Der Hesse

07/2023Gedenkstättenrundbrief 210, S. 23-24
Christoph Heubner

Jene Zeiten waren persönliche Zeiten. Zeiten, in denen man nah beieinander hockte und sich das Persönliche, Bekenntnishafte mit dem Politischen um einen herum zu dem verband, was man als Haltung vor sich her trug und gemeinsam mit den anderen zelebrierte. Thomas Lutz kam 1984 zu Aktion Sühnezeichen, ich weiß nicht mehr, wo ich ihn zuerst gesehen habe, aber ich wusste, da kommt ein Hesse und das empfahl ihn. Dass er zudem aus Laubach stammte, galt damals bei Sühnezeichen und dort besonders im sogenannten Polen-Referat als Empfehlung, war doch die Aktion Sühnezeichen seit längerem mit der Paul-Gerhardt Schule, an der Thomas Lutz sein Abitur gemacht hatte, eng verbunden. Die Schule führte seit 1969 Fahrten nach Polen und in die Gedenkstätte Auschwitz durch, die von Pädagogen wie Dr. Rüdiger Mack, Kurt Senne und Reinhold Wolff begleitet wurden. Auch für diese Fahrten galt das eingangs formulierte: Die Schule und die Familien der Pädagogen waren im weitesten Sinne involviert, es war eine Bewegung, die über die alten Muster einer Klassenfahrt weit hinausging und die Paul-Gerhardt -Schule im kirchlichen Raum deutlich links positionierte. Durch diese Fahrten entstanden zahlreiche Freundschaften innerhalb der Sühnezeichen-Gemeinde und auch nach Polen hinein. Die bedeutendste von ihnen ist wohl die zu Tadeusz Szymański gewesen, der als Kustos in der Gedenkstätte Auschwitz und als ehemaliger Häftling über die Kontakte der Gedenkstätte zu den Gruppen der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste wachte. Seine Verbindungen nach Laubach waren legendär und ich erinnere mich gut daran, wie sich der ehemalige Häftling mit Rüdiger Mack über dessen Vergangenheit als Hitlerjunge im nationalsozialistischen Deutschland austauschte, oder wie Kurt und Dorothea Senne gemeinsam mit dem Ehepaar Szymański um einen Tisch in der Gedenkstätte saßen und über neue Projekte diskutierten. Es brummte bei diesen Begegnungen und abendlichen Diskussionen in der świetlica, dem Gemeinschaftsraum im Gästehaus der Gedenkstätte, wo die Gruppen untergebracht waren: Die Diskussionen waren politisch, teils dogmatisch und doch immer persönlich: Es ging um uns. Und das hat Tadeusz Szymański gefallen: Dass die Leute aus Laubach es ernst meinten.

Und ernst meinte es auch Thomas Lutz, als er sich auf dem Hintergrund dieser Tradition sehr gezielt für eine Stelle als Freiwilliger in der Gedenkstätte Auschwitz bewarb. Thomas Lutz hatte klare Vorstellungen über seine Arbeit und er war mit einer gewissen Sturheit gesegnet, die den oberhessischen Menschenschlag zwischen dem Vogelsberg und Laubach auszeichnet. Damals gab es den Begriff »Macher« noch nicht, aber Thomas Lutz war einer: Er wollte nicht bloß diskutieren, er wollte und konnte Dinge organisieren und auf den Weg bringen und das hat er als Freiwilliger in der Gedenkstätte Auschwitz mit viel Elan und persönlicher Glaubwürdigkeit auch getan, bis seine Tätigkeit in Polen durch den plötzlichen Tod seines Vaters, eines Försters, zu einem Ende kam. Seine Mutter brauchte ihn jetzt und so saßen wir in meinem Büro in der Jebensstraße in Berlin und überlegten, wie eine an Berlin gebundene Tätigkeit für ihn aussehen könnte, die ihm regelmäßige Reisen zur Mutter nach Laubach ermöglichte. Auch da war Thomas Lutz mir in seinen Überlegungen weit voraus. Er hatte längst erkannt, dass es dringend einer Vernetzung der bundesdeutschen Gedenkstätteninitiativen bedurfte und man jetzt Erfahrungen, Kompetenz und politische Konflikte im regelmäßigen Austausch zusammenführen musste, um politisch durchzudringen, Gehör zu finden, und neue Initiativen bei ihrer Entstehung und Konflikten im politischen Raum zu beraten. Die Erfolge sind bekannt. Thomas Lutz hat dieses Projekt mit einer unglaublichen Weitsicht und den oberhessischen Beigaben durchgezogen und zu einem Big Player auch im internationalen Kontext werden lassen, wo er später neu entstehende Projekte beraten hat. Und er hatte auch die Coolness, die entstandene Initiative von Sühnezeichen zu einem neuen Träger zu verlagern, als Sühnezeichen ins Trudeln geraten und seine Zukunft ungewiss war. Für all dies hat er mit einem immensen persönlichen Arbeitsaufwand bezahlt, aber viele neue Kontakte und Freundschaften hinzugewonnen. Und dass er seine Ideen und seine Arbeitssituation bei Bedarf zu Hause mit seiner Frau Gabi diskutieren konnte und manch wichtigen Ratschlag erhielt, der dem Oberhessen neue Dimensionen des Humors und der Weitsicht erschloss, hat das Ganze zusätzlich befördert. Ich erinnere mich gut, wie wir am Rande einer Konferenz in Amsterdam zufällig aufeinandertrafen, weil wir uns beide von der etwas langatmigen Debatte entfernt hatten und in einer Kneipe landeten: An einem Zwischenpunkt unserer beider Leben diskutierten wir über das Woher und Wohin, die Jahre, die schnell verflossen waren und die Freunde, die uns schon verlassen hatten. Was würde bleiben in einer Welt, die sich immer schneller zu drehen schien?

Und hinterher ging jeder seiner Wege. Ich habe Käse gekauft: In einem Keller lagerten die Käselaibe hochgestapelt, wie die Ringe der Jahre über die wir geredet hatten.

Christoph Heubner ist Schriftsteller und Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees. Von 1978 bis 1995 war er bei der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste in verschiedenen Referaten tätig, seit 1980 in der Nachfolge Volker von Törnes Osteuropa-Referent und Mitbegründer der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/Auschwitz.