Einheit und Vielfalt

Thomas Lutz als solidarischer und sensibler Beiratsvorsitzender
07/2023Gedenkstättenrundbrief 210, S. 74-79
Peter Fischer

Ein Experte, ein Entscheider, ein Kommunikator, ein Moderator, ein Berater, ein Delegierter, ein Vorsitzender: Dies alles ist Thomas Lutz. Der Gedenkstättenreferent der Stiftung Topographie des Terrors ist im In- und Ausland aus guten Gründen ein vielfach gesuchter Erfahrungsträger und herausragender Akteur. Nicht zuletzt ist er Vorsitzender des Internationalen Beirats im Stiftungsrat der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, wo er mir vor mehr als 30 Jahren glücklicher Weise begegnete. Seither verbindet sich mit ihm ein »Miteinander«, insbesondere aus Sicht meiner Aufgabenstellungen als Vertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland. Geradezu prototypisch steht er auch für ein »Füreinander« in der seither vollzogenen Zeitenwende hin zur staatlichen Einheit. Gemeinsam haben Thomas Lutz und ich im Stiftungsrat die Neugestaltung und Weiterentwicklung der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen nach 1989 begleitet und unterstützt.

Zeitgemäße Ausdrucksformen von Bebauungen, Gedenkarealen und Ausstellungen, Dokumentationen, Archive und Medienpräsentationen, die gedenkstättenpädagogische Ansprüche differenziert umsetzen, gehören gewiss zum Selbstverständnis progressiver Um- und Neugestaltung der bundesdeutschen Gedenkstättenlandschaft zur nationalsozialistischen Geschichte. Insgesamt bilden sie ein multikomplexes Gerüst, das sich nach 1989/90 aus einem Schwerpunkt im Osten Deutschlands heraus entwickelte und zugleich der Gedenkstättenlandschaft der gesamten Bundesrepublik Gültigkeit und Anerkennung verliehen hat. Insofern sind, wenn die in die neu erweiterte Bundesrepublik eingebrachte (obsolete) Erbschaft der DDR zur historischen Auseinandersetzung mit dem Faschismus in der Rückschau betrachtet wird, bemerkenswerte Unterschiede von öffentlicher Aufmerksamkeit und Relevanz zu konstatieren.

Allein schon ein Landkarten-Check zur Verteilung der Gedenkstätten im wiedervereinten Deutschland (nach der Übersichtskarte in der zweibändigen Dokumentation der Bundeszentrale für Politische Bildung[1]) war auffällig. Im Vergleich – und im Unterschied zu vielen anderen Bereichen der Gesellschaft – erschien die Karte der Gedenk- und Erinnerungsorte auf früherem DDR-Gebiet »reich bestückt«. Dagegen boten die westlichen Bundesländer mit ihrer relativ seltenen Verortung der deutschen NS-Vergangenheit eindeutig ein ziemlich mageres Erscheinungsbild. Dies hätte aus verschiedenen Gründen als schreiend disproportional empfunden werden können, blieb aber doch unverhältnismäßig trocken konstatiert und kaum politisch grundsätzlich kommentiert. Während im kleineren Gebiet, in Ostdeutschland, mit ehedem deutlich staats- und parteipolitischer Ausrichtung, einerseits die Standorte von Gedenkstätten zahlreich waren – und noch zahlreicher die Gedenkstellen, Denkmale und Würdigungstafeln – zeigte sich andererseits in der alten Bundesrepublik eine ziemlich unangepasste Pluralität, die mit einer in Teilen sogar kümmerlichen Befassung einherging, was die inhaltlichen Präsentationen betrifft.

Durchaus mehr aus guten und weniger aus unguten Gründen geriet anstelle dessen das Thema »Instrumentalisierung« von Antifaschismus in der DDR zu einem hitzigen Politikfeld. Dass die Ausgestaltungen von Erinnerung der östlichen Seite sehr weitgehend »von oben« dekretiert und die westdeutsche, mit örtlich sehr unterschiedlichen Basisinitiativen, fast ausnahmslos durch schwierig geführte Auseinandersetzungsprozesse entstanden war, schien in der Folge diametral gegensätzliche Erscheinungsbilder zu begründen. Tatsächlich waren die wesentlich reduzierteren Präsentationen deutlich häufiger eher »von unten« bewegt entstanden. Allerdings konnte dadurch teilweise eine tragfähigere Kultur demokratischen Selbstverständnisses der Auseinandersetzung auf diesem Gebiet aufkeimen. Unter den in der DDR weitgehend vorgegebenen Bedingungen politischer Kanalisierung, sowohl der historischen Forschung als auch der öffentlichen Inszenierung, sind in der Regel Verbindungen zu bürgerschaftlichen »Graswurzel«-Initiativen dann auch eher verhindert als »nur« behindert worden.

