»Berufsbild/Menschenbild – Ordnung und Sicherheit«

Ein pädagogisches Vermittlungsprogramm für Polizeischülerinnen und Polizeischüler am Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim
12/2022Gedenkstättenrundbrief 208, S. 26-33
Simone Loistl

Seit 2017 gibt es am Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim ein pädagogisches Vermittlungsangebot, das sich speziell an Polizeischülerinnen und Polizeischüler richtet. Im Winter 2021/2022 wurden die Ergebnisse der Evaluierungen der ersten Jahre eingearbeitet und Ergänzungen vorgenommen. Der folgende Beitrag bietet einen Einblick in die Methoden und Materialien des Programms »Berufsbild/Menschenbild – Ordnung und Sicherheit« sowie einen kurzen Überblick über die historischen Anknüpfungspunkte zwischen Polizeigeschichte und NS-Euthanasie.

Schloss Hartheim, das sich in der Nähe von Linz in Oberösterreich befindet, war von 1940–1944 eine von sechs Euthanasieanstalten im Deutschen Reich. Im Rahmen der »Aktion T4« wurden von Mai 1940 bis August 1941 Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen ermordet. Nach dem Stopp der »Aktion« wurde der Betrieb nicht eingestellt, sondern es wurden bis in den Spätherbst 1944 Häftlinge aus den Konzentrationslagern Mauthausen, Gusen, Dachau und Ravensbrück (»Sonderbehandlung 14f13«) sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ermordet. In Hartheim sind über den Zeitraum von 1940 bis 1944 insgesamt 30 000 Menschen in einer Gaskammer getötet worden.[1] Nach verschiedenen Nutzungen des Gebäudes in der Nachkriegszeit wurde 2003 der Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim mit der Gedenkstätte für die Opfer der NS-Euthanasie und der Ausstellung »Wert des Lebens« eingerichtet.

 

Einführend ein kurzer Abriss zu den historischen Bezugspunkten:

Es drängt sich für Sie als Leserin oder Leser vielleicht gerade die Frage auf, wieso an einem Ort wie Hartheim ein Programm für Polizeischülerinnen und Polizeischüler angeboten wird. Im ersten Moment etwas irritierend – bei genauerer Betrachtung ergeben sich aber mehr Anknüpfungspunkte zur Polizeigeschichte als man vermuten würde: Der Kriminalpolizei sollte im Nationalsozialismus eine besondere Rolle zugesprochen werden: Im Verständnis einer biologisch definierten Gesellschaft sollte sie als »Arzt am Volkskörper«[2] agieren, und die Möglichkeit bekommen, das Verbrechen »auszumerzen«. Die Umsetzung dieser Forderung, die bereits seit den 1920er-Jahren von bestimmten Kreisen in der Polizei vertreten wurde, schien mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten zum Greifen nahe. Verbrechen wurde als etwas Vererbbares definiert. Die scheinbare Weitergabe von »kriminellen Anlagen« über Generationen sollte durch präventive Maßnahmen nun unterbunden werden.

Höchste Stellen der Polizei in Berlin waren zudem von Beginn an in die NS-Euthanasie eingebunden. Das Kriminaltechnische Institut (KTI) der Reichskriminalpolizei war maßgeblich an der Entwicklung der Gaskammern beteiligt[3] und der Chemiker August Becker war in Folge auch verantwortlich für die technischen Angelegenheiten der Anlagen, bereiste die Anstalten, um Wartungen vorzunehmen und die verantwortlichen Ärzte zu schulen. Auch die Beschaffung der Gasflaschen von der I.G.-Farben in Ludwigsburg und deren Verteilung an die Anstalten oblag dem KTI ebenso wie die Sicherstellung der angeforderten Mengen an Barbituraten[4], die in der dezentralen Euthanasie zur Ermordung von Patientinnen und Patienten in Heil- und Pflegeanstalten sowie Psychiatrien eingesetzt wurden.[5]

