»Bei ReMember bin ich wach«

Über ein Pilotprojekt zwischen historisch-politischer Bildung, Jugendarbeit und Theater
03/2023Gedenkstättenrundbrief 209, S. 31-40
Dennis Forster

Im Rahmen von »Jugend erinnert« verknüpfte ein Kooperationsprojekt zwischen der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg und MIND prevention historisch-politische Bildung mit Theater und Jugendarbeit. Daraus gingen nicht nur Multiplikatorinnen und Multiplikatoren gegen Antisemitismus und für ein kritisches Geschichtsbewusstsein hervor. Sondern vielfach auch junge Erwachsene, die im Projekt eine lebensprägende Erfahrung gemacht haben. Was machte das Projekt ReMember aus – und was können wir aus ihm für gelingende erinnerungskulturelle Praxis in einer vielfältigen Gesellschaft mitnehmen?

»Kennst du das Projekt ReMember?«, fragt mich Ende 2022 eine befreundete Lehrkraft an einer Pflegefachschule in Schwandorf, in der bayerischen Oberpfalz. Das Schmunzeln bei dieser Frage konnte ich mir nicht verkneifen: Natürlich kenne ich das Projekt. Drei Jahre zuvor war ich für die Koordination und Durchführung dieses Projekts an die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg gekommen, drei Jahre lang hatte ich als Projektkoordinator und Teamer mein Herzblut und Leidenschaft in die Ausbildung von 25 Geschichtsbotschafterinnen und -botschaftern aus 17 Herkunftsländern gesteckt. Warum sie frage? »Ich unterrichte Geschichte der Pflege, und auch Pflege im Nationalsozialismus«, sagt sie. »Und ein Schüler in der Klasse, ein Geflüchteter aus Sierra Leone, hat einfach voll den Plan in dem Thema, das ist so cool. Ich wollte dann wissen, wo er das alles herhat. Da habe ich herausgefunden, dass er bei diesem Theaterprojekt dabei war«.

Dieses Beispiel zeigt, was ReMember als »Jugend-erinnert«-Projekt bewirken konnte: es zapfte den Gestaltungswillen von Jugendlichen an einem demokratischen und geschichtsbewussten Zusammenleben an, förderte und erweiterte Perspektiven und Potenziale junger Menschen und befähigte sie, Erinnerungskultur in Alltagspraxis zu überführen, als selbstverständlichen Teil ihres Lebens. Auf dem Weg dorthin musste letztlich deutlich mehr passieren als der modulare Aufbau aus innovativ konzipierten Workshop-Wochenenden, Gedenkstättenbesuchen und Theater. Das Team musste sich darauf einlassen, die Teilnehmenden über Monate bis zu Jahren hinweg, nicht nur streng auf die Lerninhalte bezogen, sondern letztlich auch allgemein sozialpädagogisch zu begleiten. Die These dieses Beitrags ist daher auch, dass wir uns trauen sollten, solche Prozesse im großen wie kleinen Rahmen in unserer Bildungspraxis an Gedenkstätten zuzulassen und zu integrieren.

 

Ein Pilotprojekt im Rahmen des Bundesprogramms »Jugend erinnert«

»ReMember« war ein Pilotprojekt der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg an der Schnittstelle historisch-politischer und kultureller Bildung, gefördert durch das Bundesprogramm »Jugend erinnert«. Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg und MIND prevention, eine Bildungsinitiative aus Berlin, gingen dafür eine einzigartige Kooperation ein. Das Berufliche Schulzentrum und die Fach- und Berufsoberschule Schwandorf waren enge Partner. Übergeordnetes Ziel des Projekts: Erinnerung für eine Gesellschaft zu gestalten, die durch eine Vielfalt von Zugängen zur NS-Geschichte geprägt ist. Jeweils 10 bis 15 Jugendliche im Alter von 17 bis 21 aus verschiedenen Klassen und mit unterschiedlichsten biografischen Backgrounds nahmen in zwei Durchläufen teil. Anfang 2020 ging es mit einer ersten Projektgruppe los. Diese konnte trotz der Pandemie bis Herbst ein intensives, wenn auch reduziertes, Programm durchlaufen. Im Juni 2021 startete die zweite, die bis Projektende im Oktober 2022 aktiv blieb. Beide Gruppen investierten über mehrere Monate hinweg einen Großteil ihrer Freizeit in gemeinsamen Wochenenden und Projekttagen. Das pädagogische Team aus der Gedenkstätte und von MIND ermunterte sie dabei, ihre eigenen Erfahrungen im Lern- und Reflexionsprozess über Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung, aber auch über patriarchales Denken und sexuelle Vielfalt einzubringen. Das alles wurde in einem eigenen Theaterstück szenisch verarbeitet. Mit Auftritten in Schulen und öffentlichen Spielorten wirkten die Jugendlichen als Botschafterinnen und Botschafter für gelebte Erinnerungskultur direkt in die Lebenswelten Gleichaltriger und letztlich in die Breite der Gesellschaft hinein.

