung zum Unterrichtsalltag darstellt, sondern auch, weil unsere Sorgen, die bei dem Thema mitschwingen, z. B. emotionale Überwältigung, nicht berechtigt waren. Eine große Mehrheit der Schüler*innen bestätigte, es habe sogar Spaß gebracht, sich auf diese Weise mit aktuellen wie erinnerungskulturell relevanten Themen zu beschäftigen. 

Nach dem Spielen einer ausgewählten Figur in Kleingruppen und somit der Beschäftigung mit einem Thema oder einem Ausschnitt aus der Geschichte oder einer persönlichen Sicht auf die Vergangenheit hat die Klasse im anschließenden Gespräch aus individuellen Geschichten ein größeres Bild entstehen lassen, aber auch relativ selbstständig eine Diskussion über die Inhalte begonnen – warum wird heute noch an die NS-Zeit erinnert, was hat Geschichte mit unserer heutigen Gesellschaft zu tun? Unsere Idee scheint also zu funktionieren.

Das Game haben wir von Klasse 7 bis 13, von Förderschulen bis Gymnasien testen lassen. Am unmittelbarsten und wirkungsvollsten war der Einsatz in Kombination mit dem Ort, also erst das digitale Spiel spielen zu lassen, dann gemeinsam den Ort zu erkunden. Im Rundgang durch die Gedenkstätte hat die Schulklasse, angeleitet durch den Guide, weitere Bezüge zwischen Game und tatsächlichem Ort gefunden und dabei dechiffriert, wo Erfahrungen und Erzählstränge aus dem Game auch in der Gedenkstätte zu finden sind. Für den Einsatz im Unterricht haben wir außerdem eine Handreichung für Lehrpersonen herausgegeben. Gruppen können auch einen dreistündigen Workshop mit Game in der Gedenkstätte Bullenhuser Damm buchen. 

Schulklassen und Lehrpersonen waren während der Entwicklung eingebunden. Auch wenn sie keinen direkten Einfluss auf die Spielmechaniken oder den grundlegenden Aufbau nehmen konnten, haben ihre Rückmeldungen dazu beigetragen, das Storytelling immer weiter zu verfeinern und an die Zielgruppe anzupassen. Sie haben nicht nur beispielsweise das konkrete Aussehen einer der Figuren bestimmt, sondern wir haben auch aufgrund des Zielgruppenfeedbacks den Text des Games weiter gekürzt und außerdem eingesprochen. Die Entwicklung des Games hat uns gelehrt, Mut zur Reduzierung zu haben und Leerstellen zuzulassen. Dabei haben wir auch versucht, bewusst offene Dialogpunkte einzubinden, sind hier aber an praktische Grenzen gestoßen vor dem Hintergrund, dass das Game in einer durch den Unterricht vorgegebenen Zeit spielbar sein musste. Vor allem regte das Feedback uns dazu an, mit dem »Erinnerungsraum« ein ganz neues Element hinzuzufügen. Dabei handelt es sich um einen wiederkehrenden Spielabschnitt, der Raum für Reflexion schafft und zur historischen Einordnung dient. Schüler*innen fehlte beim Spielen außerhalb der Gedenkstätte die deutlichere Verknüpfung des Games mit der wahren Geschichte. Was ist fiktiv und was ist echt? Daher werden im Game nun die »Collectables«, also die während des Spielens zu sammelnden Objekte, die zunächst einen rein spielmechanischen Hintergrund haben, in einem zwischendurch mehrfach auftauchenden Erinnerungsraum noch einmal genutzt, um reflektierende Gedanken der spielbaren Charaktere zu zeigen und am Ende Mini-Erklärfilme freizuspielen, die die Verbindung zum Bullenhuser Damm zusammenfassend erklären.

Das Game erzählt konkrete Geschichte(n), überträgt sie aber in eine erzählerische Welt. Die jüdischen Kinder, die am 20. April 1945 ermordet wurden, waren reale Personen, genauso wie ihre Familien. Angehörige kommen am 20. April jeden Jahres nach Hamburg – aus Italien, aus Israel, aus den USA, aus Deutschland, den Niederlanden oder aus Frankreich. Alles, was die spielbaren Charaktere erfahren, basiert auf realen Geschichten – so wie die Mutter, die noch jahrzehntelang auf ihren Sohn gewartet hat, aus der Hoffnung heraus, er habe die NS-Verfolgung doch überlebt. Im Game kommen diese realen Geschichten vor, aber immer mit einem Twist – reale Geschichten und Erfahrungen wurden zu neuen Figuren zusammengelegt. So konnten wir in der bildhaften Erzählung und in der Komposition des Storytellings freier sein. Die fünf spielbaren Charaktere sind fiktiv. Die meisten der Menschen, die sie im Game treffen, haben jedoch reale Menschen als Vorbilder. Die realen Angehörigen, die das Game kennenlernten, haben das Game positiv aufgenommen und sehen es als relevante Form der modernen Erinnerung an. Auf ihren Wunsch hin gibt es das digitale Spiel jetzt auch in englischsprachiger Variante. 