In Hartheim – wie in jeder anderen Euthanasieanstalt – besetzte der Büroleiter eine wichtige Position. Er und sein Stellvertreter waren für die Geheimhaltung nach außen und einen reibungslosen Ablauf zuständig. Die Einweisung des Personals in seine Tätigkeit sowie deren Vereidigung zur Verschwiegenheit wurde vom Büroleiter vorgenommen. Ihm unterstand das Sonderstandesamt, das die Todesfälle beurkundete und ein Urnenbuch führte, ebenso wie die Schreibstuben, die die Korrespondenzen mit den Abgabeanstalten, Kostenträgern und Angehörigen erledigten. In Hartheim wurden die Posten des Büroleiters und seines Stellvertreters durch Kriminalpolizisten besetzt: Christian Wirth, Franz Reichleitner und Franz Stangl. Der aus Baden-Württemberg stammende Kriminalkommissar Christian Wirth war bereits als Büroleiter in Brandenburg und Grafeneck eingesetzt worden, bevor er nach Hartheim wechselte.[6] Sein Stellvertreter und späterer Nachfolger Reichleitner kam ebenso wie Stangl aus Oberösterreich; die beiden kannten sich durch die gemeinsame Ausbildung bei der Kriminalpolizei. Auch eine Ortspolizeibehörde wurde im Schloss eingerichtet, die sich allerdings – so hat es den Anschein – nach außen hin als völlig unabhängig von der Anstalt präsentierte. Der als Reichleitners Stellvertreter agierende Stangl gab an, für diese Position befördert worden zu sein, um rangmäßig über dem Leiter des Gendarmeriepostens Alkoven (zuständig für die Ortschaft Hartheim) zu stehen. Auch wenn es sicherlich keine Weisungsgebundenheit zwischen den beiden Stellen gab, so wollte man wahrscheinlich doch eine gewisse Unantastbarkeit vermitteln. Zudem wechselte Stangl zur Ordnungspolizei und somit zu einer uniformierten Abteilung.[7] Die Uniform sollte die Autorität unterstreichen und war vermutlich für die Außenwirkung gedacht. Es gab keine Bewachung des Schlosses. Durch die baulichen Gegebenheiten war dazu keine Notwendigkeit gegeben. Das Schloss war von einem L-förmigen Wirtschaftshof, einer Mauer und einem hohen Bretterzaun umschlossen. Wollte jemand Außenstehender in das Schlossinnere, so musste die Person am Tor des Wirtschaftsgebäudes klingeln. Dort war ein Schild mit der Aufschrift angebracht: »Wegen Seuchengefahr ist das Besuchen von Angehörigen nur mit besonderer Erlaubnis und nur unter Begleitung eines Pflegers möglich.«[8] Es kam zwar ein vermeintlicher Portier zum Tor und gab vor, die Fragen ernsthaft zu beantworten, der Zutritt wurde aber verwehrt. Die drei in Hartheim tätigen Polizisten hatten später bei der »Aktion Reinhard«[9] hohe leitende Positionen inne, bevor sie dann gemeinsam 1943, nach der Auflösung der Lager in Polen, nach Triest versetzt wurden.

Aber nicht nur durch die direkte Verstrickung in die Organisation und Durchführung der Euthanasieaktion spielte die Polizei eine wichtige Rolle; ebenso entscheidend beteiligt war sie bei der Verhaftung und Einweisung von Personen in Konzentrationslager, die dann im Zuge der »Sonderbehandlung 14f13« ermordet wurden.
In diesem Kontext wird aber nun ein weiterer Aspekt aufgeworfen – nämlich, der dem Dienst enthobene Polizist als politisch Verfolgter, der nicht selten von den eigenen Kollegen denunziert, in Schutzhaft genommen und in einem Konzentrationslager inhaftiert wurde.[10]

 

Genese des Programms »Berufsbild/Menschenbild – Sicherheit und Ordnung« und der Aufbau

Erste Überlegungen ein Programm zu etablieren, gab es bereits im Jahr 2012. Von Beginn an war ein grundsätzlicher Gedanke, die Lehrenden der Bildungszentren der Sicherheitsakademie (SIAK) des BMI[11] in die Konzeption einzubinden, um das Vermittlungsangebot auch im Rahmen der Ausbildung gut einbetten zu können. Es wurden mit den Lehrenden, die damals mit ihren Klassen den Lern- und Gedenkort bereits besuchten, erste Gespräche geführt. Diese ergaben allerdings, dass das zur Verfügung stehende Zeitkontingent nicht mehr als zwei Stunden betragen dürfte. Ein Standardrundgang durch die Gedenkstätte und die Ausstellung dauerte damals eineinhalb Stunden und es war ein Bestreben, diesen beiden Bereichen auch im Zuge eines Programms ausreichend Raum zu geben. Im Umkehrschluss bedeutete das, dass für ein eigenes Angebot zu wenig Zeitkapazität zur Verfügung stand.
Ende 2016 ergab sich allerdings durch die Initiative der beiden damaligen Fachzirkelvorsitzenden des Bereichs Persönlichkeitsbildung der Bildungszentren der SIAK in Kooperation mit dem Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim die Möglichkeit, ein umfangreiches Programm zu entwerfen. Das Ergebnis ist nun ein fünfstündiges Angebot, in dem sich gemeinsame Gruppenphasen mit selbstständigen Arbeitsphasen in Kleingruppen abwechseln. In der Regel haben die Klassen der Bildungszentren zwischen 25 und 30 Schülerinnen und Schüler. Diese werden in zwei Gruppen geteilt, die das Programm parallel durchführen.
Während eines ersten Settings in einem Seminarraum werden mit Hilfe von Laminaten und Objekten, die mit der Geschichte von Schloss Hartheim ebenso wie mit der Geschichte der Polizei im NS zu tun haben, erste Assoziationen gesammelt und Fragen aufgeworfen, die dann in den darauffolgenden Rundgang mitgenommen werden können. Die Idee ist hier auch, der Gruppe und der Vermittlerin oder dem Vermittler eine Möglichkeit des gegenseitigen Kennenlernens zu geben und eine gute und angenehme Atmosphäre zu schaffen, die dann im Laufe des Programms die Basis für die konstruktive Arbeit und offene Diskussions- und Gesprächsführung bildet. Es hat sich in Rückmeldungen gezeigt, dass dieser Einstieg tatsächlich maßgeblich zu einer gelungenen Durchführung des Programms beiträgt. Es scheint nämlich, dass Schülerinnen und Schüler aus diesem Bereich oftmals die Erwartung haben, an einer Gedenkstätte mit einem erhobenen Zeigefinger empfangen zu werden. Ein Begegnen auf Augenhöhe von Beginn an, mit einer kleinen einfachen Übung, bricht offensichtlich diese Erwartung und lässt ein konstruktives und intensives Miteinander entstehen, das dann gerne auch in der Feedbackrunde am Ende nochmals als sehr positiv herausgestrichen wird. Ein gelungener Auftakt ist auch deshalb von großer Bedeutung, weil im Laufe des Programms durch die doch anspruchsvollen und umfangreichen Arbeitsaufträge den Teilnehmerinnen und Teilnehmern einiges abverlangt wird, und ohne die Bereitschaft sich darauf einzulassen, das Programm zum Scheitern verurteilt wäre.
Nach der Einstimmungsrunde folgt ein zweistündiger Rundgang durch die Gedenkstätte und die Ausstellung »Wert des Lebens«. Die Gedenkstätte widmet sich zunächst der Geschichte der NS-Euthanasie und den Vorgängen im Schloss Hartheim. Die Ausstellung behandelt dann zum einen Mechanismen, die zur Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung geführt haben und führen, zeigt zum anderen aber auch anhand der Leitthemen Arbeit, (Ver-)Sorgen und Optimierung welchen Einfluss verschiedene historische wie gegenwärtigen Tendenzen auf eine Gesellschaft hatten und haben können – der Bogen spannt sich dabei von der Zeit der Aufklärung bis ins Heute. Während des Rundgangs werden mit Hilfe unterschiedlicher Objekte Bezüge zur Polizeigeschichte hergestellt – so kann im Raum, der sich der Eugenik widmet, das Buch »Fingerprints« von Francis Galton in seiner Intention einerseits kritisch hinterfragt werden, andererseits aber auch die Entwicklung der Daktyloskopie[12] und der erste Fall, der auf diesem Weg aufgeklärt wurde, angesprochen werden. Einige Räume später, bei einer Tafel zur Entdeckung der DNA, ergibt sich ein Rückbezug, wenn man auf die forensische DNA-Analyse in der Polizeiarbeit zu sprechen kommt. Aber auch die Lebenswelt von Menschen mit Behinderung und ihre Interaktion mit der Polizei kann entweder auf ironische Weise durch Cartoons von Philipp Hubbe[13] oder aber auch durch die Thematisierung von Texten in leichter Sprache, aus dem mit der Polizei in Verbindung stehenden Bereich der Behindertenrechtskonvention, besprochen werden.
Nach dem Rundgang gibt es eine kurze Einführung in die einzelnen Inhalte der Arbeitsaufträge und im Anschluss die Auswahl derselben durch inzwischen gebildete Kleingruppen. Ein Zeitrahmen von eineinhalb Stunden für eine Pause und die Bearbeitung der Aufträge steht zur Verfügung. Die Pause wird im Café Lebenswert, einem integrativen Betrieb des Instituts Hartheim[14], verbracht, das sich in einem Nebengebäude des Schlosses befindet. Der Besuch im Café war schon vor 2017 ein Fixpunkt im Programm der Bildungszentren und sollte auch auf Wunsch der Lehrenden weiterhin ermöglicht werden. Durch eine Kooperation mit dem Café gelang es, den dortigen Aufenthalt zeitlich auszuweiten, da die Aufträge in den Räumlichkeiten bearbeitet werden können und so die Pausenphase entspannt vor Ort in die Arbeitsphase übergehen kann.

