Ein Tagebuch kehrt zurück aus Israel

Die Sonderausstellung »MIRIAMS TAGEBUCH. Die Geschichte der Erfurter Familie Feiner« im Erinnerungsort Topf & Söhne in Erfurt
03/2024Gedenkstättenrundbrief 213, S. 3-12
Annegret Schüle

»Ich war 6 Jahre alt, als wir nach Erfurt zogen. […] Es ging uns sehr gut. Lotte und ich wuchsen heran und in dem Alter, wo man aufhört, Kind zu sein, kam Hitler und mit ihm Zerstörung, Not und Elend.« Marion Feiner, die sich nach ihrer Auswanderung aus Deutschland Miriam nannte, schrieb diese Zeilen in ihrem letzten Tagebuch-Eintrag im September 1939 im Kibbutz Ginegar in Palästina. Vier Jahre zuvor hatte sie das Tagebuch, das ihr ihre Freundin Lissy Gerberbaum geschenkt hatte, an ihrem 14. Geburtstag in Erfurt begonnen.

Geboren wurde sie als Tochter von Joseph und Adele Feiner am 10. Dezember 1921 in Berlin, sie hatte eine zwei Jahre ältere Schwester Charlotte, Lotte genannt. Seit 1928 lebte die Familie in Erfurt. Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, war Marion elf Jahre alt. Ihr Tagebuch begleitete Marion beim Erwachsenwerden in einer Zeit, die geprägt war von Alltagsantisemitismus, dem Berufsverbot des Vaters und dem Verlust der Eltern. Sie vertraute ihrem Tagebuch an, wie ihr jüdischer Freundeskreis, ihre zionistische Jugendgruppe und ihre Freude an Sport und Kultur ihr halfen, sich zu behaupten und sich vor der Verfolgung zu retten. Und sie warf darin, selbst in Palästina in Sicherheit, einen Rückblick auf ihr Leben in Erfurt, die Trennung von ihren Eltern und die Zerstörung ihrer Familie.

Marion war ein starkes, kluges und sehr sportliches Mädchen. Sie liebte das Schwimmen im Erfurter Nordbad, das Eislaufen auf der Spritzeisbahn an der Arnstädter Straße und die Ausflüge in den Thüringer Wald und die Sächsische Schweiz. Ihr Tagebuch zeigt, dass sie Freude am Leben hatte, gerne in Gesellschaft war und ihre Freundschaften pflegte. Doch es zeigt auch, wie der Nationalsozialismus ihre unbeschwerte Kindheit abrupt beendete, die Familie entrechtete und sie selbst Opfer von Diskriminierung und Ausgrenzung wurde. Anfang 1938 wanderte die 16-jährige Marion mit der Jugendalijah in das britische Mandatsgebiet Palästina aus, kurz nach ihrer zwei Jahre älteren Schwester Charlotte, die sich dort Jael nannte. Ihren Eltern Joseph und Adele Feiner wurde eine Einreise nach Palästina verwehrt.

 

Die »Polenaktion« 1938: Eine Deportation vor den Deportationen

1938 lebten mindestens 60 000 Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit in Deutschland. Dazu zählten auch Joseph und Adele Feiner, die Eltern von Marion (später Miriam). Beide stammten aus Galizien, sie wurde am 28. Mai 1892 in Lemberg, er am 26. Januar 1882 in Stanislau geboren. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gehörte Galizien zu Österreich-Ungarn, deshalb kämpfte Joseph Feiner als österreichischer Staatsbürger in der mit Deutschland verbündeten österreichisch-ungarischen Armee. Nach Kriegsende wurde Galizien polnisch. Adele und Joseph Feiner wurden allein durch ihren jeweiligen Geburtsort polnische Staatsangehörige. Aus Lemberg wurde Lwów, heute Lwiw in der Ukraine. 1938 wurde die Lage für die Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit in Deutschland doppelt prekär. Sie sollten wie alle anderen Juden von den Nazis aus Deutschland vertrieben werden, aber die polnische Regierung fürchtete die Rückkehr dieser ihrer Existenz beraubten Flüchtlinge. Ein Erlass des polnischen Innenministeriums vom 6. Oktober 1938 verfügte, dass jeder polnische Staatsbürger im Ausland seinen Pass beim zuständigen Konsulat zu registrieren habe und ein Dokument ohne diesen Prüfvermerk seine Gültigkeit am 29. Oktober 1938 verliere. Daraufhin taten die deutschen Behörden genau das, was die polnische Regierung verhindern wollte: Sie schoben sehr kurzfristig über 17 000 in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit, die wie die Feiners schon lange in Deutschland gelebt hatten, nach Polen ab. Bis zum 29. Oktober 1938 sollten alle die deutsch-polnische Grenze passiert haben. Die Verhaftung kam für die Betroffenen vollkommen überraschend. Sie durften nur wenige Habseligkeiten mitnehmen. In bewachten Sonderzügen transportierte die Reichsbahn sie anschließend an die Grenze. Diese gewaltsame Massenabschiebung war eine Deportation vor den Deportationen. In Erfurt zählten rund 100 Personen zu den Opfern.

Unter den Betroffenen waren neben Adele und Joseph Feiner auch Abraham, Klara und Max Gerberbaum, die Eltern und der Bruder von Marions Freundin Lissy Gerberbaum. Diese war schon vor den Feiner-Töchtern als erste aus der zionistischen Gruppe nach Palästina ausgewandert. Die Eltern von Marion wurden gewaltsam getrennt, Adele Feiner wurde an der Grenze zurückgeschickt. Sie sollte erst ihren Pass im polnischen Konsulat in Leipzig verlängern. Ihr Mann musste alleine nach Lwów zu Lisa Roth, der Schwester von Adele Feiner, weiterreisen. Vertrieben und getrennt von seiner Familie verlor er jeden Lebenswillen und hegte Selbstmordgedanken. Ende April 1939 durfte er für zwei Monate nach Erfurt zurück, aber nur, um gemeinsam mit seiner Frau die Wohnung aufzulösen und mit ihr wieder nach Lwów auszureisen. Miriam schrieb darüber später: »Für nichts mussten sie Möbel von vier Zimmern verschleudern und behielten nur etwas, um das nach Lemberg mitzunehmen.« Der Kontakt zu ihren beiden Töchtern und die Hoffnung, doch noch zu ihnen nach Palästina auswandern zu können, hielten die Eltern aufrecht. Mit dem Schicken von Postkarten hielten die Eltern erst aus Erfurt und dann aus Lwów mühsam Kontakt zu ihren Töchtern in Palästina.

Ende Juni 1941 besetzten die Deutschen Lwów. Sie begannen sofort mit der Verfolgung der dort lebenden Jüdinnen und Juden und ermordeten fast alle von ihnen. Unter den rund 120 000 Opfern waren Joseph und Adele Feiner. Ihr letztes Lebenszeichen war eine Postkarte an ihre Tochter Miriam vom 21. März 1941.

 

Das Tagebuch

Ein Tagebuch ist ein intimer Text, geschrieben nur für sich selbst und eigentlich nicht für andere Augen bestimmt. Es hält Erlebnisse und Gefühle im Moment des Schreibens fest und hilft dem oder der Schreibenden, sie zu verarbeiten. Das Tagebuch von Marion Feiner ist ein solches persönliches Dokument und gleichzeitig viel mehr als das. Es ist ein außergewöhnliches Zeugnis der Shoah und des Aufbruchs in ein neues Leben in Palästina. Dalia Ziv, die Tochter der Schreiberin, übergab das Buch zusammen mit weiteren persönlichen Unterlagen an die Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem. Von dort kehrte es 2023 für die Ausstellung »Sechzehn Objekte. Siebzig Jahre Yad Vashem« nach Deutschland zurück und wurde im Deutschen Bundestag und auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein in Essen präsentiert. Teil des Projektes des Freundeskreises Yad Vashem e.V. und der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem war, die Objekte danach für eine gewisse Zeit in den Orten zu zeigen, aus denen sie stammten. Das war der Anlass für die Sonderausstellung, die in Kooperation mit dem Freundeskreis Yad Vashem e.V. am 3. Mai 2023 im Erinnerungsort Topf & Söhne eröffnet wurde und bis 12. Januar 2025 dort zu sehen ist.

In der Ausstellung sind alle Seiten des Tagebuchs in der originalen Handschrift auf Tablets zugänglich. Gleichzeitig können die Einträge in Druckschrift und Erläuterungen von jiddischen und hebräischen Begriffen abgerufen werden, so dass der Inhalt gut verständlich ist. Zugleich wird das Tagebuch in einer originalgetreuen Nachbildung ausgestellt. Im Sommer 2023 war das sensible Original als Leihgabe der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem für einen Monat in Erfurt zu sehen.

Über 87 Jahre liegen zwischen dem Tag, als Marion zu Hause in der Kruppstraße 11 (heute Klausenerstraße) die ersten Worte in das Tagebuch schrieb, und seiner Rückkehr nach Erfurt. Wenige hundert Meter von der Familienwohnung entfernt ist es nun zu einem berührenden Objekt in der Ausstellung am Erinnerungsort Topf & Söhne geworden. Über die Objekte in der Sammlung der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem hinaus stellten die Nachkommen von Miriam Ziv, geborene Feiner, dem Erinnerungsort Topf & Söhne private Fotos und persönliche Unterlagen für die Ausstellung zur Verfügung. Auf der Basis der Forschungsarbeit der Erfurter Historikerin Jutta Hoschek und der Forschungsgruppe Geschichte der Juden im nationalsozialistischen Thüringen sowie eigenen intensiven Recherchen gelang es, ein lebendiges und anschauliches Bild der Geschichte einer Familie zu zeichnen, deren Schicksal exemplarisch für die jüdische Bevölkerung Erfurts als Teil einer vielfältigen Stadtgesellschaft und deren Ausgrenzung und Vernichtung im Nationalsozialismus steht.

 

Miriams Botschaft

Miriam Ziv reiste fast 60 Jahre nach ihrer Auswanderung zum ersten Mal wieder nach Deutschland. Vom 31. August bis 7. September 1997 war sie Gast bei einer städtischen Begegnungswoche jüdischer Überlebender. »Meine so schöne Stadt Erfurt zu sehen«, berührte sie tief, wie sie danach in einem Brief an den damaligen Oberbürgermeister Manfred Ruge schrieb. Aus diesem Besuch erwuchsen langjährige Freundschaften. Die Briefe, die Miriam Ziv danach über Jahre nach Thüringen schrieb, konnten für die Ausstellung ausgewertet werden. Der Kontakt mit Menschen in Erfurt, die sich mit Forschungs- und Bildungsprojekten dem Verdrängen und Vergessen der antisemitischen Gewalt im Nationalsozialismus entgegenstellten, ließ Miriam Ziv hoffen, »dass diese Jugend so bleiben wird und nie diese grauenhaften Zeiten zurückkommen können.«[1] Die nationalsozialistische Vertreibung aus Deutschland führte oft zum Abbruch der historischen Spuren, weil Informationen über das Schicksal der Menschen nach ihrer Auswanderung oder Flucht aus Deutschland schwer zu finden sind. Umso wertvoller ist es, dass die Geschichte von Miriam Ziv dank der Fotos und Dokumente aus dem Familienbesitz in Israel und ihrer Briefe nach Erfurt in der Ausstellung bis zu Ende erzählt werden kann.

Der Erinnerungsort Topf & Söhne versteht es als Auftrag, was Miriam Ziv in einem Brief an eine Erfurter Geschichtslehrerin und ihre Schülerinnen formulierte: »Durch eure Taten, hoffe ich doch, dass es noch viele andere gibt, die es vermeiden werden, dass so etwas noch mal passieren kann.«[2]

Miriam Ziv starb am 5. Mai 2012 im Kreise ihrer Familie im Kibbutz Degania B in Israel.