 

Und dann?

Der Workshop, der von Gruppen in der Gedenkstätte Bullenhuser Damm gebucht werden kann, ist didaktisch und im Sinne der Methodenvielfalt gesehen wirkungsmächtig, da beim Rundgang durch die Gedenkstätte nach dem Spielen des Games schon viel neues Wissen vorhanden ist. Tatsächlich entsteht ein Dialog auf Augenhöhe, ohne zu einer Wissensabfrage zu werden, da die Schüler*innen Bezüge zwischen Game und Gedenkstätte leicht entdecken können. Wenn die Person, die den Charakter Van gespielt hat, weiß, dass dieser Briefmarken sammelt – und dann das Briefmarkenalbum von Walter Jungleib, eines am Bullenhuser Damm ermordeten Jungen, in der Gedenkstätte entdeckt, dann hat dies eine emotionale Wirkung. Das Game bietet eine erste, freie Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen an, die beim Besuch der Gedenkstätte eine zusätzliche emotionale Perspektive zeigt. Die Folge ist, dass das Interesse, sich mit den Biografien der »Kinder vom Bullenhuser Damm« auseinanderzusetzen, bei den Spielenden intrinsisch wächst.

Kritisch kann gesagt werden, dass die Buchungslage des Workshops nach dem Launch weniger ausgeprägt ist als gewünscht, obwohl das Lehrmaterial an alle norddeutschen weiterführenden Schulen geschickt wurde, verschiedene Lehrerfortbildungen angeboten wurden und das Game auf Fachkonferenzen vorgestellt wurde. Das Game selber wird im Vergleich dazu relativ häufig heruntergeladen. Auch Klassen für die Fokusgruppentests während der Entwicklung zu gewinnen, klappte sehr gut. Generell hat das Game in der Öffentlichkeit eine gute Aufmerksamkeit gefunden, auch in der interessierten Gamer-Community, da wir unter anderem in digitalen Diskussionsrunden, über mehrere »Let’s play« in Kollaborationen auf Twitch und vor Ort mit dem Podcaster Dom Schott das Game vorgestellt haben. Zudem haben wir das Game verschiedentlich national und international auf Konferenzen präsentiert. »Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm« wurde schließlich 2025 beim Deutschen Computerspielpreis in der Kategorien Bestes Serious Game nominiert. In der Nominierungsbegründung der Jury werden die Zugänglichkeit, die unaufgeregte Machart und die Erleichterung des Kontakts mit einem schwierigen Thema gelobt und gesagt, dass das Game »facettenreich und auf persönliche und nahbare Art vermittelt sowie erinnert. (…) Der eigene Horizont wird dabei mit jedem spielbaren Charakter erweitert. (…) Spieler*innen können aus den Bausteinen jeder Geschichte ein größeres Ganzes zusammensetzen, das mit jedem Charakter immer detailreicher wird. (…) Statt zu überfordern oder abzuschrecken, lassen [die Themen] sich so Stück für Stück greifen, verstehen und einordnen.«

Auf die Frage, wie das Thema »Erinnern« interaktiv dargestellt, erfahren und fortgeführt werden kann, haben wir versucht, mithilfe des Mediums Spiel eine Antwort zu geben. Es erfordert die Bereitschaft und den Mut, im Gedenkstättenbereich unbekannte Wege zu gehen und Experimente zu riskieren. So lässt sich die Welt der digitalen Spiele als ein neuer Erinnerungsraum erschließen, den Akteur*innen der Erinnerungskultur, Spieleentwickler*innen und die Spielenden selbst gemeinsam aktiv gestalten können.

Und genau das ist das Ziel pädagogischer Arbeit an Gedenkstätten: Erinnern aktuell zu halten und eine junge Generation einzuladen, die Relevanz von Geschichte für sich zu entdecken und damit in die Zukunft zu führen. 

 

Iris Groschek ist Historikerin und Kuratorin der Dauerausstellung in der Gedenkstätte Bullenhuser Damm. Sie leitet die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit, Digitale Kommunikation und Social Media in der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen.