Der deutsche »Viehwaggon« als symbolisches Objekt in KZ-Gedenkstätten

Teil 1
10/2007Gedenkstättenrundbrief 139, S. 18-31
Alfred Gottwaldt

Konzentration und Deportation vor der Vernichtung der Juden

In dem Gesamtprozess von Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden ist der Schritt der Deportation zwischen den Phasen der Kennzeichnung, der Ausplünderung, der Konzentration in Sammellagern und der Vernichtung als eigenes Element des Konzentrationsprozesses einzuordnen, wie Raul Hilberg schon 1961 analytisch skizziert hat.[1] Die Zahl von ungefähr drei Millionen Juden, welche während des Zweiten Weltkriegs mit Hilfe der Eisenbahn deportiert wurden, hat zuerst Wolfgang Scheffler errechnet, als er im Jahre 1973 bei einem Strafverfahren vor dem Düsseldorfer Schwurgericht gegen den vormaligen Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium als Sachverständiger konkrete Angaben zur Funktion der Reichsbahn beim Judenmord machen sollte.[2] Heute steht fest: »Ohne die Mitarbeit der Reichsbahn hätten die europäischen Juden so nicht vernichtet werden können.«[3]

Im Nürnberger DB-Museum ist dazu eine bemerkenswerte Ausstellungseinheit zu sehen, welche die Mitwirkung der Deutschen Reichsbahn an der Vernichtung der europäischen Juden zum Gegenstand hat. Daneben wird die Deutsche Bahn AG am 27. Januar 2008 in Berlin eine neue Wanderausstellung präsentieren, die sich mit der öffentlich wiederholt erörterten Beteiligung der Eisenbahn an der Shoah beschäftigt. In diesem Fall wird die Ermordung der Kinder eine zentrale Rolle spielen. Über die Schau wurde noch vor einem Jahr heftig debattiert: Im Januar 2007 war für die Dauer einer Woche auf dem Platz zwischen Kölner Dom und Kölner Hauptbahnhof ein Güterwagen aus dem Bestand des Eisenbahnmuseums Dieringhausen aufgestellt worden, um auf den damals ausgetragenen Streit zwischen einer internationalen Initiative um Beate und Serge Klarsfeld in Paris sowie der Deutschen Bahn aufmerksam zu machen. Ein Mitarbeiter des privaten Museums in der Nähe von Gummersbach wollte mit der Präsentation des gedeckten Güterwagens die Gruppe »11 000 Kinder« – benannt nach der Zahl der aus Frankreich deportierten jüdischen Kinder – sowie die regionale Gruppe »Die Bahn erinnern« demonstrativ unterstützen.

Üblicherweise wird der schlichte Güterwagen in technischen Museen als Beleg für die Holzbauart und für Aufgaben der Eisenbahn in Massenverkehren aller Art gezeigt. Nun war aber die vergangene ambivalente Funktion des alten Eisenbahnwagens besonders wichtig, weil darin seine Zwitterstellung deutlich wurde: Der Wagen diente gegenüber dem Publikum als Symbol oder gar als Illustration von Deportation und Holocaust, wie dies mit Hilfe ähnlicher Objekte seit Jahren in einer Reihe von Museen und Gedenkstätten geschieht. Dabei verkörperte das in Köln aufgestellte Eisenbahn-Objekt aus Dieringhausen ohne lesbare Wagennummer den Bauzustand von 1923. Dieser Tatbestand soll hier als Anlass dazu dienen, um die unterschiedlichen Beweggründe für die Präsentation von Güterwagen im musealen Umfeld zu hinterfragen und einen aktuellen Überblick solcher noch vorhandenen historischen Fahrzeuge zu geben. Inzwischen handelt es sich weltweit um mindestens 35 Fahrzeuge.[4]

Hintergrund der Diskussion wie der neuen, von der DB geplanten Ausstellung bildet die historische Tatsache, dass etwa die Hälfte der im Holocaust ermordeten Juden in Europa nicht in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnorte getötet, sondern zuvor über weite Strecken einmal oder sogar mehrfach deportiert wurde. Diese Menschen wurden zwischen Herbst 1941 und Frühjahr 1945 zunächst mit der Eisenbahn aus ihrer Heimat in den »Osten« des deutschen Machtbereichs verschleppt. Dort wurden die meisten von ihnen bald nach der Ankunft zu Erschießungsgruben oder Gaskammern geführt. Eine kleinere Zahl von als arbeitsfähig angesehenen Opfern musste vor dem Tod noch Zwangsarbeit leisten; wenige haben diese Tortur überlebt.[5]

Transporte zu den deutschen Haftanstalten und Lagern bildeten schon in der Zeit vor dem Krieg einen immanenten Bestandteil der Konzentration als einer Zusammenführung der definierten Gegner an bestimmten Orten, wo sie abseits der Öffentlichkeit »gebessert« oder physisch vernichtet werden sollten. Anfangs wurden für die Transporte zumeist die herkömmlichen Zellenwagen mit vergitterten Fenstern verwendet, in denen schon zuvor Strafgefangene transportiert worden waren.[6] Während des Krieges wählte Heinrich Himmler den Standort Auschwitz für ein zusätzliches Konzentrationslager auch wegen der guten eisenbahnlogistischen Verbindungen aus. Man kann von einer »Logistik des Holocaust« sprechen. Die Mordfabriken bezogen ihren »Rohstoff« auf der Schiene: Die anschließend gebauten Vernichtungslager von Belzec, Sobibor und Treblinka wurden, weil die Ermordung der polnischen Juden billig sein und schnell erfolgen sollte, ausnahmslos über schon vorhandenen Gleisanlagen errichtet. Im weiteren Verlauf des Krieges wurden eigene Anschlussbahnen bis in die Lager von Birkenau, Buchenwald, Neuengamme und Theresienstadt hinein angelegt, um die Masse der Transporte zu rationalisieren. Während sich in den »frühen Lagern« Dachau, Sachsenhausen oder Buchenwald das Tor mit dem Wachturm am Eingang noch über einer Straße öffnete, wurde das 1943 fertiggestellte Torgebäude von Birkenau mit der Hauptwache über einem Anschlussgleis der Eisenbahn errichtet. In der Forschung sind die Häftlingsströme zwischen den einzelnen Lagern kaum hinreichend analysiert. Nicht nur die jüdischen Arbeitshäftlinge, die der »Vernichtung durch Arbeit« unterworfen waren, haben für die Zeit ab 1943 von zahllosen Transporten aus einem Lager zum nächsten berichtet. Als Birkenau ab Herbst 1944 geräumt wurde, ließ die SS ihre letzten »arbeitsfähigen« Häftlinge wieder in westliche Richtung transportieren, zum Teil auch marschieren.

