Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg

Eine Wanderausstellung des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion
08/2021Gedenkstättenrundbrief 203, S. 12 -16
Babette Quinkert

Am 18. Juni 2021 fand die Eröffnung der Ausstellung "Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg" statt. Eröffnet wurde diese mit der zentralen Gedenkrede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion. Bei der Vernissage im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst waren Botschafter und Botschaftsvertreter aus neun Ländern der Nachfolgestaaten der Sowjetunion anwesend.

Der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 ging mit einer radikalen Ausweitung deutscher Massenverbrechen einher. Von insgesamt mehr als 13 Millionen Menschen, die außerhalb von Kampfhandlungen von Deutschen getötet wurden, starben weit über 90 Prozent in den vier Jahren zwischen 1941 und 1945. Zu den größten Opfergruppen zählt die der sowjetischen Kriegsgefangenen: Mehr als drei Millionen der insgesamt etwa 5,7 Millionen Gefangenen kamen in deutschem Gewahrsam um. Dennoch wird bis heute kaum an sie erinnert. Anlässlich des 80. Jahrestags des Überfalls auf die Sowjetunion thematisiert die Wanderausstellung des Museums Berlin-Karlshorst deshalb die vielfältigen Schicksalswege der sowjetischen Kriegsgefangenen. Realisiert wurde sie in Kooperation mit der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten und dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. gemeinsam mit dem Deutschen Historischen Institut Moskau.

Die Ausstellung möchte Besucherinnen und Besuchern einen ersten Einstieg in das Thema ermöglichen. Dafür wurden drei Ausstellungsteile konzipiert, die mit Themen, Biografien und Orten/Dimensionen unterschiedliche Zugänge anbieten.

Im thematischen Teil spannt die Ausstellung anhand von Fotografien und Zitaten sowie zentralen Dokumenten in neun Kapiteln einen Bogen bis in die Gegenwart. Bereits vor dem Überfall auf die Sowjetunion entschied die Wehrmacht, den gefangen genommenen Soldaten und Soldatinnen der Roten Armee die internationalen Schutzbestimmungen zu verwehren und bestimmte Gruppen von ihnen zu ermorden. Eine Vielzahl von Gefangenen wurde erschossen. Die meisten starben jedoch aufgrund einer völlig unzureichenden Versorgung an Hunger und Krankheiten, vor allem bis zum Frühjahr 1942. Die Deutschen sonderten unter den Gefangenen einerseits "untragbare Elemente" ab, die ermordet wurden. Andererseits suchten sie Gefangene, um sie in den Lagern, bei der Wehrmacht oder in diversen Hilfspolizei- oder Militäreinheiten einzusetzen. Darüber hinaus waren die sowjetischen Kriegsgefangenen auch dringend benötigte Arbeitskräfte, die in den besetzten Gebieten und im Deutschen Reich eingesetzt wurden. Die Versuche der Gefangenen zu überleben waren vielfältig. Sie reichten von der "freiwilligen" Meldung zur Kooperation mit den Deutschen bis zur Organisation von Widerstand und Sabotage. Verrat und Diebstahl kamen unter den Gefangenen ebenso vor wie gegenseitige Hilfe, Solidarität und Unterstützung. Nach ihrer Befreiung waren die in die Sowjetunion zurückkehrenden Überlebenden mit dem Misstrauen der Behörden konfrontiert. Sie standen unter dem Generalverdacht des Verrats und wurden jahrzehntelang gesellschaftlich benachteiligt. Die Erinnerung an ihr Schicksal spielte weder in der Bundesrepublik noch in der DDR oder in der Sowjetunion eine Rolle.

Auf den Ausstellungsmodulen wird anhand von Zitaten und Fotografien erzählt, die neben einer Bildunterschrift einen kurzen kommentierenden Text erhalten haben. In den Kapitel- und Exponattexten verweist ein kleines Symbol auf zentrale Befehle und Richtlinien, die in einer Mappe zusammengefasst sind. Diese Dokumentenmappe liegt auf Sitzmodulen in der Mitte der Ausstellung aus. So wird ein Angebot geschaffen, sich in Ruhe mit den teils mehrseitigen Befehlen und Richtlinien zu befassen. Den thematischen Überblick ergänzen zwölf Biografien, die einen auch gestalterisch abgesetzten eigenen Ausstellungsteil bilden. Die Gesichter dieser Frauen und Männer sind von allen Punkten des Rundgangs aus zu sehen. Sie schauen die Besucherinnen und Besucher direkt an.

