Ein Mentor der Gedenkstättenarbeit

Zum Wirken von Dr. Thomas Lutz
07/2023Gedenkstättenrundbrief 210, S. 27-31
BKM – Referat K42

Im Jahr 1984, als Thomas Lutz die Leitung des im Vorjahr begründeten Gedenkstättenreferats bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste übernahm, zeichnete sich ein tiefgreifender Umbruch in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland ab. Allerorts riefen couragierte Bürgerinnen und Bürger zivilgesellschaftliche Initiativen ins Leben, die sich für eine sichtbare Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und für ein Gedenken an die Opfer stark machten. Fast vierzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden zunehmend Erinnerungsstätten an Orten der Gewalt geschaffen, Ausstellungen konzipiert und regionale wie biografische Rechercheprojekte – man denke an die innovativen Geschichtswerkstätten – aufgesetzt. Nur: So notwendig wie richtungsweisend die Hinwendung zu einer umfassenden Aufarbeitung war, wurde sie doch maßgeblich von bürgerschaftlichen Bewegungen – und nicht zwingend als gesamtgesellschaftliche und politische Agenda – vorangebracht. Zwar hatte die Ausstrahlung der Fernsehserie »Holocaust« im Jahr 1979 das öffentliche Bewusstsein für die NS-Verbrechen gestärkt und verdichtete die sich ausweitende Holocaust-Forschung das historiografische Wissen. Die Forderungen nach einem »Schlussstrich« blieben gleichwohl populär und familienbiografische wie regionalgeschichtliche Recherchen wurden weiterhin allzu häufig als Störfaktoren des gesellschaftlichen und staatlichen Friedens verunglimpft. Auch blieb die offizielle Erinnerungspolitik der Bundesrepublik noch hinter dem zivilgesellschaftlichen Engagement zurück. Gewiss stellte Willy Brandt mit seiner Annäherung an Osteuropa und seinem Kniefall von Warschau 1970 die historische Verantwortung Deutschlands für die NS-Gewaltherrschaft so deutlich wie nie heraus. Doch sollte es noch einige Zeit dauern, bis dieses gesamtstaatliche Geschichtsbewusstsein auch in Form von institutionellen Förderstrukturen perpetuiert wurde.

In dieser Schwellenphase der Aufarbeitung war der Aufbau einer überregionalen Koordinierungsstelle zum Informationsaustausch und zur Vernetzung zwischen verschiedenen Gedenkorten und Erinnerungsinitiativen im Land mehr als anspruchsvoll. Dass das hierfür geschaffene Gedenkstättenreferat zunächst und bis 1993 unter dem Dach der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. angesiedelt war, mag das übergeordnete Ziel der neuen Einrichtung bewusstmachen: Nämlich die praktische Stärkung der NS-Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit in Deutschland gegenüber denjenigen Menschen und Ländern, die während der NS-Zeit verfolgt, eingesperrt und ermordet worden waren. Thomas Lutz hatte den Ansatz einer tatkräftigen Gedenkarbeit bereits durch einen Friedensdienst in der Gedenkstätte Auschwitz verfolgt. Nun setzte er diesen Weg als Leiter des Gedenkstättenreferats mit Hingabe, Kommunikationstalent und Empathie fort.

Binnen kürzester Zeit etablierte Thomas Lutz ein koordinierendes und beratendes Organ, das Informationen zusammenführte und verteilte, die Vernetzung der Gedenkstätten und ihrer Protagonisten förderte und zur ersten Anlaufstelle für erinnerungskulturelle Initiativen wurde. Durch organisierte Tagungen, wie die bundesweiten Gedenkstättenseminare und Fortbildungen, den Ausbau des »GedenkstättenRundbriefs« zu einem veritablen Fachmagazin und schließlich, im Jahr 1999, mit dem Start der Website »Gedenkstättenforum« als digitales Austauschforum setzte ein immenser Professionalisierungsschub ein. Zugleich war auch das Gedenkstättenreferat strukturell gestärkt worden, als es 1993 in die Stiftung Topographie des Terrors überführt wurde. Im gleichen Jahr war auch der erinnerungspolitische Umbruch hin zu einer gesamtstaatlichen Verantwortlichkeit für die Aufarbeitung der NS-Gewaltherrschaft entscheidend vorangebracht worden: Fortan sollten auf Grundlage einer »Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland« landesweit bedeutsame Erinnerungsorte durch öffentliche Zuwendungen gefördert werden. Diese Beteiligung gab Einrichtungen langfristige Planungssicherheit und sicherte ihnen zu, Ausstellungsprogramme und Vermittlungsangebote zu etablieren.