Mit dem grundlegenden demokratischen Wandel nahm, nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung um den Stellenwert der NS-Gedenkstättenarbeit im Vereinigungsprozess, der Druck hin zu Veränderungen im erinnerungskulturellen Umgang in Ost und West zu. Einerseits galt es zunehmend, alle Opfergruppen umfassend einzuschließen, und andererseits, sich entschieden den Defiziten beider Seiten viel intensiver und in einem handlungsorientierten Verbund von bürgerschaftlicher Mitsprache-Möglichkeit, wissenschaftlicher Kooperation und politischen Entscheidungsgremien zu widmen. Zügig entstanden – auf einem Weg von Ost nach West – ab Anfang der 1990er-Jahre in der Umsetzungsform zumeist durch Landesparlamente errichtete Gedenkstätten-Stiftungen. Sie wurden bundespolitisch durch Enquete-Kommissionen zur deutschen Einheit gestützt. Im Ergebnis versprachen die Stiftungsstrukturen mit ihren verschiedenen Organen, insbesondere den beratenden Gremien, genau die Triebkräfte zu entwickeln, die im Prozess der deutschen Neuvereinigung eine glaubwürdige Erinnerungskultur etablieren würden.

Aus dem breiten Spektrum der nun dreißig Jahre ins Land gegangenen Entwicklung sollen nur Beispiele des eingangs erwähnten »Miteinanders« erwähnt werden: Das jahrzehntelange Ringen um die Anerkennung der Schoah im KZ-Außenlager Lieberose in Jamlitz. In diesem Außenlager des KZ Sachsenhausen mussten Tausende jüdische Häftlinge Zwangsarbeit verrichten. Eine Mehrheit überlebte dies nicht.

Im Februar 1945 erschoss die SS kurz vor Auflösung des Lagers dort mehr als 1 300 jüdische Häftlinge. Mit seinen historisch aus dieser Zeit bedingten Nachkriegs-Verwerfungen wahrlich ein kompliziert bedenklicher Ort, der eine unvergleichliche Sensibilität sowohl gegenüber der weitgehend verdrängten jüdischen Ursprungstragödie, als auch gegenüber der ebenfalls bis 1989 tabuisierten Bruch- und Verlustgeschichte des NKWD-Speziallagers am selben Platz einschloss. Wohl hauptsächlich deshalb verschwammen dort die vereinigten Kräfte aller Seiten oft mehr hinter sehr differenten Eigeninteressen. Und im Fall aller guten Worte zur Geschichts- und Erinnerungspolitik bei gefälligen Reden an Jahrestagen, fand kaum jemand außerhalb der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Verständnis für eine jüdische Standpunktbegründung, beispielsweise zum Charakter eines jüdischen Friedhofs im Bereich des Massakerorts von Anfang Februar 1945.

Wellen von Prestige- und Dominanzstreben unterspülten immer wieder die vermeintlich knapp zuvor erreichten Vereinbarungen. Erst recht nach den archäologischen Suchgrabungen und den vor Ort hinter dem Rücken der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und dem Zentralrat der Juden verabredeten Deals zwischen dem brandenburgischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur und der Evangelischen Kirche zu Grundstückseigentum und zur Trägerschaft des Gedenkortes. Unverzichtbar für jede Schrittfolge war in diesen Konfliktlagen, dass der Vorsitzende des Internationalen Beirats Thomas Lutz und der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Günter Morsch alle Opferverbände, nicht zuletzt auch den Zentralrat der Juden einbanden und den vertretenen Anliegen Unterstützung zusicherten. Wie sonst hätten die letztendlich klaren Entscheidungen zur Überführung eines historischen Areals herbeigeführt und schließlich die Aufnahme einer Gedenk-, Erinnerungs- und Dokumentationsstätte Jamlitz/Lieberose in die Stiftungssatzung der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten verwirklicht werden können? Und wo, wenn nicht an diesem Ereignisort, würde einer Erinnerung, einer Dokumentation und einem Gedenken an die Deportation und Ermordung insbesondere der ungarischen Juden Raum geboten werden können? Denn wer sollte in der Perspektive eine solche, eklatante Missachtung weiter hinnehmen? Hier kam es auf jeden Einzelnen an, der willens und zäh genug war, an den Erfordernissen zur überregionalen, ja international gebotenen Wahrnehmung geschichtspolitischer Verantwortung des Bundeslandes Brandenburg festzuhalten.