 

Empowern und Herausfordern

ReMember sollte neue Räume öffnen für die Vielfalt der Erfahrungen, die junge Menschen heute an Orte wie Flossenbürg in die Auseinandersetzung mitbringen, und damit auch unsere Bildungsbrille um neue Perspektiven erweitern – was inklusives, diskriminierungssensibles Arbeiten angeht, in Bezug auf Methoden und Inhalte, und idealerweise auch personell. Der Hintergrund ist die Pluralisierung unserer Gesellschaft, womit eine Vielfalt an Zugängen zu den Themen NS-Geschichte, Rassismus, Antisemitismus und Ideologien der Ungleichwertigkeit einhergeht. Die Ausprägung und Genese unserer gesellschaftlichen Pluralität ist bekannt. Fakt ist: eine queere Kenianerin wird bei der Beschäftigung mit den genannten Themenkomplexen andere Bezüge herstellen als eine weiße Bayerin oder ein hierher geflüchteter Nigerianer, auch wenn alle in und um Schwandorf leben. Deren in sich wiederum vielschichtigen Geschichten und Erfahrungswelten, und auch ihre Geschichtsbilder verdienen es, zunächst einmal einen Raum zu bekommen und gehört zu werden. Alle können potenziell Ausgrenzung, Hass und Gewalt am eigenen Leib erfahren, aber auch menschenfeindliche Ideologien verinnerlicht haben und sich rassistisch, homophob oder antisemitisch verhalten und äußern. Es muss in der Bildungsarbeit darum gehen, diese Gleichzeitigkeit, diese Schnittmengen und komplexen Lebensweltbezüge anzuerkennen und darauf einzugehen, die jungen Menschen aber auch zu fordern und Handwerkszeug für solidarisches Denken und Handeln zu vermitteln. Ermutigung und Zumutung müssen im Tandem agieren, Unterstützung und Empowerment mit Herausforderung und Erschütterung von vermeintlichen Gewissheiten einhergehen – alles ausgehend von einer grundsätzlichen Zugewandtheit und empathischen Haltung.

 

Schlüssel zum Projekterfolg: Begegnung auf Augenhöhe, Bindungen, Freundschaft

Mit dieser Erkenntnis und dieser Bedarfsanalyse haben wir sicherlich nicht das Rad neu erfunden. Partizipative, multiperspektivische und diversitätssensible Ansätze werden an Gedenkstätten schon länger bearbeitet und praktiziert. Die Förderung über »Jugend erinnert« und die innovative Kooperation ermöglichten uns nun, hier in einem umfangreichen Maßstab neue Wege zu beschreiten und Impulse zu setzen.

Ganz zentral für die Erfolge im Projekt ist der lange Zeitraum, in dem die zwei Projektgruppen zusammengearbeitet haben: Der erste Durchlauf sieben Monate, der zweite Durchlauf sogar ganze zehn – und beide, insbesondere die zweite Gruppe, zeigen bis heute reges Engagement und Aktivität, auch nach Projektende. Diese lange Laufzeit ließ die Teilnehmenden eine gleichermaßen emotionale wie kognitive Bindung an das Projekt, die Inhalte und alle Beteiligten aufbauen. Die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte und mit Antisemitismus und Ausgrenzung in der Gegenwart stand dabei nicht isoliert, sondern war eingebettet in einen größeren Prozess des gemeinsamen Reifens, Empowerns und Emanzipierens. Die Gedenkstättenbesuche standen folglich nicht am Anfang, sondern fanden nach drei intensiven und inhaltlich breit gefächerten Wochenenden an Jugendherbergen in der Region statt. Und während alldem war die Pflege freundschaftlicher und zwischenmenschlicher Nähe zwischen und unter den Beteiligten der Schlüssel, der die Türen für alle anvisierten und auch unvorhergesehenen Bildungserfolge geöffnet hat.

Die Zusammenarbeit mit MIND prevention hat hierzu maßgebliche Kompetenzen beigesteuert. In ihrer politischen Bildungsarbeit etwa mit islamistischen oder rechtsextremen Jugendlichen hat deren Team einzigartige Ansätze ausgestaltet, die einen offenen und kritischen Diskussionsraum mit Jugendlichen kreieren. Dieser beruht auf Begegnung auf Augenhöhe, biografischem Arbeiten, Rollenspielen und Peer-Education. Die pädagogischen Leiter bei ReMember, zunächst Burak Yilmaz und dann Asmen Ilhan, griffen dabei auch insbesondere auf ihre Erfahrungen im Projekt »Junge Muslime in Auschwitz« sowie »Heroes« zurück. Bei ReMember stand ein leitender Gedanke im Zentrum des pädagogischen Ansatzes: Alle im Team mussten die Bereitschaft zeigen, sich als »echte« und greifbare Personen mitsamt ihren biografischen Prägungen in den Bildungsprozess zu werfen, um die Teilnehmenden zu ermuntern, dasselbe zu tun. Es spielt eine Rolle, ob Teilnehmende den Pädagoginnen und Pädagogen neben Fachkenntnis auch eine authentische Lebenserfahrung zu Themen zuschreiben, oder sie »nur« als Lehrerinnen und Lehrer wahrnehmen. Das Team macht die eigenen Haltungen und Prägungen transparent und bringt sie in den Prozess ein. Die Fachkräfte haben vieles von dem, was die Jugendlichen vor und während des Projekts durchmachen, auch selbst erlebt – was beispielsweise die Auseinandersetzung mit der eigenen Sozialisation in patriarchalischen Strukturen angeht, aber auch was die Erfahrungen mit Ausgrenzung oder einem langen Reflexionsprozess zu Antisemitismus betrifft. Das ermöglicht eine ganz andere Ansprache auf Augenhöhe, die Jugendlichen öffnen sich mit ihren Geschichten und fühlen sich in ihrer Lebenswelt verstanden. Die Teilnehmenden finden jeweils selbstständig und intuitiv ihre Bezugspersonen innerhalb des Teams, das durch die Diversität an Kompetenzen und Erfahrungen unterschiedlichste persönliche und biografische Anknüpfungspunkte bietet.

 

Die Lebensumstände im Blick behalten

Das Projektkonzept lebt außerdem davon, dass das Team die Gruppendynamik stets genau beobachtet, jederzeit Impulse aus der Gruppe aufnimmt, und auch nach dem Abendessen und vor dem Frühstück nah an den Menschen und ihren Reflexionsprozessen bleibt.

Wie das konkret aussehen kann: Beispiel Februar 2020. Zwischen zwei Workshop-Wochenenden tötet ein verschwörungsideologischer Rassist gezielt neun als »fremd« markierte Menschen in Hanau. An den fast ausschließlich geflüchteten und migrantischen Teilnehmenden im Projekt ging nicht vorbei, dass mit dem Angriff auch sie gemeint waren, es ließ sie verunsichert und aufgewühlt in das nächste Treffen gehen – das Team stellte dem entsprechend die Thematisierung von Alltagsrassismus und das Bestärken der eigenen Handlungsmacht dagegen in den Mittelpunkt. Oder der Krieg zwischen Israel und der Hamas im Mai 2021, der besonders die arabisch-muslimischen Teilnehmenden kurz vor Projektstart mit der zweiten Gruppe hochgradig emotionalisiert hatte und die Auseinandersetzung mit dem Thema »Juden«, Antisemitismus und Shoah prägte. Auf ihre Auseinandersetzung konnte gerade deswegen aber eben nicht verzichtet werden; zugleich war hohe Einfühlsamkeit vonnöten, um etwa Ängste der geflüchteten Teilnehmenden abzubauen, dass »falsche« Aussagen zum Thema ihren Aufenthaltsstatus gefährden könnten. Die dafür nötige Vertrauensbasis kommt in vielen Gesprächen unter teils nur vier Augen zustande, wenn sich Jugendliche teils spät in der Nacht den Teamerinnen und Teamern anvertrauen und ein offenes Ohr finden.

Wir waren und sind überzeugt, dass wir dabei diese Vielfalt an Zugängen zu historischen und gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Kontexten nicht als Hindernis, sondern als Chance begreifen und in unsere Arbeit einbinden müssen. Die Ausweitung der behandelten Themen weit über das hinaus, was unmittelbar mit »Flossenbürg« oder der NS-Geschichte zu tun hat, hat den Blick auf die Geschichte nicht etwa verwässert, sondern stetig weiter geschärft, indem die Ausprägung und Relevanz der Bezüge zwischen »damals« und »heute« intuitiv und individuell begreifbar wurden.

 

Motivationen

Was motivierte aber die Teilnehmenden, sich auf eine derart herausfordernde gemeinsame »Reise« einzulassen? Ende 2019 und 2020 hatte ich an den Partnerschulen in Schwandorf in jeweils einem Dutzend Klassen alle Schülerinnen und Schüler eingeladen, sich freiwillig bei ReMember zu engagieren – beim zweiten Mal unter wertvoller Beteiligung von Absolvent*innen des ersten Durchlaufs. Wir hatten angekündigt, dass es um ihre Geschichten gehen wird, aber auch um die NS-Geschichte, um Orte wie das KZ Flossenbürg. Die Resonanz war jedes Mal groß und die Anmeldebögen waren schnell voll. Nach einigen weiteren Wochen – im Falle der zweiten Gruppe pandemiebedingt erst nach einem weiterem halben Jahr – konnte das erste gemeinsame Wochenende stattfinden. So waren wir im Sommer 2021 mit der Gruppe gerade im Garten der Jugendherberge Regensburg, als wir die Teilnehmenden fragten, was sie nun genau zum Mitmachen bewogen hatte. »Ich war schon einmal in einer Gedenkstätte«, sagte beispielsweise Dominika, »aber ich habe nicht das Gefühl, jetzt gut Bescheid zu wissen über die Geschichte, deswegen wollte ich hier dabei sein«. »Ich will andere Meinungen hören,« warf Wendy als Motivation in den Raum. Dann war der Teilnehmer Naqib an der Reihe. Warum machst du mit, Naqib? Nach einiger Überlegung antwortete er: »Ich will wissen, wie man in Deutschland leben kann«. Das verrät, was abseits der von uns formulierten Ziele für viele im Projekt wohl der Kern eines solchen Bildungsangebots ist: in diesem komplizierten Land mit einer so komplizierten Geschichte klarzukommen, Freundinnen und Freunde zu finden, eben: hier leben zu lernen. Naqib brachte mit seiner Antwort auf den Punkt, wie sehr er das Potenzial des Projekts durchdrungen hat: er verbindet das Lernen über die Geschichte mit einem Klarkommen mit dem Deutschland von heute; etwas, das übrigens keineswegs nur für die »Neuen« in unserer Gesellschaft relevant ist, oder zumindest sein sollte. Die Teilnehmenden identifizierten also die gemeinsame Behandlung von historischen mit lebensweltlichen Themen kaum als irritierend, sondern nur konsequent. Daneben lernen sie die Sprache oder neue Leute kennen – etwas, das die Teilnahme an solchen Projekten legitimerweise noch einmal besonders attraktiv für sie macht.

 

Rollenspiele schaffen kritische Diskussionsräume

In den Workshop-Wochenenden, die das erste Modul bildeten, stieß das Team den pädagogischen Prozess primär durch die Methode Rollenspiel an. Die Teamerinnen und Teamer führen dabei etwa fünfminütige Szenen auf. Diese Szenen ermöglichen eine Diskussion, bei der die Teilnehmenden über den Umweg der und den Verweis auf die Rollenspiel-Situation ihren Meinungen und Haltungen Ausdruck verleihen und familiäre, gesellschaftliche, politische und historische Themen verhandeln können. Die Diskussion wird von den Teamenden moderiert und auf zentrale pädagogische Ziele hin gelenkt, doch grundsätzlich sehr offen und auch spielerisch gehalten.

Beispiel: Ein Mann macht seiner Frau Vorwürfe, dass sie zu viel außer Haus ist mit Freundinnen, nicht rechtzeitig nach Hause kommt, und ihn und ihre Pflichten zu Hause vernachlässigt. Er ist dabei eifersüchtig und davon überzeugt, dass ihm diese Maßregelung seiner Frau zusteht. Das pädagogische Ziel: was verstehe ich unter Männlichkeit, was unter Weiblichkeit? Wer bestimmt Geschlechterrollen, und was haben diese mit Freiheit und Unfreiheit in einer Gesellschaft zu tun?