 

Wie erarbeiten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nun konkret die historischen Bezüge und wie werden sie zusammengeführt?

Das Herzstück des Programms sind die Arbeitsaufträge, die anhand von Biografien die Geschichte der NS-Euthanasie in Verbindung mit der Geschichte der Polizei in der NS-Zeit bringen. Es gibt sechs Biografien, die in Kleingruppen zu drei bis vier Personen bearbeitet werden – das bedeutet bei einer Gruppengröße von höchstens 15 Personen, dass nicht alle Aufträge ausgewählt werden. Meist überlassen die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Gruppen die Entscheidung.
Folgende Biografien stehen zur Auswahl: Ludwig Bechinie[15] war während der 1. Republik ein hochrangiger Gendarmeriebeamter in Österreich und wurde nach dem Anschluss 1938 aus politischen Gründen verhaftet und im Konzentrationslager inhaftiert. Er wurde im Rahmen der »Sonderbehandlung 14f13« in der Euthanasieanstalt Pirna-Sonnenstein/Sachsen getötet. Die Verfolgung politisch Unliebsamer, die Verhängung der Schutzhaft und Verleumdungen, die von vielerlei Seiten sogar über die Zeitung »Der Deutschösterreicher« aus Südamerika gegen ihn geäußert wurden, sind die Eckpunkte, die behandelt werden.

Klaus Hornig[16] durchlief eine militärische, polizeiliche und juristische Ausbildung. Er weigerte sich im Herbst 1941 mit seinem Zug an Erschießungen russischer Kriegsgefangener in Polen teilzunehmen und berief sich dabei auf einen Paragrafen des Militärstrafgesetzbuches. Der Umstand, dass es Handlungsspielräume gab und die bloße Verweigerung keine weitreichenden Konsequenzen hatte, bildet, neben der Thematisierung des von Christopher Browning geprägten Begriffs der »Ganz normalen Männer«[17], die Diskussionsgrundlage. Der Auftrag fällt etwas aus dem Rahmen, da diese Biografie nicht direkt mit der NS-Euthanasie zu tun hat. Sie kann aber in Verbindung gebracht werden mit der Biografie von Franz Sitter[18], einem nach Hartheim dienstverpflichteten Pfleger, der sich weigerte, bei den Tötungen mitzumachen und in die Heil- und Pflegeanstalt, in der er ursprünglich tätig war, zurückversetzt wurde.