Die näheren Umstände der oftmals lange andauernden Transporte in überfüllten Waggons mit schlechter Verpflegung und trostlosen sanitären Bedingungen waren unvorstellbar. Manche Überlebenden haben den Verlauf ihrer Deportation bei Hitze oder Kälte mit dem Bild des »Viehwaggons« zu beschreiben versucht. Eine gewisse visuelle Vorstellung dessen, was im Sommer 1944 auf der Rampe des Vernichtungslagers in Auschwitz-Birkenau vorgegangen ist, wenn dort zum Beispiel ein Zug mit Juden aus Ungarn eintraf und diese »selektiert« wurden, vermitteln die von einem SS-Mann namens Bernhard Walter aufgenommenen Fotografien aus der Täterperspektive. Sie sind in dem bekannten »Album der Lili Jacob« enthalten, das sich seit 1980 in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem befindet.[7] Auf den ersten Bildern sind zwei endlos erscheinende Reihen gedeckter Güterwagen unterschiedlicher Bauarten zu erkennen, mit denen jeweils 60 bis 100 Menschen – in bestimmten Fällen noch erheblich mehr – pro Waggon deportiert wurden. Die Grundfläche des Wagens umfasste bei 8 m Länge und 3 m Breite nicht einmal ein Drittel dessen, was ein moderner Schnellzugwagen an Raum zu bieten hat. Das Wort »Transport« ist damit fast wie die Begriffe »Lager« oder »Durchführen« zu einer Vokabel im »Wörterbuch des Unmenschen« geworden.[8]

Inzwischen greifen viele Museen und Gedenkstätten dieses Thema metaphorisch mit Hilfe von Güterwagen auf, die sich der Zeit des Zweiten Weltkriegs zuordnen lassen. Die bekanntesten Beispiele dafür dürften Fahrzeuge im Deutschen Technikmuseum Berlin (1988), im United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington (1993) und in der Gedenkstätte Yad Vashem bei Jerusalem (1995) sein. Noch ist nicht abzusehen, dass diese Entwicklung mit den erst im Jahre 2007 aufgenommenen Fahrzeugen von Naples (Florida) und Mexico City zum Abschluss gekommen wäre.

Der Güterwagen als Beweisstück oder als Symbol

Als historische Tatsache bedarf die Ermordung der europäischen Juden keines Beweises. Dennoch gelten vielen Museen und Gedenkstätten ihre einzelnen Objekte auch als Belege für historische Sachverhalte oder werden aufbewahrt, weil sie einmal als »corpus delicti« für bestimmte Einzeltaten bedeutsam waren. Diese Institute können sich selbst entweder als dokumentierend-argumentative Häuser verstehen, bei denen die Gegenstände nach wissenschaftlichen Erkenntnissen geordnet sind und die Objekte als Anstöße für die historische Vorstellungskraft dienen. Oder sie treten, wie das USHMM, mit einer narrativ-erzählenden Präsentation vor ihr Publikum, bei der eine der Ausstellung vorangegangene chronologisch-semantische Entität die Anordnung der Objekte im Sinne einer Metabotschaft regelt.[9]

In manchen Gedenkstätten stehen Mahnung und Erinnerung eher im Vordergrund als die Dokumentation. Diesen Zwecken mögen auch Kunstwerke oder symbolische Bedeutungsträger dienen. Bei einzelnen Gegenständen wird die Grenze zur Dekoration erreicht oder überschritten. Mit Recht schrecken die meisten Ausstellungsmacher in Gedenkstätten und Museen davor zurück, so fürchterliche Dinge wie Trümmerteile eines Verbrennungsofens, einer Gaskammer oder ähnliches auszustellen. Schon so persönliche Gegenstände wie die Brillen oder die Schuhe der Ermordeten und menschliche Überreste wie Haare sind von den meisten Besuchern an anderen Plätzen als in Auschwitz kaum zu ertragen. Die Grenze dessen, was öffentlich noch gezeigt werden kann, wird mit den ergreifenden Modellen des polnischen Bildhauers Mieczyslaw Stobierski erreicht: Nachbildungen im verkleinerten Maßstab der Gaskammer und des Krematoriums II von Birkenau sind in der Gedenkstätte Auschwitz, im United States Holocaust Memorial Museum (Washington), in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem und im Deutschen Historischen Museum (Berlin) zu finden.[10] Eine brutale Botschaft transportieren auch die vielerorts in Gedenkstätten gezeigten Kipploren von schmalspurigen Förderbahnen, welche die Häftlinge bis zu ihrer völligen Erschöpfung schieben mussten. Das kaum Greifbare an der Realität der Lager, nämlich der Zwang, soll damit sichtbar gemacht werden. Nicht nur aus diesen Gründen bietet sich der »deutsche Güterwagen« als ein noch fassbares Objekt an, um die menschenverachtende Politik Hitlers und seiner Gefolgsleute mit Hilfe konkreter dreidimensionaler Artefakte zu verdeutlichen.

