Der deutsche »Viehwaggon« als symbolisches Objekt in KZ-Gedenkstätten

Teil 2: Standorte der Wagen in acht Ländern
12/2007Gedenkstättenrundbrief 140, S. 3-19
Alfred Gottwaldt

Der »Viehwaggon« in Museen und Gedenkstätten in Deutschland

Am 15. September 1983 wurde der erste Güterwagen deutscher Bauart von seinem letzten Einsatzgebiet in Belgien über den amerikanischen Hafen Galveston nach Dallas (Texas) gebracht, um dort mit seiner Tür als Eingang zu einem Museum der Shoah zu dienen. Eine Zeitungsmeldung über dieses Objekt in der »Frankfurter Rundschau« vom 20. September 1983 war auch in Deutschland endlich der Anlass, sich mit dem Thema intensiver zu beschäftigen. In den folgenden Abschnitten soll gezeigt werden, welche anderen Museen diesem texanischen Vorbild während der vergangenen 25 Jahre gefolgt sind.

Mit einer ersten Projektskizze zur damals geplanten Eisenbahnausstellung des Museums für Verkehr und Technik in Berlin (West) schlug der Verfasser bereits im Sommer 1982 vor, dort einen gedeckten deutschen Güterwagen der Vorkriegsbauarten als Symbol für die Beteiligung der deutschen Eisenbahnen am Judenmord auszustellen. Ein entsprechendes Fahrzeug mit der Wagennummer »01 50 112 3512-2« der DDR-Reichsbahn wurde 1985 auf dem Gelände des Ausbesserungswerks Berlin-Grunewald gefunden und konnte im Frühjahr 1988 erworben werden. Seit der Eröffnung des 2. Lokschuppens im heutigen Deutschen Technikmuseum am 28. Oktober 1988 ist der Wagen als Teil der Ausstellungseinheit »1943: Mit der Reichsbahn in den Tod« zu sehen und kann über einen daneben errichteten Bahnsteig betreten werden. Das verwitterte Fahrzeug blieb unrestauriert, seine Wagennummer und weitere Anschriften aus der Nachkriegszeit wurden gelöscht. Damit sollte der schon behandelten und nicht aufzuklärenden Frage begegnet werden, ob dieses einzelne Fahrzeug »gewiss oder gewiss nicht« vor 1945 für einen »Judentransport« verwendet worden war. Zudem wurde das Objekt mit zwölf Bildtafeln zum Thema der Deportationen behängt, schließlich im Herbst 2005 um eine neu geschaffene Ausstellungseinheit »Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941–1945. Das Deutsche Technikmuseum porträtiert zwölf Berliner Schicksale« ergänzt.[1]

Zuvor war im Jahre 1985 in Kassel unter Beteiligung der Künstlerin E. R. Nele, die sich persönlich an Zwangsarbeiter auf den Straßen ihrer Heimatstadt erinnerte, ein Bronze-Denkmal aus Figuren in wallenden Mänteln errichtet worden, die symbolträchtig aus einem alten Waggon stürzen. Das Objekt mit dem Titel »Die Rampe« befindet sich unweit der heutigen Universität, in der Nähe eines historischen Standorts der Eisengießerei von Henschel & Sohn, welche in der NS-Zeit Lokomotiven sowie Kriegsgerät produzierte und auch Zwangsarbeiter beschäftigte. Damit war der deutsche Güterwagen auch als Bedeutungsträger für die Zwangsarbeit während der Hitler-Diktatur in die Öffentlichkeit eingeführt worden. Anfangs litt die Installation darunter, dass für diesen Zweck ein Güterwagen der Nachkriegsbauart verwendet worden war. Dieser konnte erst nach etwa zwei Jahren gegen ein älteres Fahrzeug getauscht werden, dessen Glaubwürdigkeit größer ist.

Etwa zur gleichen Zeit vor dem Ende der DDR beschafft, lagern heute noch in der brandenburgischen Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen bei Oranienburg die eisernen Teile des Fahrgestells und Aufbaus zu einem gedeckten Reichsbahn-Güterwagen. Bis jetzt hat sich aber keine Gelegenheit ergeben, diese Elemente in einer Ausstellung der brandenburgischen Gedenkstätten zu verwenden. Eine Präsentation am nahegelegenen Bahnhof Sachsenhausen scheiterte an den erforderlichen Genehmigungen und an den fehlenden Mitteln.[2]

Mit weiteren Güterwagen in der Bundesrepublik verweisen einzelne Initiativgruppen gleichfalls auf das nationalsozialistische Lagersystem, aber nicht explizit auf den Holocaust. So steht in Schwäbisch Hall-Hessental bei Heilbronn unter offenem Himmel seit April 1991 ein deutscher Güterwagen auf einem Zubringergleis zum früheren Zwangsarbeiterlager. Durch zahlreiche senkrechte Stangen mit Textinformationen und durch mehrere gebogene Zaunstützen ist das Objekt, das von der »Initiative KZ-Gedenkstätte Hessental« getragen wird, als Mahnmal gekennzeichnet.[3]

In der KZ-Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg wurde »eine kleine Strecke der alten Gleistrasse […] rekonstruiert und mit einem Waggon der Reichsbahn ausgestattet. Im Osten des Konzentrationslagergeländes haben sich noch Holzschwellen, Schienen der Lorenbahn und alte Zaunpfähle bis heute erhalten.«[4] Dort befand sich bereits im ehemaligen »Klinkerwerk« seit 1992 – und seit dem Sommer 1994 unter freiem Himmel – ein gedeckter Güterwagen der Reichsbahn, der in unpassend modernen Lettern die Anschrift »Kassel 37 723« trägt und hinter einer geöffneten Tür sowie der Luftklappe deutlich jüngere, künstlerisch gestaltete Abbilder von Häftlingen zeigt.[5] Modern mutet die museumsdidaktische Präsentationsform an, welche die Überlieferungsgeschichte des Fahrzeugs hervorhebt: Auf seiner unrestaurierten Rückseite ist es nämlich noch als »Gerätewagen, Bauzug 101, Heimatbahnhof Berlin-Schöneweide« mit der DDR-Wagennummer »40 50 951 1832-0« zu erkennen. Die daneben angebrachte Erklärung enthält folgende Textpassage: »Auch Transporte von anderen Konzentrationslagern und in die Außenlager wurden mit der Bahn vorgenommen. Die Aufstellung des historischen Güterwagens am Platz des ehemaligen Lagerbahnhofes und die Teilrekonstruktion der Gleistrasse erfolgte 1994 im Rahmen eines internationalen Jugend-Workcamps. Die in den Raummaßen des Waggons gegossene Zementfläche mit den Fußabdrücken dient der Veranschaulichung der Enge, die während der Transporte herrschte. Überlebende Häftlinge berichten, dass bei manchen Transporten die Waggons mit 80 und mehr Personen belegt waren; sie mussten dort oft viele Tage lang im Stehen oder kauernd verbringen.«[6]