Oder das Rollenspiel, in dem ein Schüler den anderen fragt, warum er am Tag des Klassenausflugs in die Synagoge »blau gemacht« habe. Dieser äußert zunächst vorsichtig, dann aber immer zügelloser antisemitische Stereotype, auch mit Bezug auf Israel. Hier soll die Diskussion eröffnet werden: was denken und fühlen wir, wenn es um das Thema »Juden« geht? Was haben wir über Juden gehört? Warum gibt es da Ängste und hohe Emotionalität? Was ist Antisemitismus und wie begegnet er uns in unserem Umfeld, unserem Leben?

Teilnehmende bekommen daraufhin meist die Möglichkeit, die Szenen anhand ihrer diskutierten Vorstellungen umzuschreiben oder eigene Situationen zu inszenieren und diskutieren.

 

Begegnungen

Bei ReMember kommen junge Menschen verschiedenster Herkunftsbiografien zusammen, tauschen sich über ihre Erfahrungen aus, lernen und wachsen gemeinsam. Allein das war für viele eine Premiere in ihrem Leben: Deutsche, Migrantinnen und Migranten, Geflüchtete teilen sich denselben Diskursraum, sie interagieren auf Augenhöhe, ihre Meinungen und Geschichten werden gehört und ernstgenommen. Dieser Begegnungsaspekt wurde ergänzt durch ein Treffen mit Jüdinnen und Juden, welche für viele Teilnehmende ein Schlüsselerlebnis darstellte – egal woher sie kommen. »Juden kennt man nur aus dem Geschichtsunterricht. Damit verbinde ich Tod, Schuld, etwas Schlimmes«, sagte etwa die Teilnehmerin Nadine, die in Wackersdorf bei Schwandorf geboren und aufgewachsen ist. Der Austausch – im ersten Jahr mit dem Rapper Ben Salomo, im zweiten mit dem Aktivisten Leo Kaminski und Ehrenamtlichen von »Meet a Jew« – wurde von allen Seiten sehr geschätzt und eröffnete ihnen »einen neuen Blick«, wie es der Teilnehmer Mohamad nach dem Treffen ausdrückte. Darin bekamen auch die Fragen ein kritisches Forum, die vielen in der Auseinandersetzung mit allem tatsächlich und vermeintlich »Jüdischen« Hemmungen bereitet hatte. »Nach allem was die Juden erlitten haben, warum tun sie jetzt den Palästinensern das gleiche an?«, wollte einer der Jugendlichen wissen. Das respektvolle Setting und die eingespielte Gruppendynamik ermöglichten es, solche Fragen aufzufangen, für Antisemitismus zu sensibilisieren, und vor allem: jüdisches Leben schon zu Beginn der Reise als selbstverständlichen Teil der gesellschaftlichen Gegenwart zu verankern, statt als Thema der Vergangenheit.

 

Dialogisch und multiperspektivisch Geschichte begreifbar machen

Die gemeinsamen Wochenenden dienten auch zur Vorbereitung und zum Einstieg in das Thema Nationalsozialismus und Konzentrationslager. Ein Verständnis von den Grundzügen der historischen Ereignisse und Prozesse war somit so angelegt, dass darauf beim Besuch der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg immer wieder rekurriert werden konnte. In einer Übung zum Thema »Volksgemeinschaft« beispielsweise näherten die Teilnehmenden sich der ideologischen Grundstruktur des NS an. All diese Räume der Auseinandersetzung erzeugten schnell eine dynamische Diskussionssituation, die spontane Vertiefungen einzelner Aspekte dieser Geschichte und kritische Reflexion ermöglichten. So intervenierte bei der Diskussion über NS-Verbrechen beispielsweise einmal ein Teilnehmer: warum alle so redeten, als hätte nur Hitler den Holocaust und die ganzen Verbrechen begangen. Das waren doch auch die einfachen Leute, das entsprechende Gedankengut und der Hass müssen auch schon vorher da gewesen sein. Seine Erfahrung als Jeside, der vor einem auch von »normalen« sunnitischen Nachbarn verantworteten Völkermord geflohen war, hat diesen Zugang zur Thematik sicher beeinflusst.

Der dialogische Bildungsansatz an der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg konnte diese Vorarbeiten in der Auseinandersetzung mit dem historischen Ort und der NS-Geschichte dann produktiv aufgreifen und weiter bespielen. Der breit gefächerte Methodenkoffer der Mitarbeitenden in Flossenbürg, beispielsweise das objektbasierte Modul »Geschichte zum Anfassen« oder das Gestalten eigener Rundgangsschwerpunkte entlang individueller Fragestellungen konnte tiefe inhaltliche Diskussionen und Prozesse anstoßen, durch die die Teilnehmenden sich die Ideologien, Schicksale, Beteiligten und Nachwirkungen im Kontext des Konzentrationslagers Flossenbürg erschlossen.