Die bürgerschaftlich geprägte und dadurch divers besetzte und dezentral organisierte Gedenkstättenlandschaft festigte sich auch als Folge dieser professionalisierten Rahmenbedingungen. Thomas Lutz wurde in diesen bewegten Zeiten zu einer wichtigen Konstanten der bundesweiten Gedenkstättenarbeit. So etablierte er das Gedenkstättenreferat als Ansprech- und Anlaufstelle für die vielfältigen Erinnerungsorte im Land, die bei ihm stets offene Ohren für Fragen, Herausforderungen und Ideen fanden. In dieser Rolle war es ihm insbesondere wichtig, den kleineren Initiativen Gehör zu verschaffen – und so den »Graswurzelcharakter« der Erinnerungsarbeit zu würdigen. Durch die Geschäftsführung für die AG KZ-Gedenkstätten wurde Thomas Lutz zugleich zum Sprachrohr der Erinnerungsorte und vertrat ihre Interessen insbesondere auch gegenüber der Politik.

Nachdem im Jahr 1998 das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) geschaffen worden war und im Folgejahr die Gedenkstättenkonzeption des Bundes als Förderrahmen für öffentliche Zuwendungen etabliert wurde, gewann das Gedenkstättenreferat erheblich an Bedeutung. Fortan sorgte es – in Person von Thomas Lutz – neben dem weiter intensivierten Informationsaustausch und der Vernetzung zwischen den verschiedenen Gedenkstätten und Erinnerungsorten nunmehr auch dafür, ihnen die Möglichkeiten und Wege staatlicher Zuwendungen aufzuzeigen, Hilfestellungen zu leisten und Kontakte zu vermitteln. In gleicher Weise wurde es zu einem unverzichtbaren Ansprechpartner politischer Verantwortungsträger, die auf diese Weise in den strukturierten Austausch mit den erinnerungskulturellen Einrichtungen treten konnten.

Seither entscheidet der oder die BKM über Anträge zur bundesseitigen Förderung erinnerungskultureller Vorhaben und lässt sich dabei von einem Expertengremium beraten. Das Gedenkstättenreferat gehört dabei zu den in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes benannten Institutionen, die eine Vertreterin oder einen Vertreter entsendet. Für die Kulturstaatsminister/innen und die zuständigen Abteilungen und Fachreferate war die Besetzung durch Thomas Lutz ein Glücksfall. Seine Expertise wurde von Anfang an hochgeschätzt, auf seine Einschätzungen konnten gewissenhafte Entscheidungen aufbauen. Auch in dieser Rolle blieb er seinen Überzeugungen treu: Eine ausgewogene Verteilung von Fördermitteln setzte voraus, dass insbesondere die kleineren Einrichtungen ausreichend Unterstützung erfahren müssten. Mit dieser Haltung bewies Thomas Lutz eine vorausschauende Klarheit, denn bis heute zeigen Erfahrungen aus der Praxis sowie diverse Studien, dass lokale Initiativen und regionale Aufarbeitung unverzichtbare Bestandteile einer nachhaltigen Erinnerungsarbeit sind.

Thomas Lutz ist es gelungen, mit der alljährlichen Gedenkstättenkonferenz und dem bundesweiten Gedenkstättenseminar Formate zu verankern, die maßgeblich zum Austausch und zur Vernetzung der erinnerungskulturellen Arbeit beitragen. Die Netzwerkarbeit und der Informationsaustausch sind für Thomas Lutz und das Gedenkstättenreferat eine Kernaufgabe, für die er innerhalb und außerhalb der Gedenkstättenlandschaft sowie im In- und Ausland viel Anerkennung erfährt.