Seit Januar 1997 steht auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte »Mittelbau-Dora« in Nordhausen (Harz) ein Güterwagen. Durch seine jahrelange Aufstellung unter freiem Himmel hat das Holzwerk des Fahrzeugs erheblich gelitten; eine neue Bebretterung scheint daher unvermeidbar. Die Gedenkstättenleitung plant, den Wagen bei einer Neugestaltung des Geländes näher an den Eingangsbereich des Lagers unweit einer Autobahnabfahrt zu versetzen, ihm dort also auch eine gewisse Funktion als Landmarke zu geben. Daher wird eine neue Beschriftung vermutlich unterbleiben.[7]

In Lüneburg hat die Geschichtswerkstatt um 2002 einen Wagen zur Erinnerung an die im April 1945 in der Stadt begangenen Kriegsverbrechen aufgestellt. Dazu erschien folgender Text: »Im Jahre 2000 haben wir unser Projekt ›Kriegsverbrechen in Lüneburg‹ in Form einer Broschüre veröffentlicht. In dieser wird der Massenmord an KZ-Häftlingen durch SS und Wehrmacht am Lüneburger Bahnhof [im April 1945; A.G.] geschildert. Einer der vier Waggons des Evakuierungszuges mit KZ-Häftlingen aus Wilhelmshaven wurde [bei einem Luftangriff; A.G.] direkt getroffen, die anderen fingen Feuer. Besonders verheerend war die Situation, weil die KZ-Häftlinge während des Angriffs in den Waggons eingesperrt blieben. Bis zum 11. April wurden von den ursprünglich 390 Häftlingen nur etwa 140 ins KZ Bergen-Belsen weitertransportiert.«[8]

Unweit der Gedenkstätte Bergen-Belsen (Kreis Celle) wurde im April 2002 auf Initiative der »Arbeitsgemeinschaft Bergen-Belsen e.V.« neben der Rampe am Rande des heutigen Truppenübungsplatzes ein gedeckter Güterwagen alter Bauart aufgestellt, der zuletzt von der Museumsbahn in Weyhe – Leeste (Niedersachsen) gekommen war. Sein eisernes Gerippe wurde durch Soldaten der Bundeswehr in Bergen-Hohne mit neuen Brettern versehen. Im Jahr zuvor war vom Militär am Bahnhof Bergen bei Bauarbeiten irrtümlich ein Teil der seit September 2000 denkmalgeschützten Verladerampe abgerissen worden, die daraufhin wieder hergestellt werden musste.[9]

Bei Verden an der Aller, unweit von Bremen, wurde am 9. November 2003 ein weiterer gedeckter Güterwagen zusammen mit einem alten Prellbock auf dem Gelände der Berufsbildenden Schulen als »Mahnmal Zwangsarbeit im Landkreis Verden 1939–1945« aufgestellt. Dem war eine schon seit rund fünfzehn Jahren währende Beschäftigung einzelner Schulklassen mit dem Thema »Zwangsarbeit im Landkreis Verden« vorangegangen. Das Objekt mit der bald gelöschten Wagennummer »20 50 020 1005-1« der DDR-Reichsbahn hatte zuvor dem VEB Getreidewirtschaftsbetrieb Torgau, Betriebsteil Wurzen, gehört. Es war von dem Lehrer Joachim Woock während einer Bahnfahrt auf dem Bahnhof bei Leipzig entdeckt und der Schule sodann kostenlos übertragen worden. Der Standort des Wagens bei Verden wurde mit alten Zaunpfählen aus der Kriegszeit umgeben. Schüler renovierten den Wagen und richteten darin eine Ausstellung ein. Am 12. September 2004 wurde das Mahnmal der Öffentlichkeit übergeben. Leider fiel der Waggon am 26. Januar 2007 einem Brandanschlag zum Opfer. Das ausgebrannte Kastengerippe soll künftig als ein Mahnmal mit doppelter Bedeutung an seinem Standort bewahrt und um ein noch zu beschaffendes, unbeschädigtes Fahrzeug gleicher Art ergänzt werden, dessen Aufstellung innerhalb der Stadt Verden beabsichtigt ist.[10]

Manche Gedenkstätten wollen den Güterwagen – jedenfalls in erster Linie – als Wegweiser verwenden, gewissermaßen als Landmarke in der Nähe eines noch nicht genügend beachteten örtlichen Befundes. Eine solche Funktion des Objekts lässt sich für die am 15. April 2005 eingerichtete Präsentation rund um einen Güterwagen in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück bei Fürstenberg an der Havel feststellen. Das Fahrzeug macht dort durch seine auffällige Kubatur in der Landschaft darauf aufmerksam, dass außerhalb des heutigen Geländes der Gedenkstätte und unweit der historischen »Beutebaracken« noch immer zahlreiche Eisenbahngleise im Gelände liegen. Diese harrten bis zur Erarbeitung der Ausstellung noch ihrer Entdeckung als Teile des einstigen Frauenlagers Ravensbrück. Dazu wurde zum 60. Jahrestag der Befreiung des Lagers am Ostrand des Gedenkstättengeländes ein Fahrzeug aufgestellt, das den Mittelpunkt einer Ausstellung unter freiem Himmel zum alleinigen Thema Eisenbahntransporte bildet. Zuvor hatte sich freilich herausgestellt, dass der von der Gedenkstättenleitung bei dem Museumsbahnverein »Hei Na Ganzlin« in Röbel (Mecklenburg) ausgesuchte Waggon ungefähr im Jahre 1909 für die französische Paris-Lyon-Mittelmeer-Bahngesellschaft produziert worden war. Der Wagen hatte sich nach 1949 bei der DDR-Reichsbahn befunden und war zuletzt als Bauzugwagen verwendet worden. Im Zweiten Weltkrieg waren von der Reichsbahn zwangsweise viele französische Güterwagen angemietet worden; viele von ihnen verblieben in Deutschland. Auszubildende der Deutschen Bahn aus dem Projekt »Bahn-Azubis gegen Hass und Gewalt« in Rostock versahen das Objekt im Frühjahr 2005 mit frischen Brettern und einem neuen Anstrich; dafür wurden sie in einem bahninternen Wettbewerb mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Bei der äußeren Fassung des Wagens unter der fiktiven Nummer »Stettin 95 002« wurde davon ausgegangen, dass die Reichsbahn den Wagen vor 1945 als Beutefahrzeug in den eigenen Bestand aufgenommen hatte. Allerdings ist nicht erwiesen, ob dies tatsächlich der Fall war. Diese Lösung musste gefunden werden, weil es undenkbar erschien, in der Gedenkstätte Ravensbrück einen Waggon mit einer authentischen französischen Beschriftung von 1942 oder gar in der späteren Bemalung der DDR-Reichsbahn von 1960 zu zeigen.[11] Tatsächlich lassen die Bilder aus Birkenau im »Album der Lili Jacob« bei dem am 26. Mai 1944 aus Bilke in der Karpathenregion Ungarns eingetroffenen Transport auch Wagen französischer und tschechischer Bauarten erkennen.[12]