Karl Horvath[19] wurde während der NS –Zeit als »Zigeuner« im Konzentrationslager inhaftiert. Er wurde im Rahmen der »Sonderbehandlung 14f13« in Hartheim getötet. Anhand der »Gendarmerie-Rundschau« aus dem Jahr 1934 wird gezeigt, welches Bild über die »Zigeuner« bereits vor dem »Anschluss« in die Öffentlichkeit getragen und welche Maßnahmen von polizeilicher Seite gesetzt wurden. Wie etwa die Erstellung der sogenannten »Zigeunerkartei«, die den Nationalsozialisten später eine perfekte Basis für die Verfolgung lieferte. Neben seiner Biografie wird auch die Geschichte seiner Familie bis in die Gegenwart beleuchtet.

Selma Klein[20] wurde sehr jung bereits in verschiedenen Fürsorgeeinrichtungen betreut und immer wieder auch in die Psychiatrie eingewiesen. 1936 wurde sie zwangssterilisiert und nach Verschärfungen der Verfolgung der sogenannten »Asozialen« im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert. Von dort wurde sie im Rahmen der »Sonderbehandlung 14f13« in der Euthanasieanstalt Bernburg/Sachsen-Anhalt gebracht und ermordet. Die immer geringer werdende Unterstützung von Menschen wie Selma Klein durch die fortwährende und sich verschärfende Stigmatisierung und Verfolgung werden hier aus einer etwas anderen Perspektive gezeigt: Frauen als Täterinnen werden über die Fürsorge, die weibliche Kriminalpolizei sowie die Aufseherinnen aus Ravensbrück in den Blick genommen.

Walter Samstag[21] wurde der Zuhälterei verdächtigt und verhaftet. Obwohl er vor Gericht freigesprochen worden war, wurde er im Sommer 1941 im Zuge der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« im Konzentrationslager inhaftiert. Er wurde im Rahmen der »Sonderbehandlung 14f13« in Hartheim getötet. Neben der Auseinandersetzung mit dem »Erlass zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« wird auch das Verschweigen seines Schicksals in der Familie thematisiert. Daran lässt sich die allgemeine Frage anschließen, warum die Anerkennung der sogenannten »Berufsverbrecher« und »Asozialen« als Opfer des Nationalsozialismus bis heute immer noch Diskussionsthema ist.

Franz Stangl[22], bereits am Beginn erwähnt durch seine Tätigkeit in Hartheim, war während der »Aktion Reinhard« Kommandant zweier Vernichtungslager (Sobibor, Treblinka) und danach die letzten beiden Kriegsjahre in Triest tätig. Ihm gelang nach Kriegsende die Flucht nach Südamerika. 1967 wurde er verhaftet und vor Gericht gestellt. Die britische Journalistin Gitta Sereny führte mit Franz Stangl während seiner Haft in Düsseldorf ein umfangreiches Interview (später auch mit seiner Frau), das 1974 als Buch erschien. Mit Hilfe von Textpassagen, denen Dokumente aus dem Verfahren gegenübergestellt werden, wird seine Verteidigungsstrategie analysiert und über Aussagen seiner Frau auch der »Privatmensch« Stangl in den Fokus genommen.

Die Vorstellung der Biografien ist im Idealfall bereits mit der Erzählung, welche Überlegungen und Diskussionen innerhalb der Kleingruppen bei der Bearbeitung angestellt wurden, gekoppelt. Das heißt, auch wenn es Leitfragen zu jedem Arbeitsauftrag gibt, so gilt es doch die Biografie mit den Zusatzmaterialien, bereits auf einer reflexiven Ebene den Kolleginnen und Kollegen vorzustellen. Die Biografien ermöglichen bestimmte Mechanismen und Strukturen greifbarer zu machen und Lebenswege und Entscheidungen nachzeichnen zu können.