 

Ein Bildungsangebot zur Sensibilisierung gegen Antisemitismus

Mit dem Tagebuch und den für die Ausstellung recherchierten Geschichten können die Besucher*innen der Ausstellung tief in die Alltagswelt eines jüdischen Mädchens in Erfurt eintauchen. Jugendliche heute mit der historischen Erfahrung von Ausgrenzung, Verfolgung und Selbstbehauptung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus zu erreichen – wie könnte das besser gehen als durch die aufgeschriebenen Gedanken eines jungen Menschen ihres Alters? Wie könnten Antisemitismus und generell Ausgrenzung von Minderheiten aus der Gesellschaft als Gefahr für Demokratie und Vielfalt besser verstanden werden, als wenn sie als Einbruch in den Alltag eines jungen Menschen sichtbar werden? Tablets mit dem Tagebuch stehen den Jugendlichen auch beim forschenden und entdeckenden Lernen in den Seminaren zur Ausstellung zur Verfügung. In themenbezogenen Kleingruppen erarbeiten sich die Teilnehmenden Einträge im Tagebuch und ordnen diese mit Hilfe der Ausstellung ein. Für diese Gruppenarbeit wurden sechs Arbeitsblätter mit folgenden Fragen erstellt: Wie Jüdinnen und Juden aus dem Berufsleben ausgeschlossen werden – Berufsverbot des Vaters (1); Wie die Synagoge zum Schutzraum und Ort der Gemeinschaft wird – Synagoge und Gemeinschaft (2); Wie Marion Ausgrenzung und Diskriminierung erfährt – Sport als Leidenschaft und Selbstbehauptung (3); Wie Marion dem nationalsozialistischen Terror entkommt – Jugendalijah – Abschied aus Erfurt (4); Wie Marion ihre Eltern im Holocaust verliert – Abschiebung der Eltern (5); Wie sich Marion ein neues Leben aufbaut – Leben in Palästina/Israel (6).

Das Seminar »Die Zerstörung einer jüdischen Familie« konzentriert sich auf das Leben von Marion Feiner/Miriam Ziv und das Schicksal ihrer Eltern. Es dauert drei Stunden und wird für Schüler*innen ab der 8. Klasse angeboten. Das Seminar »Wie aus Nachbarn Verfolgte und Mittäter wurden« kombiniert das Schicksal der Familie Feiner mit der Geschichte der Mittäterschaft von J. A. Topf & Söhne. Die Teilnehmenden erforschen in der Sonderausstellung und in der Dauerausstellung »Techniker der ›Endlösung‹ – Die Ofenbauer von Auschwitz«, wie Menschen aus einer Stadt zu Opfern oder zu Mittätern wurden. Adele und Joseph Feiner hatten keine Chance, dem mörderischen Antisemitismus zu entkommen. Ernst Wolfgang Topf, sein Bruder Ludwig Topf und die Ingenieure des Familienunternehmens J. A. Topf & Söhne hatten dagegen die Möglichkeit, die Geschäftspartnerschaft mit der SS gar nicht erst zu beginnen oder wieder zu beenden. Doch sie entschieden sich bewusst anders und gingen sogar soweit, die Krematorien im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau mit ihrer Technik auszustatten. Dieses Seminar dauert fünf Stunden und wird ebenfalls ab Klasse 8 angeboten.

Diese Seminare und die Führungen, die der Erinnerungsort für Schulklassen und andere Besuchergruppen anbietet, sind ein wichtiger Beitrag in der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus und für Vielfalt, Demokratie und Menschenrechte. Eine Fachlehrerin für Geschichte einer Kooperativen Gesamtschule in Erfurt schrieb dem Erinnerungsort folgendes Feedback nach einem dreistündigen Seminar mit Schüler*innen der 11. Klasse: »… herzlichen Dank für den Zugang zu einem sehr gelungenen Konzept bestehend aus Ausstellung und Workshop zu ›Miriams Tagebuch‹. […] Diese Exkursion war ein eindrucksvolles Erlebnis. Die Ausstellung ergriff mich emotional heftig, ich musste oft mit den Tränen kämpfen. Sie ist strukturiert gestaltet. Die Banner sind gut gegliedert, sehr ansprechend durch ihre Mischung aus Bildern und Texten. Die Texte wiederum machen durch Tagebuchausschnitte, originale Postkarten sowie kurze Erklärungen eine eigene Erschließung der Thematik gut möglich. Man möchte nicht aufhören, weiter zu lesen, mehr zu erfahren. Fragen über Fragen, die sich stellen und die Basis für historisches Lernen bilden. Der Workshop passt perfekt ins Konzept. […] Ausgehend von ihrer Lebenswelt führte sie [die Pädagogin] die Teilnehmer*innen schrittweise an das Thema heran, hielt die Spannung und gestaltete das Ende durch den Bezug zur Gegenwart konstruktiv und offen zum Nachdenken. Ich freue mich auf weitere Ausstellungen …«.