Seit dessen Eröffnung am 21. Oktober 2006 ist im neuen »Verkehrszentrum« des Deutschen Museums auf der Münchner Theresienhöhe als Bestandteil des Ausstellungsthemas »Güterverkehr« ein Wagen mit Bremserhaus und der Nummer »Magdeburg 13 685« zu sehen, der aus der Fahrzeugsammlung des Verkehrsmuseums Dresden zur Verfügung gestellt wurde. Neben und unter dem Wagen sind auf den Schwellen des Eisenbahngleises die Namen zahlreicher Deportationsziele angebracht. Dabei handelt es sich um eine Installation des deutschen Künstlers Manfred Mayerle, der im Jahre 2006 die Aufgabe übernommen hatte, mehr als zwanzig solcher Bezeichnungen von Ghettos, Konzentrationslagern und Mordfabriken in weißer Schrift sichtbar zu machen. In der geschilderten Weise wird die Verbindung des Objekts mit Massentransporten erst auf den zweiten Blick sichtbar. Ziel dieser Inszenierung soll der Hinweis darauf sein, dass es in der dort dargestellten bunten Geschichte der Eisenbahn auch sehr dunkle Zeiten gegeben hat, die nicht sofort sichtbar sind. Hier ist also besonders deutlich ein rein technikgeschichtlich aufgefasstes Objekt durch den neugeschaffenen Kontext – wenigstens teilweise oder gleichzeitig – zu einem Symbol für den Holocaust geworden.[13]

Deutsche Güterwagen in Gedenkstätten in Polen

Auf heute polnischem Boden wurde im Zweiten Weltkrieg eine besonders große Zahl von Juden deportiert und ermordet. Mehrere Güterwagen deutscher Bauart wurden deshalb während der letzten Jahre auch innerhalb Polens in Gedenkstätten und Museen einbezogen. Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig befinden sich seit 1988 wenigstens drei solcher Waggons.[14]

An der Gedenkstätte neben dem Ghetto von Łódź (Litzmannstadt) ist vor einigen Jahren am Bahnhof Widzew-Radegast eine Gruppe von Güterwagen gemeinsam mit der deutschen Kriegslokomotive 52 6340 von der Reichsbahndirektion Posen aufgestellt worden.[15] Wie aus Fotos zu erkennen ist, tragen die drei Waggons heute die nachträglich angebrachten Wagennummern der Reichsbahn »Kassel 16 461« und »Kassel 56 523« sowie »Stettin 90 940«.[16] In Malkinia in Polen, nur wenige Kilometer vom früheren Standort der Mordstätte Treblinka entfernt, befand sich zumindest bis zum Jahre 2004 ebenfalls ein Güterwagen. Über seinen Verbleib ist nichts bekannt.

Als Landmarke werden neuerdings zwei weitere Fahrzeuge in der Nähe des Lagers Birkenau verwendet: Die am 27. Januar 2005 in Gegenwart der Auschwitz-Überlebenden Simone Veil und des damaligen französischen Präsidenten Jacques Chirac vorgenommene Aufstellung von zwei alten Güterwagen und mehreren Informationstafeln neben dem riesigen Güterbahnhof von Óswieçim in der Nähe der »alten Judenrampe« von Auschwitz soll dazu dienen, um auf diesen dauerhaft übersehenen Tatort deutlicher als bisher aufmerksam zu machen. An jenem Platz waren zwischen Frühjahr 1942 und Mitte Mai 1944 Hunderte von Transporten mit insgesamt etwa einer halben Million Menschen aus ganz Europa eingetroffen, bevor die heute besser bekannte »neue Judenrampe« inmitten des Lagerteils Birkenau fertiggestellt wurde. Nach Angaben der Gedenkstätte und Museum Auschwitz-Birkenau soll es sich um »einen französischen Waggon der Jahrhundertwende und um ein deutsches Modell von 1917« handeln.[17] Das polnische Museum hatte ein solches Projekt im Jahre 1991 angekündigt, um künftig deutlicher an jene Rampe zu erinnern, auf der so viele Menschen entladen und »selektiert« worden waren. Leider fehlte es damals an Geld. Anfangs wurde außerdem kritisiert, dass diese Rampe außerhalb der beiden anerkannten Lagerstandorte lag und sich selbst jenseits der differenzierten »Pufferzone« befand, welche den gesamten Lagerkomplex Auschwitz-Birkenau seit seiner Unterschutzstellung als Weltkulturerbe durch die Unesco zu umgeben hat. Die eingangs erwähnten Wagen sind von Werkstätten der Polnischen Staatsbahnen, der »Basisinfrastruktur- und -erhaltungsgesellschaft Cargo S. A.« in Krakau sowie dem Industrie- und Eisenbahnmuseum in Jaworzno Şlaskie (deutsch: Arnshalde) unter Verwendung alter Wagenkästen und Fahrgestelle auf bescheidene Weise rekonstruiert worden.

Güterwagen in Gedenkstätten in Frankreich und Belgien

In Frankreich war schon vor 1990 die Debatte über Kollaboration, Deportation und Massenmord stark ausgeprägt. Damit rückten nicht mehr nur deutsche Güterwagen, sondern auch die entsprechenden französischen Konstruktionen ins Blickfeld. In Drancy, einem Vorort von Paris, befindet sich seit 1988 in der Cité de la Muette auf dem Gelände des einstigen Sammellagers vor den Deportationen ein Waggon französischer Bauart, der äußerlich auch als Fahrzeug der Französischen Nationalbahn-Gesellschaft gekennzeichnet ist.[18]

Ein besonders eindrucksvolles Objekt wurde von Jean Tinguely gestaltet. Etwa 45 Fahrminuten südlich von Paris entfernt, befindet sich im Wald von Milly-la-Forêt bei Fontainebleau ein außergewöhnliches Mahnmal, das der schweizerische Künstler unter der Bezeichnung »Le Cyclop« oder »Le Monstre dans la Forêt« (Das Monstrum im Wald) dort installiert hat: Eine 22 Meter hohe vielgestaltige Stahlkonstruktion, die ungefähr 300 t schwer ist. Einem Totem gleich ragt ein riesenhafter symbolträchtiger Kopf in die Landschaft, der in seinem Innern mit zahlreichen Ausstellungsstücken von fünfzehn Künstlern ausgerüstet und auf seiner Rückseite mit einem französischen Güterwagen der bekannten Art dekoriert ist. Das Objekt soll »an die Deportation und Ermordung durch die Nazis und ihre Mitläufer« erinnern.[19] Die Künstlerin Eva Äppli hat mit ausgeprägten Gesichtsmasken und in langen braunen Gewändern vierzig Puppen hineingesetzt, die als ein »Memorial der Trauer« aufzufassen sind. Das gesamte Objekt wurde 1969 in Angriff genommen und erst zwanzig Jahre später, um 1989, fertig gestellt. Die skurrile Großplastik darf als Monument der Resignation und als spezielles »Museum von Tinguelys mechanischem Universum und als Monument der Gegenwartskunst« (Peter Iden) gelten. Ein Besuch der Skulptur ist nur im Sommer möglich.[20]