Mit Recht? Für die ersten Deportationen der deutschen, österreichischen und tschechischen Juden in den Jahren 1941/42 nach Litzmannstadt, Minsk, Kowno, Riga, in den Distrikt Lublin sowie nach Theresienstadt setzte die Reichsbahn regelmäßig Personenwagen ein, weil es ihr an Güterwagen fehlte. Teilweise sollte gegenüber Beobachtern der Transporte auch eine Täuschung aufrechterhalten werden, die Deportierten würden zum Arbeitseinsatz gebracht. Dagegen wurden seit dem Frühjahr 1942 die Massentransporte mit Juden innerhalb des »Generalgouvernements« zu den Mordstätten von Belzec, Sobibor und Treblinka sowie die Deportationen aus den übrigen besetzten Gebieten Europas von Frankreich bis Griechenland nach Auschwitz fast ausnahmslos mit geschlossenen Güterwagen durchgeführt, welche die Deutsche Reichsbahn aus ihrem Bestand und den einzelnen Ländern zusammengeklaubt hatte.

Der deutsche Güterwagen besagter Bauart, in dem die Juden aus ihrer Heimat zu den Ghettos und Vernichtungslager des »Ostens« transportiert wurden, kann konkret nichts mehr beweisen, und doch ist er durch zahlreiche Filme in den vergangenen zwanzig Jahren zu einem Symbol für den Judenmord geworden. Schon in Claude Lanzmanns monumentalem Dokumentarfilm »Shoah« aus dem Jahre 1985 spielten die Eisenbahner, die Züge und die Güterwagen eine dominierende Rolle.[11] Ob sodann in Steven Spielbergs Film »Schindlers Liste« (1993), in der israelisch-französisch-belgisch-niederländischen Tragikomödie »Zug des Lebens« von Radu Mihaileanu (1998), zuletzt auch in Artur Brauners Spielfilm »Der letzte Zug« (2006): Das Bild der gewaltsamen Deportation in einem deutschen Güterwagen wird allgemein als Bedeutungsträger – sozusagen: als Ikone – für den Judenmord verstanden, zumindest aber als unmittelbare Vorstufe angesehen.[12]

In der Sendefolge »Jerusalem oder die Reise in den Tod« der Fernseh-Krimiserie »Rosa Roth« wurde 1998 eine Zugfahrt von Güterwagen – aus dem Besitz mehrerer norddeutscher Eisenbahnmuseen – gezeigt, als es für die Handlung um den erinnernden Rückblick auf die Mitwirkung älterer Eisenbahner an der Deportation der Juden ging.[13] Die Qualität des Streifens ist hier nicht zu erörtern. In dem Film wurde aber auch ein bereits seit 1995 in Jerusalem musealisiertes Fahrzeug der Reichsbahn gezeigt, das unten noch zu besprechen sein wird, und auf dem die Idee zum Drehbuch überhaupt beruhte: Als einer der beiden Männer, die Israel mit ihrer Gruppe von deutschen Rentnern besuchen, »in Jad Waschem einen dort ausgestellten Güterwaggon sieht, mit dem die Juden wie Vieh in die Lager transportiert wurden, bricht er seelisch zusammen.«[14]

Die Güterwagen sind damit zu einer international verbreiteten Ikone eigener Art geworden, wie es das Tor zum Stammlager Auschwitz mit dem Schriftzug »Arbeit macht frei« ist.[15] Auch die Rampe von Birkenau zwischen den beiden Lagerteilen bildet einen solchen Bedeutungsträger. In Birkenau ist zudem für das Torgebäude seit vielen Jahren eine »Transformation zum Symbol« (Ute Wrocklage) zu beobachten.[16]

Authentizität und aktuelle Aufgaben eines Güterwagens

Güterwagen sind aus mancherlei Gründen populär; sie gelten als vielgesuchte »authentische« Objekte. Selbst wenn hier vorrangig von symbolischen Gegenständen die Rede ist, muss also die Frage nach der Authentizität der Objekte gestellt werden.[17] Es versteht sich von allein, dass für diese Zwecke aus Gründen der Glaubwürdigkeit nur Wagen mit Baujahren vor 1945 in Betracht kommen. Andererseits ist zu fragen, ob es unbedingt ein Wagen deutscher Bauart sein muss, da die Reichsbahn während des Krieges auch Wagen aus vielen fremden Ländern verwendete. Gerade in Frankreich – z. B. in Drancy oder im Bahnhof von Compiègne – wurden in Mahnmalen dezidiert französische Wagentypen verwendet, um das Thema der französischen Kollaboration mit Nazi-Deutschland gleichfalls zum Gegenstand der Präsentation zu machen.

Schon bei der Aufstellung des ersten Güterwagens im Berliner Museum für Verkehr und Technik war 1988 die nach dem Krieg entstandene Beschriftung des Fahrzeugs gelöscht worden, um mit einer solchen Anonymisierung die Frage von vornherein zu vermeiden, ob dieses konkrete Fahrzeug vor 1945 »gewiss oder gewiss nicht« zur Deportation von Juden eingesetzt worden war. Bei dem im United States Holocaust Memorial Museum (Washington) seit 1993 ausgestellten Güterwagen wurde die Frage nach der Authentizität des Objekts im Vorfeld noch ausführlicher erörtert. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter trieben weitgehende Studien, um eine schriftliche Versicherung der »kommunistischen Regierung« nachzuprüfen, dass der 1989 aus Polen zur Verfügung gestellte Wagen tatsächlich zum Transport von Juden aus Warschau nach Treblinka benutzt worden sei. Dazu traten sie mit deutschen Museumsleuten in Kontakt, um sich Gewissheit über Fahrplananordnungen, Umlaufpläne und Wagenzettel aus den Jahren 1942 und 1943 zu verschaffen. Weil aber die Nachforschungen keinerlei konkrete Angaben bezüglich der am Fahrzeug ermittelten alten Wagennummer »Karlsruhe 31 599« ergaben, bestand der amerikanische Autor des Objekttextes von 1992/93 auf der allgemeineren Formulierung »Güterwagen der Art, wie sie zu Judentransporten benutzt wurden« anstelle der ursprünglich gedachten Angabe, »dieser Wagen wurde für Deportationen benutzt.«[18] Bei dem gleichartigen Fahrzeug in Jerusalem wird als Erklärung hingegen der lapidare Satz verwendet: »Das Denkmal zur Erinnerung an die Deportierten. Yad Vashem erhielt von der polnischen Regierung einen Original-Transportwaggon der deutschen Reichsbahn, der jüdische Menschen aus vielen Ländern Europas wie Frachtgut in die Vernichtungslager gebracht hatte.«[19]