Über den historischen Konnex und die biografischen Bezüge ergeben sich spannende Diskussionen, die zeigen, wie sehr sich die Schülerinnen und Schüler inhaltlich wie persönlich mit den jeweiligen Arbeitsaufträgen auseinandergesetzt haben. Die Lehrenden der Bildungszentren halten sich meist sehr im Hintergrund, nehmen aber an den Programmen stets teil, da sie bestimmte Punkte in der Nachbereitung in den Klassen wieder aufgreifen.

Am Ende jedes Programms steht eine Reflexionsrunde, die es nochmals zulässt aufzufangen, was die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die letzten fünf Stunden beschäftigt hat. Nicht die Geschichte der NS-Euthanasie oder die Biografien stehen nun im Vordergrund, sondern die persönlichen Gedanken und Assoziationen, die nun formuliert und mit der Gruppe geteilt werden. Der zu Beginn erwähnte Aufbau einer Vertrauensbasis ist auch maßgeblich für ein Gelingen dieser Abschlussrunde, die im Idealfall auch eine offene Gesprächsrunde wird.

In der Schulung für dieses Programm eignen sich die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zusätzlich auch Basiswissen über der Polizei in der NS-Zeit an, um für grundsätzliche Informationen zur Verfügung zu stehen, beziehungsweise auch für Fragestellungen, die sich im Zuge der Arbeitsaufträge ergeben, das entsprechende Hintergrundwissen zu haben. Das Programm ist im Historischen angesiedelt, wir – die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Lern- und Gedenkortes – sind die Expertinnen und Experten für die Geschichte des Hauses und der NS-Euthanasie – wir sind weder in der Ausbildung noch im aktiven Dienst der Exekutive tätig und daher wäre es vermessen gewesen, auf aktuellen Entwicklungen und Ereignissen aufzubauen. Nichtsdestotrotz sind die Arbeitsaufträge aber so konzipiert, dass über das Thematisieren von Sprache, Macht, Pflicht, Befehl, Ohnmacht, Stigmatisierung, Handlungsspielräume, Menschenwürde, Menschenrechte und vielem mehr auch gegenwärtige Tendenzen und Meinungen offen diskutiert werden können.

Die von Beginn an aktive Kooperation mit den Lehrenden der Bildungszentren hat es ermöglicht, ein Programm zu schaffen, das sich inzwischen in der Ausbildung verankert hat und geschätzt wird.[23] Den Auszubildenden wird der zumeist unbekannte Ort Hartheim mit seiner Geschichte in Verbindung mit der Polizeigeschichte nähergebracht, und lässt so zusätzliche Verbindungslinien entstehen. Ein atmosphärisch angenehmes Setting zu schaffen, in dem gemeinsame Inhalte erarbeitet werden, Sichtweisen und gesellschaftliche Mechanismen diskutiert werden und Bezüge zur eigenen Lebens- und Berufswelt hergestellt werden können, war eine grundsätzliche Intention der Konzeption. Die letzte Evaluierung hat gezeigt, dass man diesem Anspruch gerecht werden konnte.

 

Mag. Simone Loistl ist Historikerin und seit 2007 im Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim beschäftigt. Zuletzt Arbeiten zur Biografie des ärztlichen Leiters der Tötungsanstalt Hartheim Rudolf Lonauer, zum Einsatz archäologischer Fundgegenstände in der Vermittlungsarbeit sowie zur Rolle der Polizei im Nationalsozialismus mit Aufbau eines pädagogischen Programms für Polizeischülerinnen und Polizeischüler.

 

[1]    Zur Geschichte der Tötungsanstalt Hartheim vgl. Brigitte Kepplinger/Gerhart Marckhgott/Hartmut Reese (Hg.), Tötungsanstalt Hartheim, Linz 2013.

 

[2]    Patrick Wagner, Hitlers Kriminalisten. Die deutsche Kriminalpolizei und der Nationalsozialismus zwischen 1920 und 1960. München 2002, S. 12.

 

[3]    Vgl. dazu Astrid Ley, Massenmord durch Kohlenmonoxid. Die »Erfindung« einer Mordmethode, die »Probevergasung« und der Krankenmord in Brandenburg/Havel. in: Günter Morsch/Bertrand Perz (Hg.), Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung. (= Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Band 29). Berlin 2011, S. 88–99.