Zur Erinnerung an die Internierung zahlreicher deutscher Juden und anderer Zivilinternierter in den südfranzösischen Lagern in Gurs (bei Toulouse), Rivesaltes (bei Perpignan) und Le Récébédou (bei Toulouse) wurden gleichfalls Gedenkorte geschaffen. In Gurs sind es Bäume, die durch nicht mehr benötigte Gleise vor einem modernen Denkmal hindurch wachsen. In Les Milles bei Aix-en-Provence steht seit November 1992 ein weiterer Güterwagen jüngerer französischer Bauart mit moderner Beschriftung unter freiem Himmel, um heute als »porte ouverte sur la mémoire« (offene Pforte der Erinnerung) noch auf die Transporte von 1940 aus dem deutsch besetzten Norden Frankreichs in die »Zone Sud« (unbesetzte Zone im Süden Frankreichs) aufmerksam zu machen.[21]

Auch im Nationaldenkmal Fort Breendonk bei Willebroek (Belgien) befindet sich seit einiger Zeit ein deutscher Güterwagen, wie er »während des Zweiten Weltkriegs benutzt worden ist, um politische Gefangene in die Konzentrationslager zu deportieren.«[22] Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtete Festung Breendonk wurde von der Gestapo seit September 1940 als Auffanglager benutzt. Der Waggon wurde um 1908 für eine deutsche Bahnverwaltung gebaut, seit 1920 dann von der Reichsbahn und nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Belgische Nationalbahn weiter verwendet.

Ein deutscher Güterwagen in Großbritannien

Die Präsentation eines Reichsbahn-Güterwagens als Bedeutungsträger außerhalb der Zonen Mittel- und Osteuropas, in denen die historischen Verbrechen der Shoah verübt wurden, mag auf den ersten Blick überraschen. Im Jahre 2002 wurde nur die Hälfte eines vormals deutschen Güterwagens, der für diesen Zweck von der Belgischen Nationalbahn gestiftet worden war, in der »Holocaust-Ausstellung« des britischen Imperial War Museum (London) aufgebaut. Ziel der Präsentation in einem eher militärgeschichtlich orientierten Haus war es, die Mitwirkung der britischen Streitkräfte an der Beendigung des Holocaust und an der Befreiung der deutschen Konzentrationslager zu betonen.[23] Da in London aus Platzgründen nach einem herzhaften Längsschnitt nur noch ein Teil des Objekts gezeigt werden konnte, wurde das andere Fragment bald darauf an israelische Museumskollegen der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem abgegeben. Im Jahre 2006 erörterte Pläne, aus demselben Grund auch einen deutschen Eisenbahnwagen im National Railway Museum der englischen Stadt York aufzustellen, wurden nicht umgesetzt.[24]

Güterwagen bei Museen in den Vereinigten Staaten und Mexiko

Noch weiter außerhalb des einstigen deutschen Machtbereichs sind die heutigen überseeischen Standorte mehrerer deutscher Güterwagen gelegen. Nicht zu vergessen ist an dieser Stelle, dass ganz am Anfang der Entwicklung dieses Themas ein Wagen des im April 1984 eröffneten »Dallas Holocaust Memorial Center« im amerikanischen Bundesstaat Texas stand, den Michael Jacobs, ein ehemals polnischer Überlebender des Holocaust, für sein Haus im Jahre 1983 aus Belgien besorgt hatte. Die Seitenwand und die Wagentür ohne Boden und Fahrgestell, die zur Frachtersparnis demontiert worden waren, integrierte man damals in das Bauwerk des Jüdischen Gemeindezentrums als ein Torbogen zum Thema sowie zur gesamten Ausstellung. Der Güterwagen sollte damit die Aufgabe der »Initiation« oder Einführung als einer radikalen Verdeutlichung von Erfahrungen der Deportierten erfüllen. Dabei war das Innere des Wagens besser als sein Äußeres zu sehen; eine Umgehungsmöglichkeit war vorhanden. Wegen eines Umzugs ist das Objekt im Dallas Holocaust Museum seit September 2004 nicht mehr in der beschriebenen Weise öffentlich zugänglich. An einem neuen Standort im Süden von Dallas sind allerdings vorübergehend noch zwei seiner Wandelemente ausgestellt, die die Raumgröße eines Güterwagens vorstellbar machen sollen.[25]

Im Bestand des 1992 eröffneten »Florida Holocaust Museum« von Madeira Beach – seit 1999 in der Ortschaft St. Petersburg (USA) – befindet sich seit 1990 ein gedeckter deutscher Güterwagen mit der aufgeschriebenen Nummer »113 0695-5«, welche vermutlich von den Polnischen Staatsbahnen stammt. Der Wagen gelangte nach Angaben von Walter Loebenberg, einem aus Frankfurt am Main stammenden Holocaust-Überlebenden und Gründer des Florida Holocaust Museums, erst nach langwierigen Verhandlungen mit polnischen Autoritäten aus Danzig in die Vereinigten Staaten. Eine tiefergehende äußerliche Bearbeitung des Objekts wurde nicht vorgenommen. Das ganz am Ende der Ausstellung und verschlossen präsentierte Fahrzeug soll auf einem »Original Track from the Treblinka Killing Center« stehen. In dem Güterwagen wurde bei ersten Reinigungsarbeiten ein kleiner Mädchenring aus den dreißiger Jahren gefunden, so dass mit einiger Überzeugungskraft davon die Rede ist, der Wagen sei tatsächlich einmal für »Judentransporte« verwendet worden. Die näheren Umstände dieses Fundes sind unaufgeklärt. Man kann die symbolische Funktion dieses Wagens in dem Museum von St. Petersburg als »ambivalent« oder »multivalent« (Oren Baruch Stier) bezeichnen und damit seine ausgewiesene Mehrdeutigkeit als Erinnerungsstück ansprechen: mysteriös und begreifbar zugleich.[26]