Die Auswahl der Personen verdeutlicht exemplarisch die Vielfalt der Roten Armee in Bezug auf die nationale, religiöse und soziale Herkunft ihrer Soldaten und Soldatinnen. Dies erscheint umso wichtiger als in der deutschen Erinnerung bis heute ein Bild der Angehörigen der Roten Armee dominiert, das auf "die Russen" fokussiert und mit negativen Zuschreibungen wie primitiv, ungebildet und grausam verknüpft ist. Im Sprachgebrauch schlägt sich dies nieder, wenn zum Beispiel von "Russlandfeldzug", "russischen Soldaten" oder "russischen Kriegsgefangenen" die Rede ist. Tatsächlich entsprach die multiethnische Zusammensetzung der insgesamt etwa 34 Millionen von der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg mobilisierten Armeeangehörigen den Dutzenden von Nationalitäten, die in dem Staat lebten. Sie kamen aus christlich, jüdisch, muslimisch oder atheistisch geprägten Lebenswelten. In der Ausstellung wird die georgische, tatarische, ukrainische oder russische Herkunft der vorgestellten Personen für die Besucherinnen und Besucher nicht zuletzt dadurch erkennbar, dass ihre Namen in der jeweiligen Sprache erscheinen. Die Biografie-Texte beginnen dann jeweils mit den ins Deutsche bzw. Englische transliterierten Namen.

Die ausgewählten zwei Frauen und zehn Männer sind unterschiedlich alt, haben unterschiedliche militärische Ränge und soziale Hintergründe: Landarbeiter und Studierende kommen ebenso vor wie ein Schlosser, ein Lehrer, ein Hochschulprofessor, ein Theater- und Musikwissenschaftler sowie eine Medizinerin. Eines der Porträts zeigt zudem einen unbekannten jüdischen Gefangenen, der von einem Fotografen der Propagandakompanien aufgenommen wurde. Auf einem anderen Biografie-Modul ist nur eine Silhouette zu sehen, da die Familie kein Foto ihres Ende 1941 in Minsk gestorbenen Angehörigen besitzt, von dessen Schicksal sie erst in den letzten Jahren erfahren hat.

Multiperspektivität ist ein zentrales Anliegen der Ausstellung. Sie soll den Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit für eine differenzierte Auseinandersetzung eröffnen. Deshalb unterscheiden sich auch die Schicksalswege der zwölf Personen. Mehr als die Hälfte von ihnen starb in deutschem Gewahrsam - durch Erschießungen, Hunger und Krankheiten. Andere Biografien stehen exemplarisch für KZ-Haft, Arbeitseinsatz, bewaffneten Widerstand oder Formen der Kooperation mit den Deutschen.

Den dritten Teil der Ausstellung bildet eine großformatige Europakarte, die die zahlenmäßigen und geografischen Dimensionen der Verbrechen visualisiert. Sie zeigt knapp 100 von den insgesamt mehr als 2000 Lagerstandorten, in die sowjetische Kriegsgefangene gebracht wurden, sowie die geschätzten Opferzahlen. Damit dokumentiert die Karte auch eine bisher nur unzureichend berücksichtigte Region des Massensterbens: Etwa zwei Drittel der umgekommenen sowjetischen Kriegsgefangenen starben in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. In einer neben der Karte platzierten Medienstation können Besucherinnen und Besucher Informationen zu 25 ausgewählten Gedenkorten in neun europäischen Ländern erhalten. Auf Friedhöfen und ehemaligen Lagergeländen wurden nach dem Krieg zahlreiche Gedenksteine errichtet. Neben staatlichen Initiativen gingen - und gehen bis heute - viele Gedenkorte aber auch auf privates und zivilgesellschaftliches Engagement zurück. Über eine Karte können Besucherinnen und Besucher Orte anwählen und sich anhand einer Fotografie und einem kurzen Text informieren.

Ein weiteres mediales Angebot möchte eine quellenkritische Auseinandersetzung mit Fotografien anregen. Die meisten Bilder von sowjetischen Kriegsgefangenen stammen entweder von Fotografen der Propagandakompanien (PK), von Wehrmachtsoldaten, die über private Kameras verfügten, oder vom Personal der Lager (z.B. Verwaltung, Ärzte, Wachmannschaften). Insbesondere die Aufnahmen der PK-Fotografen reproduzieren vielfach eine ideologisch vorgeprägte Sicht auf die sowjetischen Gefangenen. Zugleich sind diese Bilder oftmals die letzten Lebenszeugnisse dieser Menschen. Umso wichtiger ist ein quellenkritischer Zugang zu den überlieferten Fotografien, der gezielt nach deren Entstehungs- und Nutzungskontext fragt. Besucherinnen und Besucher können sich diesem Thema in der Medienstation über Fragen annähern: Wer hat das Foto gemacht? Was wurde fotografiert? Wie wurde das Foto gemacht? Wofür wurde das Foto gemacht? Exemplarische Fotografien mit kurzen kommentierenden Texten geben hierauf erste Antworten. Wird die Frage "Was siehst Du?" angewählt, erscheint eine Grafik, die eine Gruppe von unterschiedlichen Personen beim Betrachten eines Fotos zeigt. Eine Reflexion der eigenen, individuell sehr unterschiedlich geprägten Sicht ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt der Auseinandersetzung mit Fotografien oder anderen Bilddokumenten.