 

Die Ausstellung wächst im lebendigen Dialog mit den Nachfahren in Israel

Was ist aus den Menschen geworden, die sich noch aus dem Herrschaftsbereich der Nazis retten konnten, unter dem Verlust ihrer Heimat, ihres Besitzes und auch oftmals unter dem Verlust ihrer Liebsten? Die Ausstellung bietet die seltene Chance, diese Fragen an einem biografischen Beispiel beantworten zu können. Sie ermöglicht, das Schicksal von Miriam Ziv, geb. Marion Feiner, bis zu ihrem Lebensende zu verfolgen. Für das Team des Erinnerungsortes war es eine wunderbare Erfahrung, wie sich die Ausstellung durch den intensiven Kontakt zur Familie von Miriam Ziv veränderte und weiter an Tiefe gewann. Zuerst waren es die Fotos aus dem Familienbesitz, die zusätzlich zu dem in der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem aufbewahrten Tagebuch und den dort zugänglichen persönlichen Dokumenten der Ausstellung große Anschaulichkeit und Lebendigkeit verliehen.

Dann, bei der Ausstellungseröffnung, hielt Miriam Zivs Enkel Yonathan (Yoni) Saly, der mit seinem Bruder Ehud und seiner Tante Dalia Ziv auf Einladung des Oberbürgermeisters aus Israel gekommen war, als Vertreter der Familie zur Überraschung des Teams eine Rede, die zum emotionalen Höhepunkt der Veranstaltung wurde. Er sagte dort: »In unserer Familie ist ›Feiner‹ eine Marke (obwohl wir den Namen nicht tragen). Feiner, das ist eine Leidenschaft für das Leben, für die Kräfte der Natur, für die Erde und für das Wasser. Feiner ist eine unendliche, fast schon kindliche Neugier. Feiner ist ein kurzer Geduldsfaden für ärgerliche Dinge und komplexe Situationen. Feiner, das heißt, Schwierigkeiten zu unterdrücken und ihre Existenz zu ignorieren. Ein Feiner zu sein, bedeutet ein heißes, ehrliches und gefühlvolles Temperament zu haben. Wenn ein kleines Kind einige dieser Charaktereigenschaften zeigt, sagt man in unserer Familie über ihn (oder über sie) – Er ist ein Feiner.

Als ich das Tagebuch las, spürte ich sofort die ›Feiner-heit‹, obwohl es vor 90 Jahren geschrieben wurde und es vom Deutschen ins Hebräische übersetzt wurde. Ich konnte sogar meine Mutter im Schreibstil wiedererkennen und sicher auch meine Großmutter, welche ausführliche Artikel nach jeder Reise, die sie unternahm, für die Kibbutz-Zeitung schrieb. Ein leichter Schreibstil, teilweise esoterische Details und immer mit einem leichten Ton Selbsthumor.