Das am 22. April 1993 eröffnete »United States Holocaust Memorial Museum« in Washington DC enthält einen schon während der Bauzeit von dem Architekten Ralph Appelbaum durch Absenken des Etagenbodens in die architektonische Struktur integrierten »Treblinka Rail Car« deutscher Konstruktion mit Bremserhaus. Anregungen dazu, ein solches Objekt in die Sammlung aufzunehmen, sind auch von Raul Hilberg ausgegangen. Der Wagen mit der am Objekt selbst ermittelten alten Reichsbahnnummer »Karlsruhe 31 599« war 1920 von der Maschinenfabrik Esslingen erbaut worden; der Katalog gibt dazu folgende Erklärung: »Ein Eisenbahnwagen des Typs, wie er benutzt wurde, um Opfer aus dem Warschauer Ghetto zu den Gaskammern von Treblinka zu bringen.«[27] Das Objekt war im Sommer 1989 von der polnischen Regierung zur Verfügung gestellt worden. Im Ausstellungskatalog des Museums in Washington heißt es zum Aspekt der Restaurierung ferner: »Die intensive Suche nach Objekten brachte nicht nur eine Menge potentiell guter Objekte hervor, sondern ließ auch mancherlei kuriose Episoden entstehen, die dem Team der Ausstellungsvorbereitung trotz der oftmals anstrengenden täglichen Arbeit an der Holocaustgeschichte eine gewisse Entspannung brachten. So veranlasste ein Missverständnis die ›Polnische Hauptkommission für die Aufklärung der Hitlerverbrechen‹ dazu, dass der für Amerika vorgesehene Eisenbahnwagen vor dem Versand völlig mit neuer, glänzend braunroter Farbe angestrichen wurde, bevor er als Präsent nach Washington geschickt werden konnte. Es kostete mehrere Monate und ungefähr 50 000 Dollar, bis ein professioneller Restaurator ihn auf seinen Originalzustand zurückgeführt hatte, indem er die übergezogenen Farbschichten abnahm und schließlich eine Fassung herstellte, wie der Wagen während des Krieges ausgesehen haben musste.«[28]

Auch an dieser Restaurierungsarbeit, die von Tom Troszak in Asheville (North Carolina) ausgeführt wurde, war der Verfasser beratend beteiligt. Wie in Dallas sollte der Gang in den Wagen hinein zu den zentralen Erfahrungen des Museumsbesuchers zählen. Quer durch die beiden Schiebetüren des Objekts wurde ein brückenartiger Steg aus Metall gebaut, der mehrere Funktionen hatte: Er sollte die erwartete Abnutzung des Holzbodens im Wagen durch Millionen von Besuchern und auch deren direkte, vielleicht ungewollte Berührung mit dem Artefakt vermeiden. Für die Menschen, die ein solches Objekt aus persönlichen Gründen nicht durchschreiten wollten, wurde ein »Bypass« vorgesehen, der die Umgehung des Fahrzeugs zu ebener Erde ermöglicht. Ursprüngliche Pläne, den Waggon mit technischen Hilfsmitteln »rollen« zu lassen oder »Schreie« in seiner Nähe hörbar zu machen, wurden verworfen. Die Ausstellungsstrategie für den Wagen in Washington kann als »integrativ« oder »kontextualisiert« bezeichnet werden, wird doch das Objekt mit historischer Genauigkeit und fast ohne Mystifikation präsentiert.[29]

Auch das 1996 eröffnete »Richmond Holocaust Museum« im amerikanischen Bundesstaat Virginia empfängt die Besucher mit einem »Holocaust-era German Cattle Car« vor seiner Tür. Bei dem in der Nähe der amerikanischen Bundeshauptstadt Washington gelegenen Haus steht die Geschichte der Familie des Holocaust-Überlebenden Jay M. Ipson aus Kowno (Litauen) im Zentrum der Darstellung.[30]

Ein weiterer deutscher Güterwagen wurde für das »Paper Clips Project« der Whitwell Middle School in der Kleinstadt Whitwell in Tennessee (USA) verwendet, jenes Projekt, das gedanklich schon seit 1998 vorbereitet worden war. Das Fahrzeug hatte bis Anfang 2001 noch dem Eisenbahnverein »Hei Na Ganzlin« aus Röbel (Mecklenburg) gehört und war zuletzt im Hafen von Frankfurt (Oder) zum Getreidetransport eingesetzt worden. Im August 2001 war der Wagen mit Hilfe der Deutschen Bahn und der Bundeswehr über Cuxhaven nach dem Hafen von Wilmington (North Carolina) verschifft worden. Das Projekt sah in Erinnerung an bestimmte historische Vorgänge in Norwegen 1942 vor, als »The Children’s Holocaust Memorial« auch den Umfang und Bürokratismus des Judenmords auf eigene Weise durch eine Sammlung unzähliger Büroklammern darzustellen. Diese sollten in den Waggon gefüllt werden. Mehr als 30 Millionen Büroklammern aus aller Welt trafen schließlich in Whitwell ein; über das Projekt wurde im Jahre 2004 der preisgekrönte Dokumentarfilm »Paper Clips« produziert.[31]

Am 9. November 2005 präsentierte das »Illinois Holocaust Museum and Education Center« in Skokie bei Chicago (USA) ebenfalls einen Güterwagen deutscher Bauart, der in dem noch zu errichtenden Bildungszentrum eine bedeutende Rolle spielen soll.[32] Wenige Wochen später, im Dezember 2005, wurde ein entbehrlicher Güterwagen aus der Sammlung des gemeinnützigen Vereins »Brücke« in Blankenburg (Harz) an das »Holocaust Museum Houston« in Texas abgegeben. Es handelte sich um den ersten Wagen der Bauart mit einem hohen Dach, der bislang noch nicht in Gedenkstätten gezeigt worden war, dessen Verwendung für »Judentransporte« allerdings ebenfalls durch Bilder im »Album der Lili Jacob« belegt ist.[33] Um die Anschaffung hat sich vor allem der Unternehmer Peter Berkowitz bemüht. Das Fahrzeug wurde in Blankenburg von Auszubildenden einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nahezu fabrikneu aufgearbeitet und zunächst mit einer plausiblen Beschriftung als »Oppeln 27 070« aus dem Baujahr 1942 versehen. Inzwischen liegen Erkenntnisse vor, dass seine Wagennummer für die Fabriknummer 69 532 tatsächlich mit »Oppeln 18 956« zu bestimmen ist.[34] Das Fahrzeug wurde am 20. Dezember 2005 an Bord eines russischen Frachtflugzeugs aus Deutschland nach Dallas (Texas) überführt und am 5. März 2006 erstmals öffentlich in Houston präsentiert. Den örtlichen Unfallverhütungsvorschriften folgend, musste es mit elektrischer Innenbeleuchtung ausgerüstet werden. Es wird geplant, das Objekt in einem Museumsneubau künftig unter Dach zu präsentieren.