So wie in Lieberose kam eigentlich im Wandel der Zeiten zu keiner Zeit irgendein substanzieller Schritt der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten einfach nur aus gutem Willen zustande. Nichts floss wie geschmiert, einfach und selbstverständlich dem Haushalt der Stiftung oder dem der Gedenkstätten zu. Auch bei Sondermitteln, die in durchaus nennenswertem Umfang zur Verfügung gestellt wurden, stellten Begründungen, Anträge und Debatten auf allen Ebenen ständige Herausforderungen dar, um bei den Entscheidungsträgern Akzeptanz zu finden sowie den Standards der öffentlichen Kontrolle zu entsprechen. Jedem Planungszyklus, jedem Gestaltungsschritt, jedem Erhalt von Sachzeugnissen ging ein Wust von Papierkram voraus. Einfach nur Kommen, Sehen, Entscheiden, so lief nichts.

Beispielsweise lag das absolut marode große Holzgebäude auf dem ehemaligen SS-Truppengelände, das als SS-Wirtschaftsgebäude (»Grünes Ungeheuer«) fungierte, in den letzten Zügen vor dem restlosen Zusammenbruch. Das Argument viel zu hoher Kosten drohte jede konstruktive Idee einer Restaurierung zu erdrücken. Doch unsere Diskussion untereinander und die Inaugenscheinnahme der Ruine nahm eine interessante Wendung: Der entgegengerichtete Gedanke wurde laut und der bedeutende Stellenwert des achsenzentrierten Baukörpers des SS-Wirtschaftsgebäudes für das architektonische Verständnis der Gesamtanlage – vom Eingangstor des SS-Kasernengeländes über den Turm A bis zur Spitze des Häftlings-Baracken-Lagers – hervorgehoben. Nun war der Beirat dran, die knifflige Frage zu lösen und die gewonnenen Überzeugungen, den Entscheidungsträgern transparent und mehrheitsfähig zu vermitteln. Das Unterfangen konnte nur gelingen und die Kontur des Baukörpers des SS-Wirtschaftsgebäudes erhalten werden, weil niemand der Stimmberechtigten im Beirat sich der kohärenten und dabei geduldigen Erklärung zu den inakzeptablen Perspektiven einer anderweitigen Entscheidung zu entziehen vermochte. Auf die einfache, aber einsichtige Darlegungsweise kam es an, um auch unbequem-schwierige Projekte umzusetzen!

Erst recht konnten politisch fragwürdige Hürden, zum Beispiel zu den Gedenkstätten in Brandenburg/Havel – wo unter anderem Erich Honecker jahrelang im Zuchthaus einsaß – nur nach langer Wissensakkumulation zu den Geschehnissen dort und oftmaligen Interventionen bei staatlich Verantwortlichen überwunden werden. Ein erster Schritt zur Euthanasie-Gedenkstätte im Alten Zuchthaus konnte nur »Open-Air«, noch mit dem damaligen brandenburgischen Kulturminister Steffen Reiche und zu Lebzeiten von Ignatz Bubis, durchgesetzt werden. Doch was damals an Erkenntnissen schon vorhanden war, verdichtete sich erst zwingend nach einem von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten veranstalteten Symposium und einem überaus nachhaltigen Engagement und wissenschaftlicher Recherche von Sylvia de Pasquale, Günter Morsch und Thomas Lutz. So erfuhr ich von fachwissenschaftlich neuen Belegen für die ersten jüdischen Sammel-Transporte aus dem Klinikum Buch und dem Gaskammer-Massenmord nach Brandenburg/Havel im Juni 1940. So fühlte ich mich bestärkt, die fürchterlichen Erkenntnisse unbedingt in einer gesonderten Gedenkstätte dauerhaft öffentlich machen zu helfen. Manches der Entscheidung, die Gedenkstätte mit neuen Räumlichkeiten, einer neuen Ausstellung und vor allem mit einer Leiterin und pädagogischem Personal (im Mindestmaß!) auszustatten, kam erst nach voneinander getrennten, sehr mühseligen Bemühungen zustande. Dennoch gilt mir dies seither als ein Höhepunkt dessen, was im »Miteinander« bei der Um- und Neugestaltung der Gedenkstätten maßstabsbildend sein sollte. Schließlich gelang es der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten auch, das Gedenken in der Hinrichtungsstätte des früheren Zuchthauses Brandenburg-Görden zu verstetigen und im Rahmen einer Dauerausstellung über den dortigen Terror in den unterschiedlichen historischen Phasen des Zuchthauses aufzuklären.

Von besonderer Bedeutung bei allem war immer – wie im Fall des Klinkerhafens beim KZ Sachsenhausen –, die ehemaligen Häftlinge in die Ausgestaltung der Erinnerung einzubeziehen. Insbesondere wenn es um Überblendungen von jüdischer Erinnerung ging, mussten emotional manche Belastungen, aber auch viele Zielkorrekturen und Kompromisse abgeglichen und im Hinblick auf absehbare Realitäten immer wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Jedenfalls war dies beim Autor dieser Zeilen so. Hier erwirkte »mein« Beiratsvorsitzender Thomas Lutz durch seine beruhigende kommunikative Geduld nicht nur bei mir ein hohes Maß an Vertrauen.

Schon der Postumfang für die Einladungen der Ehrenamtlichen zu den halbjährig einzuberufenden Sitzungen sprach Bände. Tagesordnungspunkt für Tagesordnungspunkt waren im Internationalen Häftlingsbeirat vom Vorsitzenden Thomas Lutz und dem Stiftungsdirektor Günter Morsch sowie den jeweils Verantwortlichen für die Gedenkstätten Standpunkte und Argumente zu begründen gewesen, die dann nochmal mit Selbstverständlichkeit in die Vorlagen zu den Sitzungen des Stiftungsrates einflossen, bis sie sattelfest per Beschluss der Umsetzung anempfohlen wurden. Solange ich die Ehre hatte, an der Seite von Ignatz Bubis sel. A. oder Salomon Korn Termine wahrzunehmen, ließ sich noch etwas entspannter mit meiner verantwortbaren Meinungsäußerung umgehen. Doch zunehmend erschienen über »die Wende« hinaus frühere »Mühen der Ebenen« (B. Brecht) konserviert (und manchmal auch »listiges Tagwerk«) in der vereinten Bundesrepublik unbeschadet weiter bestanden zu haben. Meine Rolle in der Vertretung des Zentralrats der Juden zu erfüllen, machte zunehmend Fachkenntnisse erforderlich, die nicht nur angelesen werden mussten, sondern auch ein gewisses Wissens-Verständnis erforderten. Wissensvermittlung, freundschaftlich anvertraut, nie schnöde belehrt, wie ich das von Thomas Lutz erfuhr, war der »Kitt« für das, was das »Füreinander« für mich ausmachte. Und obwohl personell, den neu geschaffenen Stiftungsstrukturen entsprechend, die Leitungsposten neu zu besetzen waren, realisierten wir von den Intentionen her sehr abgestimmt unsere Vorhaben! So liegen die ausgewählt beschriebenen Pakete einer erneuerten Erinnerungskultur in meiner Erinnerung vor, ohne dass ich je auch nur einen Anflug von Arroganz in der Zusammenarbeit erlebt hätte.

Der Vertreter von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, der Thomas Lutz im Internationalen Beirat der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten war, machte seiner Delegierung alle Ehre. Er stand dabei immer zugkräftig bereit, koordinierte, kooperierte, bestärkte und ermutigte, informell in Hunderten Beratungen und offiziell in jährlich mehrfachen Gremiensitzungen. Seine Wiederwahl stand niemals in Frage!

Dr. Peter Fischer ist für den Zentralrat der Juden in Deutschland seit 1993 Mitglied im Internationalen Beirat und im Stiftungsrat der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.

 

[1]    Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, 2 Bde., Bd.1: Bonn 1995 (2. Aufl), Bd.2: Bonn 1999.