 

[4]    Barbiturate wurden ursprünglich als Schlaf- und Beruhigungsmittel eingesetzt.

 

[5]    Vgl. Oberösterreichisches Landesarchiv (OÖLA), Landesgericht Linz, 15 VR 363/64 hier finden sich Korrespondenzen über die Beschaffung von CO-Flaschen für Hartheim bzw. auch später für Medikamente für die dezentrale Euthanasie in der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart/Linz.

 

[6]    Christian Wirth wurde in Folge den Büroleitern der Anstalten übergeordnet und hatte eine Aufsichtsfunktion über alle.

 

[7]    Gitta Sereny, Am Abgrund. Gespräch mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka. München 1995, 57f.

 

[8]    Brief von Gerda Zappe an ihren Vater vom 17. 8. 1940. Privatbesitz. Kopie in der Dokumentationsstelle Hartheim.

 

[9]    Vgl. dazu Sara Berger, Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Hamburg 2019.

 

[10]  Vgl. dazu Simone Loistl, Die Verstrickungen der Kriminalpolizei in die NS-Euthanasie. SIAK-Journal − Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis (4). 2021, S. 4–16.

      Online: dx.doi.org/10.7396/2021_4_A.

[11]  In den Bildungszentren findet die polizeiliche Grundausbildung in Österreich statt.

 

[12]  Fingerabdruckverfahren

 

[13]  www.hubbe-cartoons.de

 

[14] 

 

[15]  Boris Böhm/Ricarda Schulze, »… ist uns noch allen lebendig in Erinnerung« – Biographische Porträts von Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Anstalt Pirna-Sonnenstein. Dresden 2003, S. 130–148.

 

[16]  Gerd R. Ueberschär, Der Polizeioffizier Klaus Hornig. Vom Befehlsverweigerer zum KZ-Häftling. in: Wolfgang Wette (Hg.), Zivilcourage. Empörte, Helfer und Retter aus Wehrmacht, Polizei und SS. Frankfurt 2004, S. 77–93.

 

[17]  Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen. Hamburg 2020.

 

[18]  Vgl. OÖLA, LG Linz, Sondergerichte, VG 8 Vr 2407/46 Beschuldigtenvernehmung Franz Sitter, 20. 3. 1947. Der Pfleger Franz Sitter war der einzige von den zwischen 1940 und 1944 mehr als 70 Beschäftigten, der sich weigerte in Hartheim an den Tötungen teilzunehmen. Er wurde zurück in die Heil- und Pflegeanstalt Ybbs versetzt und später zum Sanitätsdienst eingezogen.

 

[19]  lebensspuren.schloss-hartheim.at/index.php/2-biografie/21-karl-horvath

 

[20]  frankfurt.de/frankfurt-entdecken-und-erleben/stadtportrait/stadtgeschichte/stolpersteine/stolpersteine-im-nordend/familien/klein-selma;

      www.gedenkort-t4.eu/de/historische-orte/qpkjb-stolperstein-fuer-selma-klein#schnellueberblick

      Hier gilt auch der Dank der Gedenkstätte Hadamar sowie der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück für die Unterstützung bei der Recherche zur Biografie von Selma Klein.

[21]  Beate Schaefer, Weiße Nelken für Elise. Die Liebe meiner Großeltern zwischen Wehrmachtsbordell und KZ. Freiburg 2016.

 

[22]  Zur Biografie von Franz Stangl vgl. neben Sereny (1995) auch Leo Gürtler, Unhinterfragte Schutzbehauptungen. Franz Stangls oberösterreichische Zeit im Werk von Gitta Sereny. in: Philipp Rohrbach/Florian Schwanninger (Hg.), Beyond Hartheim. Täterinnen und Täter im Kontext von ›Aktion T4‹ und ›Aktion Reinhard‹. Innsbruck 2019, S. 73–87.

 

[23]  In Kooperation mit der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, deren Besuch ein Fixpunkt im Lehrplan der Bildungszentren ist, wurde Vorbereitungsmaterial unter anderem mit Informationen zu den beiden Orten und zur Geschichte der Polizei im Nationalsozialismus gestaltet.