Auch die Auseinandersetzung mit Erinnerungskultur(en) im Zusammenhang mit den Gedenkstättenbesuchen profitierte enorm von der Multiperspektivität innerhalb der Gruppe. Der Filter fällt weg, der in homogenen, nur im deutschen Erinnerungsdiskurs sozialisierten Gruppen oftmals den Blick auf wesentliche, kritische Erkenntnisse verstellt. Der Anblick der Wohnsiedlung beispielsweise, die in den 1950er-Jahren auf dem ehemaligen Lagergelände direkt auf den Fundamenten der Häftlingsbaracken errichtet worden war, ließ für einen syrischen Teilnehmer nur diesen Schluss zu, den er beim Anblick der Häuser unmittelbar äußerte: »Sie wollten vergessen«. Und »vergessen« ist ein Stichwort, das ein anderer Teilnehmer im Nachbereitungswochenende des Gedenkstättenbesuchs in den Mittelpunkt stellte. Seine eigene traumatische Erfahrung mit Krieg und Gewalt in seinem Heimatland Afghanistan veranlassten ihn zu fragen: Warum will man überhaupt an solche Erlebnisse erinnern? Ist es nicht besser, zu vergessen? »Erinnerung« und dessen gesellschaftliche Bedeutung wird so ganz fundamental erschlossen und diskutiert, statt begrifflich und konzeptuell gesetzt und vorgefertigt.

 

Theater als Ausdrucks- und Vermittlungsform

Nach diesen Modulen, die rund zwei Monate in Anspruch nahmen, folgte ein intensives einwöchiges Training darstellerischer Kompetenzen und performativen Ausdrucks. In einer weiteren Probewoche entstand dann mit der zweiten ReMember-Gruppe im Herbst 2021 ein eigenes Theaterstück, nachdem die erste Gruppe pandemiebedingt dazu keine Gelegenheit hatte (stattdessen entstand ein Film in Form eines Werkstattberichts). In dieser Theaterphase überführten die Teilnehmenden mit dem Team die Inhalte und Prozesse aus den Workshops und Gedenkstättenbesuchen in eine künstlerische Form. Diese ermöglicht den Teilnehmenden durch eine emotional-kreative Komponente eine vertiefte Verinnerlichung der Inhalte – und dem schulischen Zielpublikum der Theaterauftritte einen Zugang, der die Beschäftigung mit den Themen im Unterricht um eine wertvolle Dimension komplementiert.

Die kompakten, collagenhaften Szenen wurden gemeinsam mit dem Team, unter der Regie des Schauspielers und Pädagogen Yilmaz Atmaca produziert. Sie bringen die Geschichte und Gegenwart in einen Dialog. Vorhang auf: Ein junger Mann, gespielt von einem afghanischen Teilnehmer, wird von Mitschülern ausgeschlossen und ignoriert. Leise, dann immer lauter, am Ende schreiend und zeternd konfrontiert er zuhause seine Mutter: »Warum sind wir Juden? Ich will kein Jude sein!« Diese Thematisierung von Alltagsantisemitismus und jüdischen Identitäten in Deutschland in der Gegenwart wird durchbrochen durch eine Szene im »Damals«, die eine Fluchtszene vor einem näher rückenden Verfolger darstellt, vor dem Hintergrund konkreter Erlebnisberichte von Überlebenden des KZ-Komplex Flossenbürg. Eine spätere Szene greift das Thema Antisemitismus wieder auf: zwei Geflüchteten wird in einem Amtszimmer mit erhobenem Zeigefinger neben anderen Regeln eingebläut, dass sie keine Antisemiten sein sollen. Die mehrheitsdeutsche Selbstvergewisserung geht jedoch nach hinten los, die Behördenangestellten reproduzieren am Ende ihren eigenen Antisemitismus, statt ihn den »Anderen« auszutreiben. Weitere Szenen spielen auf rassistische, sexistische, homo- und queerfeindliche Diskriminierung im Alltag an. Diese Szenen irritieren, machen mal ergriffen, mal nachdenklich, sie treffen bei vielen im Publikum mit ähnlichen Erfahrungen einen Nerv: sei es, weil sie selbst betroffen von Anfeindungen sind, oder weil sie sich auf der Seite der Aggressoren wiedererkennen, oder beides. Die durch das Stück erzeugten Irritationen, Gefühle und Reflexionsprozesse werden in einem anschließenden Publikumsgespräch aufgefangen, das weitgehend von den Schauspielerinnen und Schauspielern selbst geführt und moderiert wird.