Ein anderer Waggon aus Polen mit hohem Dach befindet sich seit dem 13. Februar 2007 beim »Holocaust Education and Information Center« in Fort Lauderdale (Florida), das im Herbst 2008 eröffnet werden soll.[35] Ein weiterer Güterwagen wurde im Mai 2007 aus dem Eisenbahnmuseum Wien-Schwechat in Österreich über Rotterdam zum »Holocaust Museum and Research Center of South West Florida« in Naples (USA) verschifft, um dort demnächst in die Ausstellung aufgenommen zu werden. Der typische Wagen deutscher Konstruktion, erbaut 1917 bei Schumann in Zwickau unter der Fabriknummer 5241 und mit der späteren Wagennummer »Kassel 45 417«, war nach dem Zweiten Weltkrieg noch jahrzehntelang in Österreich gefahren. Zuletzt trug er die Nummer 21 81 112 2607-0 und hatte sich von 1969 bis 2002 im Bestand des Agrarspeichers Schwechat befunden. Der Ankauf wurde durch eine Spende des Kaufmanns Jack Nortman ermöglicht, dessen Eltern nach dem Kriegsende als »displaced persons« ebenfalls noch in solchen Wagen transportiert worden waren.[36]

Auch im Süden des nordamerikanischen Kontinents, in Mexico City, entsteht seit Mitte 2007 ein »Holocaust and Tolerance Museum« (Museum des Holocaust und für Toleranz) der Gruppe »Memoria y Tolerancia A. C.«, das gleichfalls einen deutschen Güterwagen mit der kryptischen Nummer »636-011« aus Polen erhalten hat. Das Fahrzeug hat vermutlich schon seit 1961 nicht mehr zum Bestand der Polnischen Staatsbahnen gehört; es soll demnächst restauriert werden.[37]

Die »Viehwaggons« in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem

Durch die Darstellung in den Medien sehr bekannt geworden ist ein deutscher Güterwagen auf dem Freigelände der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Das Fahrzeug mit der angenommenen alten Reichsbahn-Nummer »München 11 689« ist seit Januar 1995 zu besichtigen. Es war kurz zuvor von der polnischen Regierung zur Verfügung gestellt worden und soll in der Nähe von Treblinka aufgefunden worden sein. Die Mittel zu seiner raumgreifenden Inszenierung haben die Brüder Merczynski zur Verfügung gestellt. An einer Wand unweit des Denkmals ist der Bericht des Treblinka-Überlebenden Avraham Krzepicki eingraviert.

Nach mehr als zehn Jahren seiner Präsentation unter freiem Himmel ist das Fahrzeug bereits stark angegriffen. Der israelisch-kanadische Architekt Moshe Safdie hat dieses vor allem von deutschen Politikern, die Israel besuchen, immer wieder beachtete Objekt auf einer abgebrochenen Brücke installiert. Sie ragt vom »Berg des Gedenkens« weit über ein benachbartes bewaldetes Tal hinaus und ist wegen ihrer offensiv dramatischen Wirkung von Anwohnern gelegentlich kritisiert worden. Der Ausstellungskatalog vermerkt dazu eindeutig: »Der Viehwaggon – Das Denkmal für die Deportierten. Im Mittelpunkt der Gedenkstätte steht ein original deutscher Viehwaggon, der für die Deportation der Juden in die Vernichtungslager benutzt wurde. Am äußersten Rand von abgerissenen Eisenbahnschienen hängend, scheint der Viehwaggon gleichsam am Rande des Abgrunds innezuhalten – Symbol der Reise in Vernichtung und Vergessenheit. Darin, dass das Denkmal den Hügeln Jerusalems gegenüber gestellt wurde, drückt sich jedoch auch die ewige Hoffnung und die Erneuerung des Lebens nach dem Holocaust aus.«[38]

Man kann die denkmalsähnliche Funktion des Wagens als »monumental« oder »ästhetisiert« bezeichnen, weil der Wagen durch seine einzigartige Aufstellung sowohl einer körperlichen Berührung wie näherer Betrachtung vollkommen entzogen ist.[39] Technisch versierten Beobachtern fällt auf, dass der Waggon zwar ein Bremserhaus besitzt, die zugehörigen Bremsklötze an den Rädern aber fehlen. Vermutlich ist ein Teil der Ausrüstung auf dem Transportweg nach Israel verloren gegangen.

Oben wurde schon die Hälfte eines deutschen Güterwagens erwähnt, welche im Imperial War Museum in London zu sehen ist. Die im März 2005 gleichfalls nach Plänen von Moshe Safdie and Associates eröffnete neue Jerusalemer Ausstellungshalle des »Museums für Holocaustgeschichte« in Yad Vashem zeigt in ihrer Abteilung »6. Deportation aus Polen und dem restlichen Europa in die Todeslager« die andere Seite dieses Fahrzeugs in Form eines höchst abstrakten Gerippes. Weil dort bereits seit zehn Jahren und auch weiterhin unter offenem Himmel der vorstehend erwähnte deutsche Güterwagen vollständig zu sehen ist, musste das Objekt innerhalb der Halle auf nahezu metaphorische Weise nur noch aus wenigen Eisenteilen und einigen Holzplanken bestehen: Das Bild, die Botschaft – sie entstehen im Kopf der Betrachter bereits mit dem abstrakten Zitat. Hinzu kommt eine gewisse »Vermenschlichung« des stummen Objekts durch eine daneben angebrachte Hörstation, aus welcher menschliche Gesänge – gleichsam aus dem Innern des Wagens heraus – tönen.

Zur Interpretation der ausgestellten Güterwagen

Die Darstellung umfasst zusammen 35 Güterwagen in acht Ländern: Deutschland (11), Polen (8), Frankreich (3), Belgien (1), Großbritannien (1), Israel (1), Vereinigte Staaten (9), Mexiko (1). Der jeweils zur Hälfte in England und in Israel aufgestellte Wagen ist hier nur zum ersten Standort in Großbritannien gerechnet worden. Bei einem Blick auf die Länder fällt sogleich auf, dass zumindest in Deutschland und den USA einzelne frühe Vorläufer den Gedenkstätten als Vorbilder gewirkt haben; anders ist die große Zahl von Wagen in Florida und Texas kaum zu erklären.

Ein Drittel der Fahrzeuge wurde außerhalb des einstigen deutschen Machtbereichs zum Ausstellungsgegenstand gemacht. Wie lassen sich diese Objekte gedanklich ordnen, die in europäischen oder sogar in überseeischen Museen und Gedenkstätten gezeigt werden, um dort die Mitwirkung der Deutschen Reichsbahn an Holocaust und Zwangsarbeit zu symbolisieren? Zunächst sind einige formale Gruppierungen denkbar: Von den oben angesprochenen Beispielen befinden sich nur sehr wenige Stücke unter dem schützenden Dach eines Gebäudes (Berlin, München, London, Dallas, St. Petersburg, Washington), während die übrigen Objekte wegen ihrer aktuellen Aufbewahrung unter offenem Himmel vor Witterungseinflüssen kaum geschützt sind und somit – ohne regelmäßige Erneuerung – nur eine begrenzte »Lebenserwartung« haben. Fraglos ist eine Bewahrung unter Dach vorzuziehen, obwohl dies der historischen Verwendung der Fahrzeuge durchaus nicht entspricht.