Neben dem Wagen in Washington sind »echte Koffer« von Deportierten ausgelegt, die nach Auschwitz kamen. Manche Besucher wollten den Güterwagen voller Scheu auf keinen Fall betreten, wenn er wirklich jemals für den Transport von Juden gebraucht worden wäre. Dagegen hielten andere Gäste das Objekt nur für näherer Betrachtung würdig, wenn seine Verwendung für einen konkreten »Judentransport« exakt zu belegen wäre. Solche Beweise sind aber weder durch die wenigen überlieferten Fotografien aus dem Krieg noch durch die kaum erhaltenen Wagenzettel der Reichsbahn zu führen. Belegt in den Archiven sind heute allein fünfzig bis einhundert bestimmte Wagennummern aus der gesamten Kriegszeit; vielleicht mögen es auf den Bildern und Wagenzetteln insgesamt auch zweihundert sein. Dagegen wurden für den Transport von drei Millionen Menschen in die Ghettos und Lager – nur grob geschätzt – ungefähr 30 000 Fahrzeuge verwendet; tatsächlich wohl erheblich weniger. Man könnte also rechnen, dass ungefähr jeder zehnte oder jeder zwanzigste gedeckte Güterwagen in Mitteleuropa für solche Transporte benutzt wurde. Doch Zahlenspielereien dieser Art sind nicht unproblematisch. Zugleich ist zu bedenken, dass sechzig Jahre nach Kriegsende doch nur sehr wenige dieser Wagen überhaupt noch vorhanden sind.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass für die heute noch sichtbaren Fahrzeuge kaum Möglichkeiten eines Nachweises ihrer Verwendung für KZ-Transporte bestehen. Das bedeutet umgekehrt, dass auch der Nachweis nicht zu führen ist, ein bestimmter Waggon sei auf keinen Fall für »Judentransporte« benutzt worden.

Gelegentlich beherrscht die vielschichtige Frage nach der »Authentizität« allein die Entscheidung über den Erwerb eines Wagens. So schien im Sommer 2006 das britische National Railway Museum in York daran interessiert, einen entsprechenden Wagen in seine Sammlung aufzunehmen. Den Vorschlag dazu hatte Rudi Leavor gemacht, der Deutschland im Jahre 1939 mit einem »Kindertransport« nach England verlassen hatte und große Teile seiner Berliner Familie im Holocaust verlor. Die Museumsleitung in York konnte sich aber zur Anschaffung nicht entschließen, nachdem sie erkannt hatte, dass für keinen einzigen der in Aussicht genommenen Wagen heute noch ein »Beweis der Authentizität« seiner Verwendung für einen historischen »Judentransport« möglich ist. Dagegen kam für die englische Kollektion ein ganz gewöhnlicher deutscher Güterwagen der Kriegszeit, der lediglich als Symbol für die Rolle der Reichsbahn im Holocaust gewirkt hätte, nicht in Betracht.[20]

Mehrdeutige deutsche Güterwagen in deutschen Museen

Das Tor zum Lager Birkenau wurde über einem Gleis errichtet, das täglich von Zügen der Reichsbahn mit dem Ziel »Anschlussgleis der Waffen-SS« befahren werden sollte. Nach den »Statistischen Angaben über die Deutsche Reichsbahn« hat die staatliche Bahnverwaltung schon im Jahre 1940 nahezu 250 000 gedeckte Güterwagen unterschiedlicher Bauarten in ihrem eigenen Fahrzeugbestand besessen, Tendenz steigend.[21] Der Wagentyp war durch seine Konstruktion als bedeckter Raum zum Transport von nässeempfindlichen Frachten wie Stückgut und anderen verpackten Gütern (Kisten, Geräten), von Expressgut, Post und auch von Leichen in speziell dafür geeigneten Särgen gedacht, ferner für Tiere und für Massengüter in Säcken oder sogar in loser Schüttung. Eisenbahner und Eisenbahnfreunde lehnen deshalb die Bezeichnung »Viehwaggon« als einseitig ab. Ein erheblicher Teil der Wagen war mit hölzernen Sitzgestellen dazu eingerichtet, Militärtransporte zu befördern. Gebaut von zahlreichen Waggonfabriken in den langen Jahren zwischen ungefähr 1890 und 1945, wurden auch älteste Exemplare bis in den Zweiten Weltkrieg hinein verwendet. Durch die bewegte Geschichte Mitteleuropas blieben viele dieser Fahrzeuge erheblich länger als die ursprünglich für sie geplanten drei bis vier Jahrzehnte im Einsatz. Viele von ihnen wurden noch bis in die sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein verwendet. Das Holz wurde seitens der Bahnen in regelmäßigen Abständen erneuert, doch fehlen verlässliche Aufzeichnungen darüber. Dann schieden sie durch Ausmusterung und Umbau allmählich aus dem Bestand der Eisenbahnen.

