Ein bundesweites Netzwerk mit Wirkung

Die AG Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager
07/2023Gedenkstättenrundbrief 210, S. 139-147
Luisa Lehnen, Sebastian Weitkamp, Nicola Wenge

Zu den vielen Vernetzungsaktivitäten von Thomas Lutz gehört die maßgebliche Beteiligung an der Gründung der AG Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager im März 2019. Das Gründungsfoto zeigt ihn inmitten der Kolleginnen und Kollegen vor einem großen Plakat der »Topographie des Terrors«, nachdenklich-freundlich in die Kamera schauend. Mit dem Foto wurde der Zusammenschluss von 14 teils namhaften, teils wenig bekannten Erinnerungsorten zu einem neuen Netzwerk dokumentiert. Das Treffen, zu dem Thomas Lutz nach Berlin eingeladen hatte, bildete den Startschuss für den Ausbau der Zusammenarbeit. Die 14 Gründungsmitglieder planten, einen bundesländerübergreifenden Wissenstransfer zu organisieren, sich gegenseitig bei wissenschaftlichen Forschungsvorhaben und konservatorischen Anstrengungen zu unterstützen und den Austausch über die spezifischen Herausforderungen historisch-politischer Bildungsarbeit an Orten früher Konzentrationslager zu intensivieren.[1]

Das erste gemeinschaftliche Großprojekt, die Ausstellung »Auftakt des Terrors« für das Themenjahr 2023 wurde im GedenkstättenRundbrief 208 vorgestellt.[2] In diesem Artikel stehen die Hintergründe des Zusammenschlusses und die wichtigsten Aktivitäten im Mittelpunkt. Dabei verbindet sich der Blick hinter die Vernetzungskulissen mit einem wehmütigen Abschiedsgruß an Thomas Lutz.

 

Ausgangssituation und Hintergründe: Bad Urach 2018 und Berlin 2019

Wie so oft bei Gedenkstättennetzwerken basierte auch die Gründung dieser AG auf einer Fachtagung. Eingeladen hatten im September 2018 das Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg, der Lernort Kislau, die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und die Stiftung Topographie des Terrors zu einer Bestandsaufnahme der Gedenkstättensituation an Orten früher Konzentrationslager. Zwei Tage diskutierten über 60 Gäste in Bad Urach Herausforderungen in Forschung, Vermittlung und Denkmalschutz. Den Referenzrahmen bildete ein Impulsvortrag von Thomas Lutz zur Entwicklung von Forschung und Rezeption in den letzten 25 Jahren.[3]

Schnell zeigte sich, dass die Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager bei aller Heterogenität viele Aufgaben, Potenziale und Probleme teilen: Sie vermitteln am jeweils lokalen oder regionalen Beispiel, wie die Nationalsozialisten die Weimarer Republik aushebelten und wie sie die politischen Gegnerinnen und Gegner mit dem zentralen Terrorinstrument der frühen Konzentrationslager ausschalteten, um ihre Macht zu sichern. Viele Gedenkstätten nehmen die Zerstörung der Weimarer Demokratie zum Ausgangspunkt, um Theorien und Methoden der heutigen Demokratiebildung in ihrer Arbeit zu integrieren. Denn wie die Nationalsozialisten die erste deutsche Demokratie destabilisierten und 1933 in kürzester Zeit eine rechtsextreme Diktatur errichteten, betrifft das politische Selbstverständnis und das Zusammenleben der heutigen Gesellschaft unmittelbar.

Gleichzeitig verbinden die Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager spezifische Herausforderungen: Hannah Arendt machte bereits 1964 darauf aufmerksam, dass die Geschichte der frühen Konzentrationslager von den Schrecken der späteren Verbrechen überlagert worden sei.[4] Dabei ist gerade das Wissen um die Anfänge des NS-Regimes ein zentraler Schlüssel für das Verständnis der NS-Geschichte, wie Thomas Lutz in seinem Vortrag in Bad Urach herausarbeitete. Zum einen könnten die Völkermordverbrechen und Massenmorde der Nationalsozialisten nur verstanden werden, wenn der Prozess der »kumulativen Radikalisierung« der Gewalt von seinen Anfängen her gedacht wird. Bereits in der Phase der Machtübernahme seien einige der hierfür zentralen Strukturen, Organisationen und Methoden ausgebildet worden. Gleichzeitig, so Lutz, zeigten die frühen Lager im Reich, dass die Verbrechen eben nicht nur in Osteuropa, in den großen Konzentrations- und Vernichtungslagern begangen wurden, sondern flächendeckend, initiiert und ausgeübt im Zusammenspiel zahlreicher Tätergruppen auf kommunaler-, Landes- und Reichsebene.