Der auf dem peer-to-peer-Prinzip basierende Ansatz eröffnet den Schülerinnen und Schülern neue Perspektiven auf historische und gegenwärtige politisch-gesellschaftliche Themen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler zielen dabei gleichermaßen auf Verstand und Herz ab: denn sie können das, was sie im Stück zeigen, abseits der Bühne nicht komplett von sich abstreifen. Es verschmilzt mit ihrem echten Leben heute. Sie sind nicht nur in ihren Rollen hier, sondern auch als Menschen, die selbst Gewalterfahrungen gemacht haben, sich nun mit der Geschichte und den Geschichten anderer befassten, und etwas gegen Rassismus, Antisemitismus und Hass tun wollen. »Warum hassen sie uns? Warum schauen sie weg? Wohin sollen wir gehen?« Diese und viele weitere Fragen, die sie in der letzten Szene ins Publikum stellen, sind auch ihre ganz persönlichen Fragen. Sie drücken den Schmerz aus, dem das Projekt Raum und einen Umgang damit gegeben hat.

Natürlich war die Kernaussage des Projekts und des Theaterstücks nicht, alles in einen Topf zu werfen, den beispiellosen Massenmord an den Juden Europas etwa mit Alltagsrassismus oder schlechten Erfahrungen auf dem Amt auf eine Ebene zu stellen. Im Gegenteil: die viele gemeinsame Zeit ermöglichte, neben aller Anerkennung der eigenen Lebenswelt und Empathie für die Erfahrungen anderer auch notwendige Differenzierungen und Einordnungen. »Das Thema ist sehr aktuell: auch heute werden Leute verfolgt und ermordet weil sie so sind, wie sie sind, in Afghanistan, im Iran, in vielen Teilen der Welt,« sagte etwa Mina im Sommer 2022 zum Publikum aus 100 Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Dingolfing in Niederbayern. Doch betonte sie: »Was die Deutschen den Juden angetan haben, war ein besonderes und einzigartiges Verbrechen in der Geschichte. Das müssen wir begreifen.«

 

Identitäre Zuschreibungen überwinden, Rassismus- und Antisemitismuskritik zusammendenken

Das Theaterstück zeigt stellvertretend für das gesamte Projekt, wie darin Rassismus und Antisemitismus, Homo- und Queerfeindlichkeit und patriarchales Denken zusammen und in ihren Intersektionen verhandelt wurden. Dasselbe gilt für die Auseinandersetzung mit der Geschichte: für die Teilnehmenden war selbstverständlich, dass der Nationalsozialismus, die deutschen Verbrechen und die Prozesse und Mechanismen, die sie möglich machten, im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, aber ebenso ihre Geschichten und Geschichtsbilder eingebracht werden können. Es ist ein intrinsisches Interesse der Teilnehmenden an der NS-Geschichte und allen damit verknüpften Themenkomplexen, das so gewürdigt und für den Bildungsprozess maximal nutzbar gemacht wurde. Dabei konnten wir nicht beobachten, dass sich etwa Teilnehmende aus postkolonialen Herkunftskontexten gegen die Beschäftigung mit der »europäischen« Geschichte sträuben würden, und ihnen auf die jeweilige Herkunft hin maßgeschneiderte Zugänge gebaut werden müssten. Wir hätten die Teilnehmenden hochgradig paternalistisch behandelt und ihnen Unrecht getan, hätten wir ihnen auf diese Art »ihren« Zugang zu den Themen übergestülpt. Gerade die Neugier an der »deutschen« Geschichte hat die Jugendlichen (neben anderen Motivationen) letztlich in das Projekt gebracht.

»Ich lebe in Deutschland. Ich will diese Geschichte kennen, damit mich niemand anlügen kann. Das gefällt mir.« – So sagt es Alpha. Als Westafrikaner brachte er im Projekt durchaus auch mal seine Haltung zum (in seinem Kontext relevanten) britischen Kolonialismus zur Sprache, aber machte dies nie zur alleinigen Hintergrundfolie seiner Auseinandersetzung mit Geschichte. Eine seit Jahren vielfach beschriebene und oft verkürzt schablonenhaft aufgemachte Konkurrenz zwischen der Erinnerung an Kolonialismus versus der an den Nationalsozialismus und Holocaust manifestierte sich im Projekt nicht. Die Teilnehmenden identifizierten sich schlicht nicht mit solchen eindimensionalen Zugängen zur Geschichte. Vielmehr motivierten sie gegenwartsbezogene Themen, die in allen Herkunftskontexten vorhanden sind, und oft einfach der Wunsch nach »Klarkommen« mit diesem Land und seiner Geschichte dazu, dabei zu sein, über diese zu lernen, und sich einzubringen – egal, ob die Teilnehmenden hier geboren wurden oder nicht.

Bei ReMember haben wir zu vermeiden versucht, den jungen Menschen die Ausprägung ihrer Zugänge identitär zuzuschreiben, ihre Zugehörigkeit zu einem Kollektiv zu essentialisieren. Das Projekt hat eindrücklich gezeigt, wie sie mit Zuschreibungen brechen können, und viel mehr tun, als sich einen Umgang mit ihrer eigenen Diskriminierungserfahrung anzueignen – wenn sich etwa ein Iraker gegen den Israel- und Judenhass in seinem muslimischen Umfeld einsetzt, oder der von Rassismus betroffene Teilnehmer auch gegen Homophobie im Klassenzimmer laut wird. Die Erfahrung von ReMember und dessen zugleich intersektionaler wie universalistischer Ansatz zeigt: verschiedene Erinnerungen oder Rassismus- und Antisemitismuskritik können gemeinsam behandelt, statt gegeneinander ausgespielt zu werden. Solange man den Diskurs- und Lernraum nicht von vornherein durch Projektionen und Zuschreibungen verengt und das Team sich und die jeweiligen Haltungen stets selbst reflektieren.

 

Herausforderungen, neue Horizonte und alte Hürden

Es braucht Zeit, Geld, und die Bereitschaft, enorme soziale und emotionale Energie in den Prozess zu stecken, um diese vielen komplexen Themen gemeinsam behandeln, daraus entstehende Dynamiken auffangen und den Teilnehmenden auch Vermittlungskompetenzen an die Hand geben zu können. Diese Investition letztlich auch persönlicher Leidenschaft ging weit über das hinaus, was Institutionen wie KZ-Gedenkstätten regulär leisten können, und ging freilich auch nicht ohne Reibungen, Probleme und Konflikte über die Bühne. Es gilt nun im Nachgang, die mit den vielen glänzenden Erfolgen verbundenen zahlreichen Herausforderungen zu analysieren und Wege zu finden, die Dynamiken aus dem Projekt in etablierte wie neuen Bildungsangeboten verstetigend und bereichernd weiter zu entwickeln. Dies bezieht sich nicht nur auf Ansatz und Methoden, sondern auch auf die konkreten Teilnehmenden und alle, die sie bereits mit ihrem Engagement anstecken konnten. Immer noch wollen Absolventinnen und Absolventen weitermachen, sich in Bildungsformaten und in Debatten einbringen, und in der Gesellschaft couragiert und geschichtsbewusst agieren – nicht weil sie damit eine empfundene Pflicht, etwa im Sinne von Integrationsleistung erfüllen, sondern, weil die im Projekt entwickelten Haltungen und Praktiken ihren alltäglichen Umgang miteinander leiten. Mit ReMember sind sie gemeinsam gewachsen, haben ihre Potenziale entdeckt und gefördert – und sind in vielen Fällen auch über sich hinausgewachsen und haben sich neue Horizonte erschlossen.

Der zu Beginn erwähnte Pflegeschüler und ReMember-Absolvent hat übrigens noch immer keinen festen Aufenthaltstitel, ihm droht nach wie vor die Abschiebung. Trotz dieser prekären Lage, trotz der psychischen Belastung und der fehlenden Anerkennung durch die Behörden engagiert er sich leidenschaftlich für unsere Gesellschaft, für demokratische Werte und die Botschaftertätigkeit gegen Geschichtsvergessenheit, gegen Antisemitismus und Rassismus. »Wenn ich ReMember höre, dann bin ich wach«.

 

Dennis Forster ist Amerikanist und Politologe. Seit 2019 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Bildungsabteilung der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg und betreute bis Oktober 2022 das Projekt »ReMember« – vom Anmeldebogen bis zur Instagram-Story, von der finanziellen Abwicklung bis zur Tanzparty.