Um das Jahr 1985 begannen die ersten technischen Museen damit, solche Objekte in ihre Sammlungen aufzunehmen. Zur gleichen Zeit öffneten sich diese Institute auch gegenüber der politischen Geschichte des Landes: »Ein technisches Museum kann die Orientierung auf Meisterwerke der Technik haben oder versuchen, die Technik in die allgemeine Kulturgeschichte einzubinden. In dem ersten Falle wird er den kaputten und völlig verdreckten Eisenbahnwaggon vielleicht reinigen und restaurieren, in dem anderen Falle wird es ihn unverändert lassen, um seinen Einsatz für den Horror der KZ-Transporte darstellen zu können.«[22] Während der Fahrzeugparade zum Jubiläum »150 Jahre Eisenbahn in Deutschland«, die im Sommer 1985 in Nürnberg stattfand, wurden Güterwagen in ihrer Funktion als reine Transportmittel gezeigt.[23] Im selben Jahr brachte aber die Eisenbahn-Jubiläumsausstellung »Zug der Zeit – Zeit der Züge« in Nürnberg noch ein anderes Thema auf die Tagesordnung. Das titelstiftende monumentale Panorama-Gemälde eines »Zuges der Erinnerung« wurde von Jürgen Schmid für die durch Kulturdezernent Hermann Glaser und die Stadt Nürnberg geplante Ausstellung gestaltet. Es umfasste neben Elementen eines königlichen Hofwagens, Teilen des Waffenstillstandswagens von Compiègne und vielen weiteren Stücken auch die Sektion einer Güterwagenwand mit vergitterter Ladeluke und menschlichen Gesichtern hinter dem Stacheldraht, wie sie durch eine weltbekannte Fotografie damals schon längst zur Ikone geworden war.[24]

Heute haben zahlreiche deutsche Eisenbahnvereine solche Wagen in ihren Beständen, weil dieser Typ allein als ein massenhaft vorhanden gewesenes Eisenbahnfahrzeug erinnerungswürdig ist. Wagen, die vor 1945 gebaut wurden, sind im rollenden Bestand der Bahn draußen auf der Strecke nicht mehr zu finden. Ihre Abschreibungsfrist ist längst abgelaufen, ihre schmalen Schiebetüren machten den Einsatz moderner Lademittel schwierig. Die letzten noch vorhanden Wagen dieser Art verschwanden mit der »Bahnreform« und der Vereinigung der beiden deutschen Bahnen im Jahre 1994. Aber noch heute erreichen die Zentrale der Deutschen Bahn sowie die wichtigsten deutschen Eisenbahnmuseen regelmäßig Anfragen, wo denn geeignete »Güterwagen des Holocaust« zu finden seien. Die Deutsche Bahn AG kann daher Interessenten, welche jetzt einen Wagen dieser Bauart suchen, nicht mehr aktiv mit Standortmeldungen unterstützen, bemüht sich aber, zumindest durch ein gewisses Sponsoring zu helfen, wenn ein bestimmtes Fahrzeug gefunden ist.[25]

In Einzelfällen sind sie aber als Bauzug- und Bahndienstwagen oder bei industriellen Eigentümern noch vorhanden. Dazu gibt es freilich keine fest gefügte Kartei der älteren Bauwagen und Bahndienstwagen, sondern immer wieder nur zufällige Funde abseits des Schienenstrangs.[26] Zuletzt erreichte das Deutsche Technikmuseum Berlin im Juni 2007 die Anfrage eines Landesdenkmalamts: »Das Landratsamt Fr. wurde durch die Gemeindeverwaltung H. auf einen abgestellten Güterwagen aufmerksam gemacht, an dessen Stirnseite sich ein Davidstern befindet. Bitte prüfen Sie, ob dieser Wagen möglicherweise zur Deportation jüdischer Bürger genutzt worden sein könnte oder ob es hierfür keine Hinweise gibt.«[27]

Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass die angesprochene Markierung in Form des Davidsterns aus Nägeln bestand, die von unbekannter Hand eher in jüngerer Zeit angebracht worden waren. Selbst dieser Frevel ist ein Beleg für die Ikonisierung der Güterwagen.

Nur in seltenen Fällen wäre ein potentieller Käufer heutzutage noch in der Lage, für seine Zwecke beliebig zwischen mehreren, unterschiedlich gut erhaltenen Objekten auszuwählen. Manchmal bereitete freilich der relativ gute Allgemeinzustand eines solchen Wagens auch Schwierigkeiten: Als die brandenburgische KZ-Gedenkstätte Ravensbrück im Sommer 2004 auch auf dem Gelände der DB-Werkstätte Rostock nach einem Wagen suchte, wurde ihr der dort am besten erhaltene und für die Ausstellung gut geeignete Güterwagen deutscher Bauart mit der Begründung vorenthalten, dieses Objekt sei für den Umbau zum »Partywagen« der örtlichen Eisenbahner-Freizeitgruppe reserviert.[28]

Für die Aufbewahrung solcher Güterwagen bei den deutschen Eisenbahnmuseen mag hier ein Beispiel genügen. Im Bestand der Museums-Eisenbahn Minden (Westfalen) befindet sich ein gedeckter Güterwagen der Gattung »Gm« für 15 t Ladegewicht mit der Nummer »Kattowitz 8728«, der die Beschriftung »M. T. 48 M.« (Militärtransporte: 48 Mann) und »6 Pf.« (6 Pferde) aufweist. Bei Verwendung für Transporte der Wehrmacht wurden zumeist mobile Sitzbänke und Tische eingesetzt, während für das Anbinden von Pferden und anderem Großvieh innen an den Seitenwänden entsprechende Ösen vorhanden waren.[29]

In diesen Sammlungen wird kaum auf die historische Funktion der Güterwagen in Krieg, Zwangsarbeit und Völkermord hingewiesen. Dennoch ergeben sich wegen dieser Güterwagen bei deutschen Eisenbahnklubs sporadisch Berührungspunkte mit einer Gruppe, die allein am Einsatz dieser Wagen im Zweiten Weltkrieg Interesse zeigt: Immer dann, wenn in jüngerer Zeit noch Spielfilme oder Dokumentarfilme zum Thema gedreht wurden, tauchten solche Wagen auf dem Bildschirm auf.

Gelegentlich sind lokale Eisenbahnmuseen auf Anfrage bereit, sich von einem unauffälligen und weniger wertvollen Sammlungsgegenstand dieser Art zu trennen. Oft muss man den Zustand eines solchen Objekts vor der Übernahme bedenken: Was vor sechzig Jahren benutzbar war, stand später für lange Zeit »auf dem Rand« eines Abstellgleises und verrostete allmählich, ist demnach heute allenfalls noch als Schrott zu bezeichnen. Die Anfragenden nach einem solchen Güterwagen haben zumeist keine Vorstellung davon, welche Kosten nicht nur mit dem Erwerb, sondern vor allem mit dem Transport eines alten Eisenbahnwagens quer durch Europa oder nach Übersee und zuletzt mit seiner Aufarbeitung verbunden sind.

In den meisten Gedenkstätten und Holocaust-Museen scheinen zudem die Grundzüge moderner Objekterhaltung weitgehend unbekannt zu sein. Die unter den technischen Museen durchkämpften Debatten über Restaurierung oder Konservierung wären dort erst noch zu führen. Dafür nur einige Beispiele: Bei dem seit 1998 im Eisenbahnmuseum von Dieringhausen aufbewahrten Wagen, der um 1923 für die Bahnen der Tschechoslowakischen Republik gebaut und von 1945 bis 1987 bei mehreren deutschen Bahnen eingesetzt war, wie bei dem ehemals französischen Wagen in Ravensbrück sind die eisernen Fachwerkteile des Aufbaus bei der Restaurierung dekorativ, aber unzutreffend in schwarzer Farbe gefasst worden, obwohl sie früher immer in rotbraunem Ton angestrichen waren. In anderen Fällen sind die Schriften der Wagenbezeichnung bezüglich Type und Größe mangelhaft getroffen, was der Glaubwürdigkeit des Objekts abträglich ist.

Obwohl nahezu sämtliche bis 1945 gebauten Varianten des kurzen gedeckten Güterwagens zu »Judentransporten« verwendet wurden, suchten die Gedenkstätten stets nur einen ganz bestimmten Typ preußisch-deutscher Bauart mit flachem Dach, wie er ungefähr noch bis zum Jahre 1930 produziert wurde. Besonders begehrt war die Variante mit einem an der Stirnseite erhöht vorhandenen Bremserhaus. Der ursprünglich zum Bedienen der Bremse durch dafür eingeteilte Männer vorgesehene kleine Anbau war seit ungefähr 1930 weitgehend ohne Funktion; doch Berichte der wenigen Überlebenden und Zeugen belegen, dass auf diesem erhöhten Sitz zumeist bewaffnete Wachleute gesessen und auf Flüchtige aus den Zügen geschossen haben. Jüngere, schon ab 1920 erbaute Wagen mit hochgewölbtem Dach werden in Gedenkstätten kaum gezeigt. Diese Fixierung auf das Bild eines bestimmten Wagentyps war abermals dem »Album von Lili Jacob« geschuldet und änderte sich erst, als die betreffenden Fahrzeuge erheblich seltener geworden waren.

Die Aufstellung von deutschen Güterwagen in technischen Museen mag zumeist als wertneutral erscheinen. Es ist überraschend festzustellen, mit welchen recht unterschiedlichen Bezügen die gedeckten Güterwagen aber auch in Gedenkstätten, Museen und an anderen Orten ausgestellt werden: Sie dienen als illustrierende Objekte zum Holocaust, zum Konzentrationslagersystem »unserer nationalsozialistischen Periode« (Hans Mommsen) und auch zur Zwangsarbeit. Mitunter ist vordringlich die Funktion eines massiven Güterwagens als Blickfang gefragt. Bevor das Deutsche Historische Museum in Berlin im Januar 2002, genau sechzig Jahre nach der Wannsee-Konferenz in der Reichshauptstadt, seine Ausstellung über den »Holocaust und die Motive seiner Erinnerung« eröffnete, hatte der zuständige Kurator den Plan formuliert, auf der Straße Unter den Linden einen solchen Güterwagen als eine Art von Stolperstein zu zeigen. Zu Zeiten der DDR waren auf dem Boulevard immer wieder Paraden von Schienenfahrzeugen aus sozialistischer Produktion abgehalten worden. Im Jahre 2001 hingegen weigerte sich die Bezirksverwaltung Berlin-Mitte wegen der repräsentativen Funktion dieser Straße, einem der bedeutendsten deutschen die Museen die zum Aufstellen des Güterwagens erforderliche Genehmigung zu erteilen.[30]

Damit ist unübersehbar, dass diesen Objekten in Holocaust-Gedenkstätten und Museen eine bestimmte symbolische Rolle beigelegt wird, doch finden sich daneben durchaus noch andere Konnotationen. So wurde am Jahresende 2002 im »Hessenpark«, dem Freilichtmuseum bei Neu-Anspach im Hochtaunuskreis, ein gedeckter deutscher Güterwagen mit der plausiblen Nummer »Karlsruhe 33 416« äußerlich wiederhergestellt und teilweise in eine dorthin verpflanzte alte Scheune eingebaut. Das abgedunkelte Gefährt wurde im angenommenen Zustand von 1945 mit zusätzlichen Türen und innen sogar mit doppelten Wänden zur Aufnahme von Video-Flachbildschirmen versehen, um dort als Objekt aber die Dauerausstellung »Vertriebene in Hessen« zu illustrieren.[31] Die Idee hatte der Historiker Rolf Messerschmidt entwickelt. Zuvor hatte das Objekt mit der Bundesbahn-Nummer »945 3747-6« als Lagerschuppen am Bahnhof Frankfurt-Süd gestanden.[32] Es heißt, das Fahrzeug sei 1945/46 nachweislich in einem Vertriebenentransport gelaufen. Der zugehörige Katalog enthält entsprechende Fotografien; auch dies deutlicher Ausdruck einer »Ambivalenz« des Transportmittels. Dennoch ist man wohl der Versuchung erlegen, ein zuvor schon weitgehend zum Träger einer bestimmten Bedeutung gewordenes Objekt nun bewusst als Ikone einer anderen Botschaft zu verwenden: Auf solche Weise wird eher die »Selbst-Viktimisierung der Deutschen« (Andreas Nachama) als die Erinnerung befördert.

Künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Güterwagen

Sieht man den Güterwagen als ein geeignetes Symbol von Holocaust und Deportation an, so liegt der Gedanke nicht fern, diesen Gegenstand auch künstlerischer Interpretation zu unterziehen. Damit sollen nicht Bearbeitungen vorhandener alter Eisenbahnwagen durch bildende Künstler gemeint sein, sondern solche Plastiken, die den Waggon in der künstlerischen Arbeit als einen Reflex seiner selbst darstellen. Der erste Vorschlag eines solchen Zitats war für Birkenau gedacht: Nachdem im Jahre 1955 zum zehnten Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am nördlichen Ende der Bahngleise ein provisorisches Denkmal in Form einer Urne errichtet wurde, lobte man im folgenden Jahr einen internationalen Wettbewerb für ein Denkmal in Auschwitz-Birkenau aus. Daraufhin schlug 1957 der spanische Bildhauer Julio Lafuente mit seinen italienischen Kollegen Pietro und Andrea Cascella vor, dort einen Zug von 23 durch Stacheldraht verbundenen »Steinwaggons« aufzustellen. Sie sollten die 23 »Völker der Opfer« symbolisieren. Doch erst im April 1967 wurde in Birkenau ein Denkmal fertiggestellt, das in abstrakter Form an die dort verübten Verbrechen erinnert.

Die Ästhetik des hölzernen zweiachsigen Güterwagens ist, hier einmal ganz formal betrachtet, als ein Design der vorvergangenen Jahrhundertwende zu betrachten. Solche Objekte wurden während des Zweiten Weltkriegs zwar noch massenhaft verwendet, doch ihre Konstruktion galt bereits als veraltet. Der unkomplizierte Aufbau dieser Wagen aus genieteten Metallprofilen und gehobelten Brettern lag schon um 1890/1900 weitgehend fest und war seitdem kaum noch weiterentwickelt worden. Stahlmangel hielt die Reichsbahn davon ab, den Bau eiserner Wagen zu fördern.

Die funktionale Ästhetik der Zeit des »Dritten Reiches« war aber zweifellos eine andere und wurde durch den geschweißten Ganzstahlwagen repräsentiert. Nur in einem ganz besonderen Fall – nämlich bereits im Jahre 1963 bei dem nicht zur Ausführung gedachten Entwurf der Serie »Transformationen« zu einem »Denkmal für die Opfer der Judenverfolgung« des jungen Architekten Hans Hollein – stand dieser formalistische Aspekt bei einer Projektzeichnung im Vordergrund. Dabei erhob der Wiener Künstler die zehnfach ins Gigantische vergrößerte, an einen Sarg oder Grabstein erinnernde Konstruktion des fensterlosen vierachsigen Massenguttransportwagens der dreißiger und vierziger Jahre aus abgekanteten Stahlblechen zum Zentrum der Darstellung. Hollein hat auch einen Flugzeugträger oder eine Zündkerze als Skulpturen in der Landschaft skizziert. Die Blätter befinden sich im Museum of Modern Art in New York (USA).[33]

Dagegen wurde am 14. November 1988 in Berlin-Tiergarten auf dem Gelände der früheren, ab Oktober 1941 als Sammellager zur Deportation benutzten Synagoge in der Levetzowstraße 7–8 ein Denkmal der Bildhauer Peter Herbrich, Jürgen Wenzel und Theseus Bappert seiner Bestimmung übergeben, bei dem ein abstrakter kleiner Güterwagen auf Gleisen durch einen Kasten aus Cortenstahl dargestellt ist. In seinem Innern sind zusammengeschnürte »Menschenbündel« durch Marmorblöcke künstlerisch angedeutet.[34]

Als die Deutsche Bahn AG im Jahre 1995 am Bahnhof Berlin-Grunewald ihr Projekt eines zentralen Mahnmals für die Mitwirkung der Reichsbahn an der Vernichtung der europäischen Juden in Angriff nahm, sah man bald von der damals auch vorgeschlagenen Aufstellung eines Güterwagens »ohne künstlerische Interpretation« ab.[35] Dort hingegen wurde ein völlig anderes künstlerisches Konzept verwirklicht, dessen Kennzeichen fast zweihundert an den alten Bahnsteigkanten eingelassene Eisenplatten mit den wichtigsten Daten sämtlicher Berliner »Judentransporte« sind. Heute wissen wir, dass die Züge und Wagen seit Mitte 1942 mehrheitlich von anderen Bahnhöfen der Stadt abgingen.

In acht Ländern werden Güterwagen von Museen und Gedenkstätten als Symbole für den Judenmord verwendet. Der zweite Teil des Beitrags, der im nächsten GedenkstättenRundbrief erscheint, wird die 35 einzelnen Fahrzeuge vorstellen.

Alfred Gottwaldt ist seit 1983 Leiter der Abteilung Schienenverkehr im Deutschen Technikmuseum Berlin. Er bereitet eine um fassende Untersuchung zur Funktion der Deutschen Reichsbahn bei der Vernichtung der europäischen Juden vor.
 

[1] Vgl. Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews, London (England) 1961; deutsche Ausgabe unter dem Titel Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin (West) 1982, S. 53, 64, 116, 197, 278 und 585; vgl. jüngstens unter dem Titel »Die Vernichtung der europäischen Juden« (Ausgabe in 3 Bänden), Frankfurt am Main 1990.

[2] Vgl. Wolfgang Scheffler, Judenverfolgung im Dritten Reich 1933 bis 1945, Frankfurt am Main 1965.

[3] Vgl. Herbert Hötte, Der Waggon und die Technikfaszination des Mannes, in: Museumspädagogischer Dienst der Kulturbehörde Hamburg (Hrsg.), Männersache. Bilder, Welten, Objekte (Ausstellungskatalog), Reinbek und Hamburg 1987, S. 24–41; vgl. Raul Hilberg, Sonderzüge nach Auschwitz, Mainz 1981.

[4] Vgl. Alfred Gottwaldt, Der deutsche Güterwagen: Eine Ikone für den Judenmord?, in: Museums-Journal, Ausgabe I/1999, S. 14–17.

[5] Vgl. Alfred Gottwaldt und Diana Schulle, Die »Judendeportationen« aus dem Deutschen Reich 1941–1945. Eine kommentierte Chronologie, Wiesbaden 2005.

[6] Vgl. Horst-Werner Dumjahn (Hrsg.), Kursbuch für die Gefangenenwagen, gültig vom 6. Oktober 1941 an, fotomechanischer Nachdruck Mainz 1979.

[7] Vgl. jüngstens Israel Gutmann und Bella Gutterman (Hrsg. im Auftrag der Gedenkstätte Yad Vashem), Das Auschwitz Album. Die Geschichte eines Transports, Jerusalem (Israel) und Göttingen 2005.

[8] Vgl. Adolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, 2. Auflage Hamburg 1957, S. 63 und S. 29.

[9] Vgl. Volkhard Knigge, Gedenkstätten und Museen, in: Volkhard Knigge und Norbert Frei (Hrsg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 398–409.

[10] Vgl. Burkhard Asmuss (Hrsg. im Auftrag des Deutschen Historischen Museums), Holocaust. Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung (Ausstellungskatalog), Berlin 2002, S. 203–204.

[11] Vgl. den Abdruck sämtlicher Texte bei Claude Lanzmann, Shoah, Düsseldorf 1986, S. 43–66.

[12] Vgl. Bernd Philipp und Renate Wiechmann, Der letzte Zug. Roman zum Film, Berlin 2006.

[13] Die Sendefolge »Jerusalem oder die Reise in den Tod« aus der Fernseh-Krimiserie Rosa Roth nach dem Drehbuch von Lothar Schöne wurde mit der Hauptdarstellerin Iris Berben als Kriminalkommissarin in der Regie von Carlo Rola produziert und im Programm des Zweiten Deutschen Fernsehens am 12. Dezember 1998 ausgestrahlt.

[14] Nikolaus von Festenberg, Fernsehen. Huld und Sühne, in: Der Spiegel, Hamburg, Ausgabe 50/1998, S. 244.

[15] Vgl. Ines Rensinghoff, Auschwitz-Stammlager – das Tor »Arbeit macht frei«, in: Detlef Hoffmann (Hrsg.), Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945–1995 (Wissenschaftliche Reihe des Fritz-Bauer-Instituts, Band 4), Frankfurt am Main 1998, S. 240–265.

[16] Vgl. Ute Wrocklage, Auschwitz-Birkenau – Die Rampe, in: D. Hoffmann, Gedächtnis der Dinge, S. 278–309.

[17] Vgl. Tim Cole, Selling the Holocaust – From Auschwitz to Schindler. How History is bought, packed and sold, New York (USA) 1999, S. 165.

[18] Vgl. Jeshajahu Weinberg und Rina Elieli (Hrsg. im Auftrag des United States Holocaust Memorial Museum), The Holocaust Museum in Washington, New York (USA) 1995, nach S. 72 (unpaginiert) und S. 153.

[19] Yad Vashem (Hrsg.), Besucher-Informationen (deutsch), Jerusalem (Israel) 2007, Position Nr. 16.

[20] Hinweis von Rudi Leavor, Bradford (England).

[21] Vgl. Deutsche Reichsbahn (Hrsg.), Statistische Angaben über die Deutsche Reichsbahn im Geschäftsjahr 1940 (1. Januar bis 31. Dezember 1940), Berlin 1941, S. 286.

[22] Hans-H. Clemens und Christof Wolters, Sammeln, Erforschen, Bewahren und Vermitteln. Das Sammlungsmanagement auf dem Weg vom Papier zum Computer, in: Institut für Museumskunde (Hrsg.): Mitteilungen und Berichte, Nr. 6/1996, S. 15.

[23] Vgl. Eisenbahn-Kurier Verlag (Hrsg.), Parade-Express. Epochenstreifzug vom »Adler« zum Intercity, Freiburg 1985.

[24] Vgl. Ulrich Langner und Karl-Heinz Rohmer (Hrsg.), Zug der Zeit – Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1833–1985 (Das offizielle Werk zur gleichnamigen Ausstellung unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Richard von Weizsäcker), Berlin (West) 1985, S. 672–701.

[25] Hinweis von Frau Dr. Susanne Kill, Berlin.

[26] Vgl. www.eisenbahndienstfahrzeuge.de/bahnhofswg/gw/bahnhofswgexgw.htm, benutzt am 4. 7. 2007.

[27] Hinweis von Frau Ditte Koch, Sächsisches Landesamt für Denkmalpflege Dresden.

[28] Hinweis von Frau Professor Dr. Sigrid Jacobeit, Fürstenberg (Havel).

[29] Vgl. Gottfried Köhler und Hans Menzel, Güterwagen-Handbuch, Berlin (Ost) 1966, S. 60–85.

[30] Hinweis von Dr. Burkhard Asmuss, Berlin.

[31] Hinweise von Ulrich Feldhaus, Duisburg, und von Dr. Axel Lindloff, Neu-Anspach.

[32] Vgl. Rolf Messerschmidt, Vertriebene in Hessen. Broschüre zur Dauerausstellung, Neu-Anspach 2003, S. 12.

[33] Matilda McQuaid und Terence Riley, Visionen und Utopien. Architekturzeichnungen aus dem Museum of Modern Art, München 2003, S. 136–139.

[34] Vgl. Stefanie Endlich und Bernd Wurlitzer, Skulpturen und Denkmäler in Berlin, Berlin 1999, S. 158.

[35] Hinweis von Professor Günter Gottmann, Berlin.