Mit Blick auf ihre historisch-politische Relevanz müssten die Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager, die sich am konkreten historischen Beispiel explizit mit Fragen der Demokratiezerstörung und Diktaturetablierung befassen, eigentlich besonders gestärkt werden. In der Realität aber stehen sie vor gravierenden Problemen: Sie müssen bei steigenden Erwartungen aus Gesellschaft und Politik ihren wachsenden Aufgaben in Forschung und Vermittlung bei oftmals knappen Ressourcen gerecht werden. Sie arbeiten an komplexen, oftmals multipel genutzten Orten, deren Zugänglichkeit allzu oft eingeschränkt und deren bauliche Substanz gefährdet ist. Die aktuelle Forschung hat zwar die zentrale Bedeutung der frühen Lager für die Geschichte des Nationalsozialismus herausgearbeitet. Es fehlt aber an vergleichenden und länderübergreifenden Untersuchungen und Darstellungen. Viele der Gedenkstätten vor Ort arbeiten mit großem ehrenamtlichem Engagement, teils noch darum kämpfend, überhaupt einen eigenen Erinnerungsort aufbauen zu können. Alle stehen mit dem wachsenden Abstand zum Nationalsozialismus und den zunehmenden Angriffen auf die Erinnerungskultur vor besonderen Herausforderungen, um eine erfolgreiche historisch-politische Bildungsarbeit leisten zu können. Hinzu kommt ein strukturelles Problem: Geografisch verteilen sich die Gedenkstätten an Orten früher Lager über das gesamte Bundesgebiet, so wie auch die etwa 100 frühen KZ dezentral im Reich verteilt waren. Daraus ergibt sich, dass die Einrichtungen jeweils die einzigen in ihrem Bundesland beziehungsweise in ihrer Region sind, die diese spezifischen Probleme haben. Die Gründung der AG war also auch als Mittel gedacht, die »strukturelle Einsamkeit« zu überwinden.[5] Dass Thomas Lutz von Beginn an als Impulsgeber, Berater und Unterstützer in einer Person auftrat, half hierfür sehr.

Beim Gründungstreffen im Gedenkstättenreferat der Stiftung Topographie des Terrors im März 2019 identifizierten die Teilnehmenden vier Felder und Themenkomplexe, die sie gemeinsam angehen wollten: Dazu gehörten Forschung/Dokumentation und Öffentlichkeitsarbeit ebenso wie Vermittlung und der kollegiale Austausch. Im Gründungsprotokoll wurde auch schon der Plan für eine gemeinsame Ausstellung festgehalten: »Bei der Erarbeitung der Wanderausstellung sollen inhaltliche und didaktische Expertise möglichst optimal verzahnt werden.«[6] Die Umsetzung dieses Vorhabens band viele Kräfte der AG. Darüber hinaus trafen sich die Mitglieder, wie in Berlin vereinbart, mindestens einmal im Jahr an einer Gedenkstätte, um die dortige Arbeitssituation mit ihren Problemen und Chancen kennen zu lernen, und, falls erforderlich, durch den bundesweiten Schulterschluss zu unterstützen.

 

Der Fall Sachsenburg und weitere Vernetzungstreffen der AG

Schon beim Gründungstreffen der AG kam ein Thema auf, das gewissermaßen gleich zum ersten »Auftrag« des neuen Zusammenschlusses werden sollte. Konkret ging es um die Frage, wie im Hinblick auf die Erinnerungsarbeit am Ort des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenburg in Frankenberg (Sachsen) verfahren werden sollte.[7] Zwar waren sich die Akteurinnen und Akteure vor Ort grundsätzlich darüber einig, dass auf dem Gelände eine Gedenkstätte entstehen sollte. Darüber, wie diese Gedenkstätte aussehen sollte, gab es jedoch unterschiedliche Meinungen.