Ein erstaunlicher Fakt ist, dass – obwohl die Familie ab 1933 enorme Umbrüche erlebte, die Entlassung des Vaters, der wirtschaftliche Absturz, der Verlust gesellschaftlicher Stellung, die Schmähung und Demütigung von Seiten der Gesellschaft und des Establishments – all dies in Echtzeit im Tagebuch kaum zur Sprache kommt. Das junge Mädchen Marion bleibt positiv und stark, voller Lebenslust und dem Verlangen, das Beste aus dem Leben auf jedem Wege zu machen. Erst als sie nach Palästina emigrierte, als sie fast 18 war, nimmt sich Miriam (unter ihrem neuen Namen) eines sonnigen Mittags auf dem Wasserturm des Kibbutz Ginegar der Arbeit an, das erste Kapitel ihres Lebens zusammenzufassen. Darin gesteht sie die Schwierigkeiten, den Schmerz, ihre Welt (also ihr Leben), die ihr genommen wurde und der unvermeidbar verlorene Kampf um ihre Eltern. Von dieser Stunde der Reflexion an begann sie das zweite Kapitel ihres Lebens, das einer zionistischen Pionierin im Land Israel. Und das zweite Kapitel war in der Tat beeindruckend. […] Und wer das Tagebuch noch mal liest, kann mit Leichtigkeit Hinweise zwischen den Worten finden. Hinweise auf fast jede Entscheidung und alles, was sie in ihrem Leben tat.«[3]

Zur Ausstellungseröffnung überreichte die Familie dem Erinnerungsort eine Broschüre in hebräischer Sprache, die Miriam Ziv 2005 für ihre Enkel und Urenkelkinder über ihr Leben verfasst hatte. Bei der Lektüre war mit Erstaunen festzustellen, dass Miriam Ziv in dieser Broschüre Erlebnisse der unmittelbar gegen ihre Person gerichteten antisemitischen Diskriminierung wie die Behandlung durch ihren Klassenlehrer berichtete, die sie in der Zeit des Erleidens im Tagebuch überhaupt nicht erwähnt hatte. Über ihre Zeit in der Mittelschule für Mädchen, die sie von 1932 bis 1937 besuchte, schrieb sie 2005: »In der Schule war ich die einzige Jüdin in der Klasse. […] In der Klasse war ich beliebt und dieses Gefühl gaben mir die Mädchen auch. Im Gegensatz dazu war der Klassenlehrer ein richtiger Nazi. An seinem Anzug trug er eine Hakenkreuznadel. […] Den Mädchen in der Klasse erlaubte er nicht, in der Pause mit mir in den Hof zu gehen. Gleichzeitig war es mir verboten, im Klassenzimmer zu bleiben. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf der Toilette einzuschließen, und das war schrecklich.«

Wollte Marion Feiner diese Kränkungen von ihrem intimen Erfahrungsschatz, den sie im Tagebuch bewahrte, fernhalten? Konnte sie erst als Erwachsene in Palästina und dann in Israel, in der Gesellschaft von Menschen, die als Individuum und als Gemeinschaft über den Vernichtungswillen der Nationalsozialisten gesiegt hatten, das ihr Geschehene so einordnen und mitteilen, dass aus der tiefen Kränkung eine selbstbewusste Stärke wurde? Auszüge aus Miriam Zivs Bericht von 2005 hat der Erinnerungsort nun im Begleitband zur Ausstellung an geeigneter Stelle den bisherigen Ausstellungsinhalten hinzugefügt und durch die Datierung erkennbar gemacht. Am 28. Juni 2023 besuchte zudem Orit Shaer, die einzige Enkeltochter von Miriam Ziv, gemeinsam mit ihrem Sohn Daniel Erfurt, um die Ausstellung zu sehen. Damit waren inzwischen drei Generationen aus der Nachkommenschaft von Miriam Ziv im Erinnerungsort Topf & Söhne zu Besuch. Orit Shaer lebt mit ihrer Familie in Boston. In der Ausstellung entdeckte sie, wie stark das Leben ihrer Großmutter und die Erfahrungen, die sie an ihre Enkelkinder weitergab, von Miriam Zivs Wurzeln in Erfurt geprägt waren. Besonders berührend war für Orit Shaer, das Tagebuch ihrer Großmutter erstmals im Original zu sehen.

 

Aktualität, Begleitprogramm und Team

Der brutale Massenmord der Hamas an Jüdinnen und Juden in Israel und die Verschleppung von Geiseln am 7. Oktober hat das Vertrauen der Jüdinnen und Juden im Land und weltweit tief erschüttert, in Israel einen sicheren Zufluchtsort vor dem überall erstarkenden Antisemitismus zu haben. Als Reaktion darauf entschied der Erinnerungsort, die Sonderausstellung nicht schon wie geplant im Mai 2024 nach einem Jahr zu beenden, sondern bis Januar 2025 zu verlängern. Das Team sieht in dieser Ausstellung eine wichtige Möglichkeit, die Besucher*innen für die Verantwortung der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu sensibilisieren, heute Jüdinnen und Juden zu schützen und die Gründung und Verteidigung des Staates Israel als berechtigte Konsequenz nach jahrhundertelanger Verfolgung und deren Steigerung zum Völkermord im Nationalsozialismus zu unterstützen.

Im vielfältigen Begleitprogramm sticht die Lesung von Jugendlichen des Erfurter Theaters Die Schotte aus dem Tagebuch hervor, die erstmalig zur Eröffnung und inzwischen weitere vier Male stattfand. Mädchen im Alter wie damals Marion Feiner präsentierten dabei auf beeindruckende Weise die Erfahrungen und Gedanken der Erfurter Schülerin, auch für sie selbst ein einschneidendes Erlebnis.

Die Ausstellung wurde von PD Dr. Annegret Schüle gemeinsam mit einem engagierten Team ihrer Kolleginnen am Erinnerungsort und freiberuflichen Mitarbeiter*innen kuratiert und von der Thüringer Staatskanzlei gefördert. Bei der Gestaltung der Ausstellung, für die Prof. Fleischmann verantwortlich zeichnet, wurde ein lichtes Blau gewählt: Blau wie das Wasser und der Himmel darüber. Mit dieser Farbwahl ehrt der Erinnerungsort das Schwimmtalent Miriam Ziv und ihre Liebe zur Fortbewegung im Wasser, die für sie seit ihrem vierten Lebensjahr zur zweiten Natur geworden war. Diese Leidenschaft ließ sie sich auch von den Nationalsozialisten nicht nehmen und sie spielte auch in ihrem Leben in Israel eine große Rolle. Miriam Ziv hat ihre Geschichte bewahrt und später mit anderen geteilt: als Schülerin in Erfurt hielt sie ihre Erlebnisse zeitnah in ihrem Tagebuch fest, als junge Erwachsene in Palästina beschloss sie ihr Tagebuch mit einem Rückblick auf ihre Jugend und im Alter teilte sie ihre Erfahrungen mit ihrer Familie und in Briefen nach Erfurt. Der Erinnerungsort ist ihrer Familie, der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem und dem Freundeskreis Yad Vashem e.V., zu tiefem Dank verpflichtet, dass sie die Öffentlichkeit an diesen Zeugnissen teilhaben lassen. Für die Stadt Erfurt, aus der Marion und ihre Familie 1938 vertrieben wurden, wurde die Rückkehr des Tagebuchs zur Inspiration, die Geschichte von Marion Feiner und ihrer Familie zu erforschen und in dieser Ausstellung zu erzählen. Der im Erinnerungsort erhältliche und auch digital zugängliche Begleitband (www.topfundsoehne.de/ts145283) und eine geplanten Web-App mit dem Tagebuch werden ihre Geschichte bewahren und für die Bildungsarbeit dauerhaft zur Verfügung stellen.

 

Die Historikerin Annegret Schüle leitet den Erinnerungsort Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz. Sie ist Privatdozentin an der Universität Erfurt.

 

[1]    Brief von Miriam Ziv, Kibbutz Degania B, an Helma Bräutigam, Erfurt, 14. Dezember 2000.

 

[2]    Brief von Miriam Ziv, Kibbutz Degania B, an Bettina Ilse, Erfurt, 29. Dezember 2000.

 

[3]    Die Rede wurden aus dem hebräischen Original ins Deutsche übersetzt. Bei der Ausstellungseröffnung hielt Yoni Saly seine Rede auf Englisch.