Zukunftsweisend war und ist auch das seit 2019 währende Engagement in dem Bundesprogramm »Jugend erinnert« der BKM zur Förderung der Bildungsarbeit im Feld der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. In der ersten Förderrunde unter dem Titel »Auseinandersetzung mit dem NS« ging es darum, die historisch-politische Bildungsarbeit auf der Grundlage strukturell und langfristig angelegter Kooperationen der Gedenkstätten zu fördern. Dabei war es das Ziel, eine nachhaltige Wirkung durch »Verzahnung mit anderen Trägern der Bildungs-, Jugend- und Kulturarbeit« sowie die Qualifizierung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu erreichen. Im Fokus stand »die Gesellschaft in ihrer Vielfalt […]« und die innovative Weiterentwicklung von Formaten und Methoden und durch die Verbindung von historischer Wissensvermittlung mit »Fragen nach der Gegenwartsrelevanz« zu fördern und zu stärken. Insgesamt wurden mehr als 30 »Jugend erinnert«-Projekte mit verschiedenen Projektträgern gefördert und durch das Gedenkstättenreferat beraten und begleitet. Zu den Trägern zählten große KZ-Gedenkstätten mit mehreren Dutzend Mitarbeitenden, aber auch kleine, bis vor kurzem ausschließlich ehrenamtlich geführte Erinnerungsinitiativen. Die geförderten Projekte bearbeiteten vielfältige Themen und historische Bezüge und wiesen innovative Bildungskonzepte auf, die neue Zugänge und Wege der Vermittlungsarbeit ermöglichten. Thomas Lutz und seinem Team, die diese Vorhaben mit Engagement unterstützten, gelang es, ein Netzwerk »Jugend erinnert« trotz der schwierigen Corona-Bedingungen aufzubauen, von dem das ganze Programm profitierte. Zur Netzwerkpflege gehörten regelmäßige Jour-Fixe-Termine, Treffen, Fortbildungen und Online-Seminare. Außerdem wurde ein Wiki mit einer Sammlung von Methoden für die analoge und digitale Bildungsarbeit angelegt. Das Netzwerk sorgte dafür, dass Impulse der Projektförderung auch nachhaltig wirken und in die Breite der heterogenen Gedenkstättenlandschaft getragen werden konnten.

Der aktuelle Koalitionsvertrag der Bundesregierung sieht vor, das Förderprogramm »Jugend erinnert« zu verstetigen und zu modernisieren. Das Gedenkstättenreferat, das die Erfahrungen und Ergebnisse der ersten Förderrunde gesichert hat, konnte wichtige Hinweise für eine zeitgemäße Neukonzeption der Förderrichtlinien geben. Ziel wird es sein, künftig noch stärker Projekte zu unterstützen, die eine diversifizierte Vermittlungsarbeit für junge Zielgruppen anbieten und insbesondere auf lokaler Ebene Wirkung entfalten. Zugleich soll die Vernetzung in der vielfältigen und dezentralen erinnerungskulturellen Landschaft weiter intensiviert werden. Ein Fokus wird künftig noch stärker auf den transnationalen Dimensionen der Erinnerungskultur liegen, wobei auch hier Thomas Lutz mit seinen zahlreichen internationalen Treffen und Kontakten anknüpfungsfähige Spuren hinterlassen hat. Es ist unverkennbar, wie unmittelbar und kontinuierlich die von Thomas Lutz in den vergangenen Jahrzehnten eingeschlagenen Wege in der künftigen Erinnerungskultur fortwirken werden. Das unter ihm zum Seismografen und Schrittmacher der Gedenkstättenlandschaft avancierte Gedenkstättenreferat ist auf kommende Aufgaben gut vorbereitet. Es wird auch weiterhin ein Fixpunkt für Einrichtungen und Projekte der NS-Aufarbeitung, aber auch wichtiger Ansprechpartner staatlicher Verantwortungsträger wie der BKM bleiben.

Zum Ende seiner beruflichen Laufbahn im Gedenkstättenreferat und zum Eintritt in den wohlverdienten Ruhestand bleibt Thomas Lutz von Herzen Dank zu sagen: Für seinen unermüdlichen Einsatz für die kleinen und großen Erinnerungsorte und Aufarbeitungsinitiativen, für seine Zugewandtheit, Verbindlichkeit und Expertise in seiner Rolle als Ansprechpartner, Vermittler und Kommunikator. Und für seine beharrliche Leidenschaft, mit der er die vielfältige Gedenkstättenarbeit im Land geprägt und die Aufarbeitung des Nationalsozialismus wirkungsvoll gestärkt hat.

Das Referat K 42 bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) unter Leitung von Dr. Britta Bopf ist für den Themenbereich »Aufarbeitung des Nationalsozialismus« zuständig.