Einer der zentralen Streitpunkte zwischen den ehrenamtlich Aktiven der Geschichtswerkstatt Sachsenburg und der Lagergemeinschaft Sachsenburg auf der einen Seite und der Gemeinde Frankenberg auf der anderen Seite war die Zukunft der sogenannten »Kommandantenvilla«. Die Gemeinde vertrat den Standpunkt, dass sich diese in einem so schlechten Zustand befinde, dass ein Abriss die einzige Lösung sei. Ein entsprechender Gemeinderatsbeschluss lag zu diesem Zeitpunkt bereits vor. Für die ehrenamtlich Aktiven hingegen war klar, dass die Villa erhalten bleiben und im Vermittlungskonzept der Gedenkstätte berücksichtigt werden sollte. Auch Thomas Lutz trieb die schwierige und konfliktbehaftete Situation um. Er schlug vor, dass sich die AG-Mitglieder schon möglichst bald in Sachsenburg treffen sollten und übernahm die Koordination.[8]

Mit dem Treffen sollten gleich mehrere Ziele verfolgt werden: Zum einen war damit die Hoffnung verbunden, dass die Anwesenheit und die Fürsprache von Vertreterinnen und Vertretern aus Gedenkstätten in ganz Deutschland dazu beitragen würde, der Gemeinde die Bedeutung des historischen Gesamtensembles zu verdeutlichen. Zum anderen sollte dadurch die Sichtbarkeit des Ortes und der damit verbundenen Problematik auch über Frankenberg hinaus erhöht werden. Thomas Lutz war es zudem wichtig, dass die AG-Mitglieder bei der Überarbeitung des Antrags auf Fördermittel im Rahmen der Bundesgedenkstättenkonzeption mitwirken sollten. Ein erster Antrag der Stadtverwaltung war abschlägig beschieden worden.

Schnell waren sich die Gründungsmitglieder der AG einig, den Prozess mit ihrem Knowhow zu begleiten und die Aktiven der Geschichtswerkstatt Sachsenburg zu unterstützen. Thomas Lutz und Anna Schüller von der Geschichtswerkstatt übernahmen im Anschluss die Vorbereitungen für das Treffen, das unter den Titel »Entwicklung einer partizipativen Erinnerungskultur am Geschichtsort Sachsenburg« gestellt wurde. Daran teilnehmen sollten neben den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft auch Simon Lengemann für die Bundeszentrale für politische Bildung sowie Vertreterinnen und Vertreter der Sächsischen Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten.

Im Juni 2019 war es schließlich so weit: In Frankenberg fanden sich zahlreiche Mitglieder der AG ein. Leider konnte Thomas Lutz krankheitsbedingt nicht an dem Treffen teilnehmen. Allen, die vor Ort waren, ist es vermutlich noch sehr präsent. Da war zum einen das beeindruckende Gebäudeensemble, das viele zum ersten Mal in Augenschein nehmen konnten, und zum anderen das unermüdliche und rein ehrenamtliche Engagement der Geschichtswerkstatt und der Lagergemeinschaft, um diesen Ort zu erhalten und zum Sprechen zu bringen. Und da waren die Konflikte, die nicht nur zwischen Ehrenamtlichen und Gemeinde, sondern zum Teil auch innerhalb der ehrenamtlichen Gruppierungen entbrannt waren. Diese schwierige Gemengelage galt es für die Teilnehmenden zunächst einmal zu durchdringen.

An zwei dichten Programmtagen diskutierten die AG-Mitglieder unter anderem mit dem Bürgermeister der Gemeinde Frankenberg, mit Vertreterinnen und Vertretern der Stiftung Sächsische Gedenkstätten sowie des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst. Dabei verliehen sie ihrer Überzeugung Ausdruck, dass das Gesamtensemble der Gebäude erhalten und nach Möglichkeit auch für die Vermittlungsarbeit nutzbar gemacht werden sollte.[9] Im Gespräch zeigte sich der Bürgermeister offen, Modelle zu prüfen, die zumindest die Außenmauern und das Dach der Kommandantenvilla erhalten würden, und darüber im Stadtrat zu beraten.

Leider stellte sich schon bald heraus, dass die zweitägige Anwesenheit der AG-Mitglieder nicht ausreichen würde, um zu einer wesentlichen Verbesserung der Situation beizutragen. Wie tief die Gräben schon waren, ließ sich unter anderem daran erkennen, dass neueste Informationen über die Konzept-Ideen der Gemeinde in der Presse lanciert wurden – noch während die AG-Mitglieder vor Ort waren.

Im Anschluss an das Treffen fassten die Teilnehmenden ihre Empfehlungen für den weiteren Prozess in einem Schreiben an den Bürgermeister zusammen. Darin sprachen sie sich unter anderem für die Etablierung eines partizipativen und transparenten Verfahrens sowie für die Schaffung eines wissenschaftlichen Beirats aus. In dem kurz darauf berufenen Gremium wirken mit Thomas Lutz sowie Melanie Engler von der Gedenkstätte KZ Lichtenburg Prettin seitdem gleich zwei Mitglieder der AG an der Weiterentwicklung des Konzepts mit. Darüber hinaus unterstützten sie den von der Stadt eingestellten Historiker Mykola Borovyk dabei, einen weiteren Antrag auf Bundesmittel zu stellen. Dieser Antrag wurde schließlich im Mai 2022 von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien bewilligt. Vor Ort gibt es inzwischen ein provisorisches Kommunikations- und Dokumentationszentrum. Die Kommandantenvilla allerdings wurde aufgrund ihres schlechten baulichen Zustands – trotz eindringlichen Appells weiterer Historikerinnen und Historiker sowie zivilgesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure – im Herbst 2022 abgerissen. Das Treffen in Sachsenburg war das erste Treffen der AG an einem der Orte früher Lager. Diesem folgten weitere Zusammenkünfte in Neustadt an der Weinstraße (2020) und Osthofen (2021). Zuletzt war die Gedenkstätte Breitenau in Guxhagen im März 2023 Gastgeberin. Diskutiert wurde dort das Thema »Vielfältig gelagerte Interessen bei mehrfach genutzten historischen Liegenschaften«, das viele der in der AG vertretenen Einrichtungen beschäftigt.

Dass Thomas Lutz an der Programmplanung der Treffen mitwirkte und an diesen teilnahm, war für die gesamte AG, aber auch für die einzelnen Vertreterinnen und Vertreter der Einrichtungen ein großer Gewinn. Durch seine jahrzehntelange Erfahrung in den Bereichen Gremienarbeit und politische Kommunikation sowie durch seinen Überblick über die gesamte deutsche Gedenkstättenlandschaft konnte er wichtige Impulse geben und die Prozesse voranbringen.

 

Sechzehn Gedenkstätten machen eine Ausstellung – Die Wanderausstellung »Auftakt des Terrors. Frühe Konzentrationslager im Nationalsozialismus« als Gemeinschaftsprojekt

Im Kern beschäftigte die AG aber seit der Gründung vordringlich die Frage, wie sie das eingangs erwähnte Projekt einer gemeinsamen Ausstellung für das Jahr 2023 am besten angehen könnte. In diesem Jahr würde sich der Machtantritt Adolf Hitlers und in diesem Zuge auch die Errichtungen der ersten Konzentrationslager zum neunzigsten Mal jähren. Es war selbstverständlich, dass die AG zu diesem Anlass eine Präsentation gestalten musste, um dem Thema mehr Sichtbarkeit zu verschaffen. Zur Umsetzung bildeten sich die Unter-AGs »Pädagogik« und »Ausstellung«.

Das Projekt wurde groß angedacht. Die Idee war, eine zentrale Ausstellung 2023 im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors zu zeigen oder alternativ beziehungsweise ergänzend dazu mehrere kleinere dezentral zu eröffnen. Mit dem Ziel, finanzielle und personelle Unterstützung zu erhalten, sollte ein Förderantrag bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien eingereicht werden. Und dann kam das Jahr 2020 und alles bekanntlich anders als geplant. Die Zeit verstrich durch diverse Lockdowns und der Antrag blieb in einer inhaltlichen Rohfassung stecken. Erst im August 2021 war wieder an ein Präsenztreffen zu denken, welches in der Gedenkstätte KZ Osthofen stattfand.

Bei dem Treffen in Osthofen wurde der Zeitverlust schmerzlich bewusst, der auch durch verschiedene Videokonferenzen nicht hatte aufgefangen werden können. Ein Antrag bei der Kulturstaatsministerin hätte terminlich kaum noch geklappt. Aber die AG wäre nicht die AG, wenn nicht konstruktive Lösungen gesucht worden wären. Ann Katrin Düben von der Gedenkstätte Breitenau hatte Kontakt zur Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft aufgenommen, die schließlich die Entstehung der Ausstellung wesentlich fördern sollte. Die Gedenkstätte Esterwegen stellte hierfür als Institution stellvertretend für die AG den gemeinsamen, erfolgreichen Antrag und verwaltete die Fördermittel. Für die personelle Unterstützung schufen die Einrichtungen ein Crowdfunding, um einen Werkvertrag mit entsprechenden Mitteln ausstatten zu können. Die Redaktion der Ausstellung sollte später nach einem Auswahlverfahren Sebastian Zehetmair übernehmen. Gleichzeitig arbeitete die Unter-AG »Pädagogik« an einem Antrag bei der Bundeszentrale für politische Bildung, um eine Förderung der Bildungsmaterialien sowie personelle Unterstützung zu erhalten, den Agnes Ohm für die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen einreichte. Die Unter-AG übernahm auch die Planungen für die Begleitung der Ausstellung durch eine Social Media-Kampagne unter dem Hashtag #HeuteVor90Jahren. In Osthofen verständigten sich die Anwesenden über Inhalte und bauliche Voraussetzungen der Ausstellung. Mittlerweile war die AG auch von einer zentralen Ausstellung in Berlin abgerückt. Stattdessen würde jede Einrichtung ein Exemplar eigenständig in Auftrag geben, welches später jeweils als Wanderausstellung verliehen werden könnte. Am Ende hatte das Projekt erste Konturen bekommen.

In der Folge fanden Redaktionsgruppen für alle thematischen Module zusammen, die sich später vor allem im virtuellen Raum bei Videositzungen trafen – die Konferenztechnik hatte bekanntlich katapultartige Fortschritte gemacht. Im März 2022 kam das nächste Planungstreffen im Hybridformat in Osthofen. Zu diesem Zeitpunkt war mittlerweile auch Alyn Beßmann für die Hamburger Gedenkstätte Fuhlsbüttel zu dem Projekt gestoßen. Die Anwesenden stimmten über Entwürfe von Grafikagenturen ab, bei denen sich das Weidner Händle Atelier aus Stuttgart im Votum durchsetzen konnte. Inhaltlich liefen viele Arbeiten nun digital ab bei unzähligen Videokonferenzen mit unzähligen Teilnehmenden an unzähligen Terminen. Inhaltlich war es nicht leicht, so viele diverse Meinungen, Ansichten und Präferenzen auf einen Nenner zu bringen. Die Kompromissfähigkeit aller Beteiligten wurde auf einige harte Proben gestellt. Zugleich waren diese vielen Herangehensweisen auch ein Gewinn, ohne den sicherlich eine ganz andere, viel monolithischere Ausstellung entstanden wäre. Zeitgleich focht auch die Unter-AG »Pädagogik« ihren eigenen schweren Kampf gegen vielerlei Probleme. In dieser Phase kam der Eindruck auf, für jedes Problem, welches man bewältigte, tauche ein neues auf. Die Auswirkungen des Ukraine-Krieges waren mittlerweile auch in den Planungen angekommen: Rohmaterialien wie Pappe waren knapp und mussten auf Vorrat gegen Vertrauen und Vorkasse gekauft werden. Das eigentlich vorgesehene, brandhemmende Material mit Aluminium-Anteil war vergriffen und ein adäquater Ersatz musste in Belgien beschafft werden.

Im Dezember 2022 starteten Ulrike Holdt, Sebastian Weitkamp und Sebastian Zehetmair die zehrende Schlussredaktion, die auch der Grafikagentur manche Überstunde bescherte. Gleichzeitig liefen für jede Einrichtung die selbstständigen Bestellungen bei der Druckerei. Für alle, aber gerade für die kleineren Einrichtungen war die Arbeit, die zusätzlich zu den alltäglichen Aufgaben zu leisten war, enorm. Doch letztlich konnte so der Zeitplan eingehalten werden.

Am 28. Februar 2023 fand schließlich anlässlich des 90. Jahrestages der Reichstagsbrandverordnung die zentrale Eröffnung der Ausstellung in der Gedenkstätte Oberer Kuhberg in Ulm in Anwesenheit von Kulturstaatsministerin Claudia Roth statt. Als Vertreterinnen und Vertreter der AG waren zu diesem Anlass neben Nicola Wenge (Oberer Kuhberg) auch Agnes Ohm (Sachsenhausen), Ingaburgh Klatt (Ahrensbök) und Sebastian Weitkamp (Esterwegen) nach Ulm gekommen. Zeitgleich eröffneten acht weitere Einrichtungen an diesem Tag die Ausstellung, was ein breites regionales wie bundesweites Presseecho zur Folge hatte. Weitere Einrichtungen eröffneten die Ausstellung in den kommenden Monaten.

Bei allen Widrigkeiten und den Herausforderungen einer basisdemokratischen AG-Struktur ist es unter den schwierigen Rahmenbedingungen doch gelungen, eine sehenswerte und wichtige Ausstellung im Team von zuletzt sechzehn Einrichtungen zu erstellen. Die Ausstellung macht deutlich, wie schnell und brutal sich eine demokratisch-pluralistische Gesellschaft durch politische Prozesse in eine Diktatur mit unvorstellbarer Gewalt wandeln kann. Als AG stehen wir in der Verantwortung, daran zu erinnern. Wir tun es nicht zuletzt für die vielen Häftlinge, deren Angehörige und die Toten der frühen Konzentrationslager.

Wenige Wochen nach der Ausstellungseröffnung ist es noch zu früh, ein Fazit zu Wirkung und Rezeption zu ziehen. Sie hat aber bereits jetzt ein deutlich stärkeres Medienecho hervorgerufen als zu erwarten war und viele Besucherinnen und Besucher angezogen. Das macht Lust auf weitere Projekte und vertiefte Netzwerkbildung, auch wenn uns Thomas Lutz dabei fehlen wird.

Luisa Lehnen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Lernort Kislau e.V. und forscht und vermittelt zum frühen badischen Konzentrationslager Kislau bei Bruchsal.

Dr. Nicola Wenge ist wissenschaftliche Leiterin des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg Ulm und im Sprecherrat der LAGG Baden-Württemberg. Ausstellung und Veröffentlichungen zu NS-Verfolgungsgeschichte, Struktur der Konzentrationslager, Widerstand, Antisemitismus und jüdische Geschichte, Erinnerungskultur.

Dr. Sebastian Weitkamp ist Co-Leiter der Gedenkstätte Esterwegen und forscht schwerpunktmäßig zum KZ Esterwegen 1934–1936. Veröffentlichungen zu den »Emslandlagern«, SS, Antisemitismus, NS-Außenpolitik und Geschichte des Auswärtigen Amtes im »Dritten Reich«.

 

[1]    Pressemitteilung »AG Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager gegründet«, www.gedenkstaettenforum.de/fileadmin/forum/Veranstaltungen/Dokumente/2019/04_April/AG_GOK.pdf (zugegriffen: 11. 4. 2023).

[2]    Luisa Lehnen/Nicola Wenge: Auftakt des Terrors – Frühe Konzentrationslager im Nationalsozialismus. Bundesweite Gemeinschaftsausstellung der AG Gedenkstätten an Orten früher KZ. Ein Werkstattbericht zu einem besonderen Kooperationsprojekt, GedenkstättenRundbrief 208 (12/2022), S. 34– 37.

[3]    Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager. Rückblick auf die Fachtagung, www.gedenkstaetten-bw.de/fruehe-lager mit einer Zusammenfassung des Vortrags von Thomas Lutz (zugegriffen: 11. 4. 2023).

[4]    Zitiert nach Gerald Gemser/Norbert Haase/Bert Pampel: »Was dann losging, war ungeheuerlich…« Frühe Konzentrationslager in Sachsen 1933–1937, GedenkstättenRundbrief 141 (3/2008), S. 26–30, hier S. 26.

[5]    Vortrag Nicola Wenge: Probleme und Potenziale der Gedenkstättenarbeit zu frühen Konzentrationslagern, Zusammenfassung: www.gedenkstaetten-bw.de/fruehe-lager (zugegriffen: 11. 4. 2023).

[6]    AG Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager: Auftakttreffen am 18. und 19. März 2019 in Berlin – Gründungsprotokoll verfasst von Andrea Hoffend, 20. März 2019.

[7]    Vgl. Anna Schüller: Gedenkstätte KZ Sachsenburg – Ringen um einen angemessenen Gedenkort, in: GedenkstättenRundbrief 191 (9/2018), S. 21–35. Weitere Informationen zum Ort und zur Gedenkstätte: https://gedenkstaette-sachsenburg.de; www.frankenberg-sachsen.de/Bildung-Kultur/gedenkstaettesachsenburg/.

[8]    Siehe Endnote 6, S. 3.

[9]    Pressemitteilung: »Wie geht es weiter mit dem Geschichtsort Sachsenburg? Die Arbeitsgemeinschaft Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager tagt in Frankenberg«, 21. Juni 2019.