Ebenso formal lässt sich sagen, dass nur in sehr wenigen Fällen das Betreten der Fahrzeuge in Museen und Gedenkstätten gestattet ist (Berlin, Dallas, Washington), während dies Besucherinnen und Besuchern in allen übrigen Fällen aus vielen unterschiedlichen Gründen verwehrt wird. Wenn auch klar ist, dass die historischen Umstände der Deportation nicht nachempfunden werden können, so geht auf diese Weise doch zwangsläufig ein wesentlicher emotionaler Teil der Konfrontation mit dem Objekt verloren.

Eine die Echtheit oder Authentizität in gewisser Weise bekräftigende Wagenbeschriftung nach historischem deutschem Vorbild aus der Kriegszeit ist nur bei einer kleinen Zahl von Waggons festzustellen (München, Washington, Jerusalem, Łódź), während diese bei anderen Objekten schlichtweg nicht angebracht oder sogar bewusst vermieden wurde. In einigen Fällen ist wohl damit zu rechnen, dass die Anschriften noch nachgetragen werden (Willebroek, Mexiko). Wenn die Objekte nicht einem bestimmten »Judentransport« zugewiesen werden können, dürfte jedenfalls die Anbringung einer bestimmten Nummer entbehrlich sein. Vollends überflüssig erscheinen Wagenbeschriftungen, wenn das Fahrzeug primär als Wegweiser oder als Landmarke verwendet wird (Ravensbrück, Auschwitz, Nordhausen, befristetes Projekt des Deutschen Historischen Museums).

Nur bei einem einzigen von mehr als dreißig Fahrzeugen – dem des »Florida Holocaust Museum« im amerikanischen St. Petersburg – wurden noch Spuren gefunden, die auf seine Benutzung für einen »Judentransport« hindeuten könnten. Diese Beobachtung hat jedoch aus zahlreichen Gründen keine statistische Bedeutung. Als besonders originell lässt sich das »Whitwell Paper Clip Project« bezeichnen, weil dort mit dem Wagen eine äußerst aktive Aneignungsform verbunden war. Andererseits steht dieses Fahrzeug in Tennesee abseits der großen Besucherströme.

Zur Herkunft der Objekte lässt sich folgendes sagen: Die Mehrzahl der untersuchten deutschen Fahrzeuge stammte zuletzt aus Polen sowie aus dem Deutschland der Nachkriegszeit. Immerhin drei bis vier Objekte vormals deutscher Provenienz kamen aus oder stehen noch in Belgien (Dallas, London, Jerusalem, Willebroek).

Aus bestimmten Gründen wurden nicht ausschließlich deutsche Wagenkonstruktionen des Produktionszeitraums zwischen 1900 und 1945 zum Thema ausgestellt: Fünf französische Konstruktionen wurden identifiziert mit dem Wagen an der Gedenkstätte Ravensbrück, einem Objekt in Auschwitz-Birkenau, den beiden Fahrzeugen in Les Milles und Drancy sowie mit dem Waggon des »Le Cyclop« von Milly-la-Forêt in Frankreich.

Relativ uneinheitlich sind die bei den einzelnen Fahrzeugen angewandten Grundsätze der Restaurierung. Manche Objekte wurden und werden in jüngster Zeit mit neuen Brettern ausgerüstet, weil die alten verfallen waren oder nur noch eine geringe Lebensdauer versprachen. Wenn aber das vordringliche Verlangen der Aussteller die Authentizität des Objekts ist, dann sollte der Austausch der Hölzer auf jeden Fall vermieden werden. Damit wird zugleich verhindert, dass der Wagen »neu« wirkt.

Der Verfall von Objekten in den Gedenkstätten stellt ein eigenes Thema dar, das hier nur gestreift werden kann. Es sei daran erinnert, dass Volkhard Knigge kürzlich berichtet hat, wie dem Bildhauer Fritz Cremer – nach den Worten seiner Witwe Christa Cremer von 1997 – für die Gedenkstätte Buchenwald schon in den fünfziger Jahren »eigentlich eine Plastikgruppe aus Gusseisen (vorschwebte), die langsam – durch Rosten – sich auflöse. Menschen bedürften der Plastik eine zeitlang als Hilfe für das Gedenken, die Plastik könne das Gedenken aber nicht stellvertretend für die Menschen übernehmen.«[40]

Die Darstellung hat gezeigt, dass sich die Wagen auch nach anderen theoretischen Grundsätzen ordnen lassen, nämlich nach ihrer diskursiven Funktion in Gedenkstätten und Museen. Der amerikanische Religionsphilosoph und Historiker Oren Baruch Stier hat bereits vor drei Jahren versucht, einige der ihm damals bekannten Eisenbahn-Objekte einer gewissen Typologie zu unterwerfen. In der Einleitung zu seiner Studie bemerkt er: »Indem ich vier Eisenbahnwagen der Holocaust-Epoche aus vier unterschiedlichen Museumstypen zum Gegenstand meiner Untersuchung mache, betrachte ich die Symbolik und die Erinnerungsformen des Holocaust. In einem breiteren kulturwissenschaftlichen Verständnis von Religiosität, das über theologische Gedankengänge weit hinausgreift, beleuchte ich die ausgestellten Güterwagen in ihrem jeweiligen institutionellen Kontext. Beim Blick auf die Platzierung und die Präsentation dieser Güterwagen wird deutlich, wie jedes einzelne Objekt eine andere Denkweise der Erinnerungspolitik verkörpert: entweder in Form einer Initiation oder mit integrativer Aufgabe, aber auch auf ambivalente sowie schließlich sogar auf monumentale Weise. Darüber hinaus reflektiert und bestätigt jede dieser Ideologien eine ganz bestimmte Strategie in den gegenwärtigen Gesellschaften bezüglich der Erinnerung an den Holocaust.«[41]

Seine Zuordnung hat Stier anhand von vier bekannten Beispielen in Dallas, St. Petersburg, Washington und Jerusalem vorgenommen; doch lassen sich diese vier Kategorien mehr oder weniger stark auch auf die übrigen hier beschriebenen Fahrzeuge anwenden. Jeder dieser Wagen hat eine starke Wirkung allein wegen seiner schieren Größe und des dunklen Anstrichs. Der begrenzte Innenraum wirkt eng und regt die Phantasie der Betrachter an. Nicht zuletzt durch wirksame Architektur und Gestaltung der näheren Umgebung lässt sich die Bedeutung der Fahrzeuge noch steigern.
 

Alfred Gottwaldt ist seit 1983 Leiter der Abteilung Schienenverkehr im Deutschen Technikmuseum Berlin. Er bereitet eine umfassende Untersuchung zur Funktion der Deutschen Reichsbahn bei der Vernichtung der europäischen Juden vor.
 

[1] Vgl. Alfred Gottwaldt, Züge, Loks und Leute. Eisenbahngeschichte in 33 Stationen. Ein Katalog, Berlin 1990, Seite S. 164–165.

[2] Hinweis von Prof. Dr. Günter Morsch, Oranienburg.

[3] www.gedenkstaetten-bw.de/gedenkstaetten/de/Broschuere/hessental.htm, Zugriff: 10. Juli 2007.

[4] Vgl. Ute Wrocklage, Neuengamme, in: Detlef Hoffmann, Das Gedächtnis der Dinge, S. 178–205 (mit einem Bild des Wagens in Neuengamme auf S. 182).

[5] Vgl. die Notiz Güterwagen in KZ-Gedenkstätte, in: Eisenbahn-Magazin, Heft Nr. 3/1992, S. 11.

[6] Eigene Aufschreibung vom März 2007 in der Gedenkstätte Neuengamme. Eine Abbildung des Wagens findet sich in: Stiftung Topographie des Terrors (Hrsg.) und Thomas Lutz (Bearb.), Gedenkstätten für die Opfer des NS-Regimes. Eine Übersicht (Sonderausgabe des Gedenkstätten-Rundbriefs), Berlin o. J. [1996], S. 22.

[7] Hinweis von Thorsten Heß, Nordhausen.

[8] www.geschichtswerkstatt-lueneburg.de (Zugriff: benutzt am 15. Juni 2007).

[9] Hinweis von Frau Elke von Meding, Bergen-Bleckmar.

[10] Vgl. Joachim Woock, Mahnmal Zwangsarbeit auf dem Gelände der Berufsbildenden Schulen Verden. Die Geschichte des Brandanschlags vom 26. Januar 2007, in: Gedenkstätten-Rundbrief, Ausgabe Nr. 136 (4/2007), S. 3–10.

[11] Vgl. Karolin Steinke, »Züge nach Ravensbrück«. Die neue Dauerausstellung auf dem Freigelände der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, in: Gedenkstätten-Rundbrief Nr. 132 (8/2006), S. 29–33.

[12] Vgl. das Album der Lili Jacob, Bilder mit den nachträglich angebrachten Nummern 5, 9, 10 und 13.

[13] Hinweis von Sylvia Hladky, München.

[14] Hinweis von Dr. Joachim Woock, Verden (Aller).

[15] Vgl. die Fotografie von Thomas Lutz auf dem Umschlag des Gedenkstätten-Rundbriefs Nr. 134 (12/2006).

[16] Abdruck eines Bildes in: Frankfurter Rundschau, vom 21. Oktober 2005, S. 3; Hinweis von Jacek Wesolowski, Lodz (Polen).

[17] www.auschwitz.org.pl/html/de/aktualnosci/news (Zugriff: benutzt am 5. März 2005).

[18] Vgl. Caroline Wiedmer, The Claims of Memory. Representations of the Holocaust in Contemporary Germany and France, Ithaca (USA) und London (England) 1999, Seite S. 70–71.

[19] Vgl. Christmut Präger, Le Cyclop. Eine Anti-Freiheitsstatue als Herausforderung, in: Manfred Fath (Hrsg.), Jean Tinguely – »Stillstand gibt es nicht« (Ausstellungskatalog der Kunsthalle Mannheim), München 2002, Seite S. 120–127.

[20] Vgl. die Besprechung von Peter Iden, Rückzug in den Schatten der Wälder. Ein Monument der Erinnerung: Jean Tinguelys Großplastik »Le Cyclop« bei Milly-La-Forêt, in: Frankfurter Rundschau, vom 7. Juli 1994. Hinweis von Rolf Swoboda, Bochum.

[21] Vgl. Volkhard Knigge und Detlef Hoffmann, Die südfranzösischen Lager, in: Detlef Hoffmann, Gedächtnis der Dinge, S. 208–223 (mit einem Bild des Gleises in Gurs auf S. 217); vgl. Werner Reuber, Bilder von den südfranzösischen Lagern, ebenda, S. 224–237 (mit einem Bild des Waggons in Les Milles auf S. 236).

[22] Hinweis von Dimitri Roden, Willebroek-Breendonk (Belgien).

[23] Vgl. den Ausstellungskatalog The Holocaust. The Holocaust Exhibition at the Imperial War Museum, London 2000, S. 27 und 46.

[24] Hinweis von Helen Ashby, York (England).

[25] Vgl. Oren Baruch Stier, Different Trains. Holocaust Artifacts and the Ideologies of Remembrance, in: Holocaust and Genocide Studies 19 (2005), S. 81–106 (84–88).

[26] Vgl. Oren Baruch Stier, Different Trains, S. 92–96; vgl. www.flholocaustmuseum.org (Zugriff: benutzt am 3. Juli 2007).

[27] Vgl. Jeshajahu Weinberg und Rina Elieli, The Holocaust Museum in Washington, New York 1995, Bild S. 56, Text S. 60 (eigene Übersetzung).

[28] Ebenda, S. 60.

[29] Vgl. Oren Baruch Stier, Different Trains, S. 88–92.

[30] www.va-holocaust.com (Zugriff: benutzt am 12. Juni 2007).

[31] Vgl. Peter W. Schroeder und Dagmar Schroeder-Hildebrand, Das Büroklammer-Projekt. Schüler schaffen ein Holocaust-Mahnmal, München 2000; vgl. Peter W. Schroeder und Dagmar Schroeder-Hildebrand, Six Million Paper Clips. The Making of A Children’s Holocaust Memorial, Minneapolis (USA) 2004.

[32] Vgl. www.hmfi.org (Zugriff: benutzt am 3. Juli 2007).

[33] Vgl. das Album der Lili Jacob, Bilder mit den nachträglich angebrachten Nummern 3, 16, 21, 35 und 36.

[34] Hinweis von Holger Bläß, Halle.

[35] Hinweis von Dr. Oren Baruch Stier, Miami (Florida).

[36] Hinweis von Jack Nortman, Naples (Florida).

[37] Hinweis von Simha Mochón, Mexico City (Mexiko).

[38] Bella Gutterman und Avner Shalev, Zeugnisse des Holocaust. Gedenken in Yad Vashem, Jerusalem (Israel) 2005, ohne Seitenangabe.

[39] Vgl. Oren Baruch Stier, Different Trains, S. 96–101.

[40] Volkhard Knigge, Buchenwald, in: Detlef Hoffmann, Gedächtnis der Dinge, S. 93–173 (154).

[41] Vgl. Oren Baruch Stier, Different Trains, S. 81, Einleitung (eigene Übersetzung).