Mit der Gestaltung der Ausstellung wurde nach einem Wettbewerb das Büro FORM-ID beauftragt. Der Entwurf eines transportablen und mit einem eigenen Lichtkonzept ausgestatteten Ausstellungssystem von Stefan Schöbinger überzeugte uns durch seine mit Holz und Stoff weitgehend unbehandelte und pure Materialität. Die Formgebung der Ausstellungsmodule und Farbakzente unterstützen die kuratorische Vorgabe, die drei Ausstellungsbereiche Themen, Biografien und Orte/Dimensionen klar voneinander abzugrenzen.

Angesichts der Corona-Pandemie fiel im Verlauf des Projektes die Entscheidung, die Ausstellung zusätzlich in einer Outdoor-Version zu produzieren. Hierfür wurde der Gestaltungsentwurf geringfügig modifiziert, die Ausstellungsmodule etwas vergrößert und mit geöltem Stahl und Alu-Dibond-Platten produziert. Die Open-Air-Ausstellung wird von Juni bis Oktober 2021 im Garten des Museums Berlin-Karlshorst präsentiert, während die Indoor-Version ab Spätsommer 2021 auf Wanderschaft gehen wird.

Zur Wanderausstellung ist im Metropol Verlag ein gleichnamiger Katalog in deutschenglischer und deutsch-russischer Version erschienen (278 S., 24,- €, Museumsausgabe 15,- €). Er enthält ein gemeinsames Geleitwort der Projektbeteiligten. Die Ausstellungsinhalte werden vollständig wiedergegeben und durch Essays und einen Anhang inklusive weiterführendem Literaturverzeichnis ergänzt.

Die Essays ermöglichen eine vertiefende Auseinandersetzung mit einzelnen Aspekten des Themas. Babette Quinkert befasst sich mit der Frage, warum die sowjetischen Kriegsgefangenen zu einer der größten Opfergruppen wurden, obwohl das NS-Regime zunächst nur einige Gruppen unter ihnen gezielt ermorden wollte. Rolf Keller zeigt, dass der Arbeitseinsatz der sowjetischen Kriegsgefangenen von Beginn an geplant war, wenn auch als "notwendiges Übel". Daria Kozlowa befasst sich mit den Gefangenen, die aus verschiedenen Gründen - Ermordung, Arbeitseinsatz, Strafe - von der Wehrmacht an die SS übergeben und in Konzentrationslager überstellt wurden. Esther Meier und Heike Winkel widmen sich der "unbequemen Erinnerung", die die sowjetischen Kriegsgefangenen im kollektiven Gedächtnis in Deutschland und der Sowjetunion/ Russland jahrzehntelang darstellten. Artem Latyshew fächert verschiedene Phasen der Auseinandersetzung mit ihrem Schicksal in der Sowjetunion/Russland auf, die vom Vergessen über die Anerkennung bis zur Erforschung reicht.

So schlägt nicht nur die Ausstellung, sondern auch der Katalog den Bogen bis in die Gegenwart. Ziel des Projektes "Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg" ist es, einen Beitrag dazu zu leisten, dass diese Opfergruppe zukünftig die Aufmerksamkeit erhält, die angesichts der deutschen Verbrechen seit langem überfällig ist.

Hinweise zur Ausleihe der Wanderausstellung

Die Wanderausstellung "Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg" kann kostenfrei ausgeliehen werden. Es fallen lediglich Transportkosten an. Bei Fragen zum Ausleihverfahren schreiben Sie an: kontakt@museum-karlshorst.de. Infos zur Ausstellung finden Sie unter: www.museum-karlshorst.de/das-museum-dauerausstellung-sonderausstellung/ sonderausstellungen/dimensionen-eines-verbrechens-1

Kooperationspartner der Ausstellung sind: Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst, Deutsches Historisches Institut Moskau, KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge.

Die Politologin und Historikerin Dr. Babette Quinkert ist Projektleiterin und Kuratorin der Wanderausstellung beim Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst.