Erinnern an Kriegsendphasenverbrechen an der Ostseeküste
Ein Zwischenbericht zum Cap-Arcona-Dokumentationszentrum in Neustadt in Holstein
In Neustadt in Holstein, einer heute von Tourismus und der Marine geprägten kleinen Stadt an der Ostsee am nördlichen Rand der Lübecker Bucht, entsteht in den nächsten Jahren ein neues Dokumentationszentrum zur »Cap-Arcona-Katastrophe« am 3. Mai 1945 und den damit verbundenen »Kriegsendphasenverbrechen« an KZ-Häftlingen aus Neuengamme und Stutthof. In kommunaler Trägerschaft betrieben, wird das Projekt mit finanzieller Unterstützung von Bund, dem Land Schleswig-Holstein und der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten realisiert. Dieser Bericht gibt aus kuratorischer Sicht die bisherigen konzeptionellen Überlegungen, die Projektgeschichte und den aktuellen Planungsstand wieder und wirft einen Blick auf die noch anstehenden Arbeiten. 2028 wird das Dokumentationszentrum hoffentlich eröffnet werden können.
Zum Beispiel Manfred Goldberg
Der 15-jährige Manfred Goldberg und seine Mutter Rosa erlebten am 3. Mai 1945 innerhalb weniger Stunden entsetzliche Todesängste und unfassbare Freude: Die beiden gehörten zu einer Gruppe Überlebender des KZ Stutthof, denen am Nachmittag jenes Tags am Ortsausgang von Neustadt die ersten britischen Panzer entgegenrollten. Die SS-Männer, die sie bewachten, flohen daraufhin und Manfred, seine Mutter sowie weitere KZ-Häftlinge kamen nach Jahren des Grauens frei.
Noch wenige Stunden zuvor hatten SS-Wachmänner, Marinesoldaten und Volkssturmmitglieder Hunderte KZ-Häftlinge, überwiegend Jüdinnen und Juden, der Großteil Frauen und Kinder, am Strand und im Hafenbereich ermordet. Diese waren wie die Goldbergs Häftlinge, die zuvor aus dem KZ Stutthof bei Danzig in einer mehrtägigen Fahrt über die Ostsee hierher deportiert worden waren. Fast ohne jede Versorgung waren sie in zwei einfachen, eigentlich nur für Binnengewässer geeigneten Lastkähnen (»Schuten«) eingepfercht, die von Schleppern gezogen wurden. An Bord dieser beiden Lastkähne »Vaterland« und »Wolfgang« waren je etwa 900 bis 1.000 Menschen der brutalen Willkür ihrer Bewacher ausgesetzt – nur etwa 730 je Lastkahn überlebten die Zeit auf See. In Neustadt angekommen, sollten sie schließlich auf dort liegende Seeschiffe gebracht werden. Darunter die »Cap Arcona«, ursprünglich ein Luxusschiff, das seit dem 14. April 1945 manövrierunfähig in der Lübecker Bucht vor Neustadt auf Reede lag und auf Befehl der SS ab dem 26. April 1945 mit Tausenden Häftlingen aus dem KZ Neuengamme bei Hamburg belegt worden war. Auch auf diesen »schwimmenden Konzentrationslagern« herrschten entsetzliche Zustände und bis heute ist ungeklärt, was kurz vor Kriegsende eigentlich mit den dort eingepferchten Menschen geschehen sollte. Die vorliegenden Quellen lassen keine eindeutigen Aussagen darüber zu.
Die Überstellung der Stutthof-Häftlinge, die am 2. Mai 1945 mit der »Vaterland« und der »Wolfgang« in Neustadt ankamen und an der »Cap Arcona« und der »Thielbek« festmachten, auf die schon völlig überfüllten KZ-Schiffe scheiterte jedoch unter anderem an der Weigerung der Kapitäne. Die Wachmannschaften fuhren daraufhin mit den Schleppern an Land. Unbewacht lösten die Häftlinge die Leinen und die manövrierunfähigen Schuten trieben über Nacht an das Ufer. So konnte ein großer Teil der Häftlinge an Bord der Schuten – darunter auch die Goldbergs – an Land gelangen. Doch dort wurden sie von Marinesoldaten und der SS in den frühen Morgenstunden wieder aufgegriffen. Am Vormittag des 3. Mai richteten Marinesoldaten, Gendarmen der Ordnungspolizei, SS-Wachen und Angehörige des Sicherheitsdienstes ein Massaker unter den Männern, Frauen und Kindern an, die ohnehin nach jahrelanger KZ-Haft und tagelanger Fahrt ohne ausreichende Verpflegung völlig entkräftet und geschwächt waren. Einige wurden auf den Schuten erschossen, andere während eines mehrstündigen Todesmarsches vom Strand bis zur U-Boot-Schule auf der Hafen-Westseite von Neustadt. Etwa 270 Personen wurden auf diese Weise noch ermordet, bevor die anrückenden britischen Soldaten die Übrigen befreien konnten.
Für Manfred und seine Mutter endeten damit in Neustadt fast dreieinhalb Schreckensjahre in Ghettos, Arbeitslagern und KZs. Im Dezember 1941 waren sie aus Kassel, wo Manfred und sein jüngerer Bruder Hermann geboren und aufgewachsen waren, nach Riga deportiert und von dort in verschiedene Konzentrations- und Arbeitslager verschleppt worden, zuletzt ins KZ Stutthof bei Danzig. Hermann hatte diese Zeit nicht überlebt, er wurde 1943 als 9-Jähriger in einem Arbeitslager ermordet.
Nach ihrer Befreiung blieben Manfred und seine Mutter als Displaced Persons für einige Zeit zunächst in Neustadt (hauptsächlich im Krankenhaus, wo die Mutter, zeitweilig auch Manfred, behandelt wurden), dann in der Nähe von Grömitz im Kinderheim »Lensterhof«. Hier warteten befreite jüdische Kinder und Jugendliche, meist ohne Eltern, auf ihre Auswanderung. Die Goldbergs konnten im September 1946 nach England gehen, wohin Manfreds Vater im August 1939 noch kurz vor Kriegsanfang entkommen war.
Bis heute lebt Manfred Goldberg mit seiner Familie in London. Er ist einer der wenigen noch lebenden Holocaust-Zeitzeugen – und in England einer der prominentesten. Seit einigen Jahren spricht er über seine Geschichte vor Interessierten, vor allem vor Schülerinnen und Schülern in Großbritannien. Eine große Ausnahme und besondere Ehre: Im Mai 2023 sprach er via Zoom live zum ersten Mal mit deutschen Schülerinnen und Schülern – bei einem Schulübergreifenden Event in Neustadt, durch das die aus Neustadt stammende Hamburger Journalistin Christina Mänz führte. Sie hat ihn auch bereits mehrfach in London besucht und interviewt.
Nach Deutschland kehrte Manfred Goldberg nach 1946 nur ein einziges Mal zurück; in seine Heimatstadt Kassel, als ein Stolperstein für seinen ermordeten Bruder verlegt wurde. Wir hoffen sehr, dass Manfred Goldberg 2025, 80 Jahre nach seiner Befreiung, der bereits ausgesprochenen Einladung folgen kann und Neustadt besuchen wird. Christina Mänz wird ihn dann begleiten.
Biografien stehen im Mittelpunkt
Manfred Goldbergs Geschichte wird zu den Biografien gehören, die im geplanten neuen Cap-Arcona-Dokumentationszentrum in Neustadt in Holstein im Mittelpunkt stehen. Goldbergs Geschichte zeigt schon in ihrer eigenen Komplexität die Herausforderungen, die sich beim Umgang mit Biografien stellen. Neustadt in Holstein ist für ihn der Ort der Befreiung und Endpunkt eines langen Leidenswegs, wie er typisch für KZ-Häftlinge war, die nicht zu alt und nicht zu jung waren und es trotz der mörderischen Umstände schafften, zu überleben. Die bei Überlebenden meist bessere Quellenlage, schon alleine ihre eigenen Erlebnisberichte, ermöglichen eine anschauliche Darstellung ihrer Schicksale – oft anschaulicher, als dies bei Ermordeten möglich ist. Dies darf nicht zu einer einseitigen Darstellung führen – denn die überaus größte Zahl der im Holocaust Verfolgten überlebte schließlich nicht. Und ist Neustadt als letzte Station in Manfred Goldbergs Verfolgungsgeschichte die wichtigste? Wird es ihm und seiner Biografie gerecht, sie in den Mittelpunkt zu stellen?
Überaus komplex, dies dürfte bereits beim Lesen der Biografie Goldbergs aufgefallen sein, sind zudem die Ereignisse am 2. und 3. Mai in Neustadt und in der Lübecker Bucht. Dabei fehlt in obiger Darstellung noch ein wesentlicher Teil: nämlich die Bombardierung der »Häftlingsflotte« vor der Neustädter Bucht durch die britische Royal Air Force am frühen Nachmittag des 3. Mai 1945 – nur wenige Stunden vor dem Einzug britischer Truppen in Neustadt. Der Einsatz geschah im Rahmen einer groß angelegten Aktion gegen die in einigen Buchten Schleswig-Holsteins konzentrierten deutschen Schiffseinheiten, um eine angenommene Absatzbewegung von Teilen der Wehrmacht nach Norwegen zu verhindern. In drei Wellen flogen die britischen Jagdbomber die Angriffe auf die Schiffe »Cap Arcona«, »Thielbek« und »Deutschland«. Die Piloten der Royal-Air-Force-Staffel wussten zum Zeitpunkt des Angriffs nicht, dass die Schiffe »Cap Arcona« und »Thielbek« zu schwimmenden Konzentrationslagern umfunktioniert worden waren. Zwar hatte ein britischer Offizier am Abend des 2. Mai nach der Eroberung Lübecks von einem Repräsentanten des Schweizer Roten Kreuzes erfahren, dass sich KZ-Häftlinge auf den Schiffen befanden. Diese Information war jedoch nicht schnell genug weitergegeben worden. So kam es zu der tragischen Situation, dass Tausende von Häftlingen von ihren potenziellen Befreiern in den letzten Stunden des Kampfgeschehens in der Region getötet wurden.
Die »Thielbek« – ein Frachtschiff, das am 1. Mai 1945 vom Lübecker Industriehafen in die Neustädter Bucht geschleppt worden war – geriet nach mehreren Treffern in Brand und sank innerhalb von 15 Minuten; auf ihr waren ca. 2.800 Häftlinge eingepfercht. Nur etwa 50 Menschen konnten sich retten. Die »Cap Arcona« stand nach Beschuss rasch vom Heck bis zum Mittelschiff in Flammen. Das große Schiff kenterte mit mehr als 4.200 Häftlingen an Bord und brannte aus, weil es wegen des niedrigen Wasserstands nicht vollständig unterging. Für die meisten Häftlinge, die in den Laderäumen auf den unteren Decks eingepfercht waren, gab es kein Entkommen. Andere Häftlinge, die sich durch den Sprung ins Wasser zu retten versuchten, ertranken oder erfroren in kurzer Zeit im 7 bis 8 Grad kalten Wasser.
Die wenigen Rettungsboote beanspruchten die Besatzungsmitglieder und SS-Bewacher für sich, ihnen galten auch die wegen des Beschusses aus der Luft und vom Land nur schleppend anlaufenden Rettungsaktionen von deutscher Seite. Laut der Erinnerung des 2. Offiziers der »Cap Arcona«, Thore Domminguet, waren nur sechs Fahrzeuge zu den Schiffswracks ausgelaufen. Den verzweifelten Gefangenen, die es bis an die Rettungsboote schafften, schlugen die Bootsbesatzungen auf die Hände, bis sie zurück ins Wasser fielen, oder erschossen sie systematisch. Auch britische Tiefflieger nahmen in Unkenntnis der Situation die Überlebenden im Wasser und die Rettungsboote unter Beschuss. Nur etwa 400 bis 450 Häftlinge, die an Bord der »Cap Arcona« gewesen waren, überlebten. Ein weiteres Frachtschiff, die »Athen«, wurde nur leicht beschädigt, weil sie kurz vor dem Angriff in den Hafen von Neustadt kommandiert worden war. Alle 1.998 KZ-Häftlinge an Bord überlebten.
Komplexitätsreduktion?
Die in ihrer Komplexität schwer zu überschauenden Ereignisse in Neustadt und in der Lübecker Bucht am 3. Mai 1945 werden den Kern der neuen Dauerausstellung im Dokumentationszentrum bilden: die Deportation der Häftlinge vor allem aus Neuengamme nach Lübeck und von Stutthof unter anderem nach Neustadt, die Morde am Neustädter Ufer und im Hafen, die Luftangriffe auf die KZ-Schiffe, die ausbleibenden Hilfsmaßnahmen, schließlich die Befreiung durch die Briten. Die Ausstellung wird nach derzeitigen Überlegungen so gegliedert, dass die Erzählung konzentrisch von diesem Tag einerseits in die Vergangenheit und andererseits in die Zukunft, in die »Nachgeschichte« führt. Diese Rück- und Ausblicke folgen thematischen Leitfragen, deren Beantwortung die Besucher*innen allmählich in die Lage versetzt, das Geschehen zu entwirren und zu verstehen, und sie vom lokalen Ereignis zu den übergreifenden Zusammenhängen führt. Die Berichte von Zeitzeugen und ihre Biografien sind dabei stets präsent und stehen im Mittelpunkt.
Die »Cap-Arcona-Katastrophe« mit ihren vielen Toten ist die Chiffre für das Geschehen in der Lübecker Bucht am Schluss des Zweiten Weltkrieges. In ihrem Schatten wurde Neustadt in Holstein Neustadt Schauplatz schwerer »Kriegsendphasenverbrechen«. Die Misshandlung oder Ermordung der Stutthof-Häftlinge am Strand und im Hafen wurden in Erinnerung und Gedenken oftmals »vergessen« oder nur am Rande miterzählt. Hier andere Akzente zu setzen, ist eine der Aufgaben des neuen Dokumentationszentrums. Ebenso wird es darum gehen, die vielfältige Nachgeschichte, die Geschichte des Erinnerns, Vergessens, Aufarbeitens zu erzählen.
Gedenken und Erinnern
In den Wochen und Monaten nach der Bombardierung der Schiffe wurden zahlreiche Leichen in der gesamten Lübecker Bucht angeschwemmt und an mehreren Dutzend Orten auf bereits existierenden Friedhöfen und in neu angelegten Massengräbern beigesetzt. In den Jahren darauf entstanden in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern zahlreiche Friedhöfe und Gedenkstätten. Der 1948 eingeweihte
Ehrenfriedhof am Neustädter Strand ist bis heute jedes Jahr Ort einer zentralen Gedenkfeier
für die Opfer der »Cap-Arcona-Katastrophe«, an der Überlebende und deren Nachfahren und Angehörige von Opfern aus vielen Staaten teilnehmen. In den vergangenen Jahren hat sich hier eine lebendige, von bürgerschaftlichem Engagement getragene Gedenk- und Erinnerungskultur herausgebildet, die von länderübergreifender und internationaler Kooperation geprägt ist. Die Amicale Internationale KZ Neuengamme (AIN) spielt hier eine tragende Rolle.
Die Geschichte der Gedenkorte und der Wandel der Erinnerungs- und Gedenkkultur an diesen Gedenkorten spiegelt auch die gesellschaftliche und politische Entwicklung sowohl im westdeutschen Schleswig-Holstein (britische Besatzungszone und spätere Bundesrepublik) als auch im ostdeutschen Mecklenburg-Vorpommern (sowjetische Besatzungszone, bis 1990 DDR), an dessen Küste ebenso viele Opfer gefunden wurden. Aufschlussreich ist vor allem ein Vergleich zwischen der Gedenkkultur in Neustadt in Holstein, wo sich der Ehrenfriedhof zu einem wichtigen internationalen Erinnerungsort entwickelte, und in Grevesmühlen, wo die Gedenkstätte am Tannenberg zum zentralen Cap-Arcona-Gedenkort der DDR wurde.
Schließlich ist auf den Wandel der Gedenkkultur in den letzten dreißig bis vierzig Jahren einzugehen, in denen die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus ausgehend von bürgerschaftlichen Initiativen allmählich einen breiteren Raum in der öffentlichen Erinnerungskultur einnahm. Manche Leerstellen der Erinnerung (in Neustadt waren dies die Morde an den Häftlingen aus dem KZ Stutthof, aber auch die Geschichte des bedeutenden DP-Lagers in der Nachkriegszeit) wurden erst durch hartnäckiges Engagement Einzelner aufgedeckt.
Der lange Weg zum Dokumentationszentrum
Auch die Finanzierung und der Bau des Dokumentationszentrums sind letztlich dem jahrelangen Engagement verschiedener örtlicher und regionaler Akteur*innen zu verdanken, die sich in einem »Netzwerk Cap-Arcona-Gedenken« zusammengetan haben und in der Region immer wieder für eine Vergrößerung und Erneuerung des in Neustadt seit 1990 bestehenden Cap-Arcona-Museums geworben haben. 1990 war dieses vom langjährigen Stadtarchivar Wilhelm Lange eingerichtete Museum in Neustadt ein großer Schritt nach vorn, doch von vornherein war es mit zwei kleinen Ausstellungräumen von 13,5 und 20,4 Quadratmetern, verteilt auf zwei Etagen und nicht barrierefrei, viel zu klein und entsprach mit der Zeit auch nicht mehr den aktuellen didaktischen und wissenschaftlichen Anforderungen.
Im November 2015 veranstaltete die Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein (LAGSH) in Neustadt eine Regionalkonferenz »Zur Zukunft des Cap-Arcona-Gedenkens«, ebenso beschäftigten sich damit 2016 und 2017 drei Workshops, veranstaltet von der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten und der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommerns. 2019 organisierten Stadt und Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten in Neustadt in Holstein eine Forschungstagung zur Cap-Arcona-Katastrophe.
2016 berief die Stadt unter Einbeziehung der Bürgerstiftung einen vorläufigen Begleitausschuss, der 2017 auf Grundlage zweier Kurzkonzepte Empfehlungen zur Zukunft des Museums vorlegte.
Zwei Optionen wurden vorgeschlagen:
• eine »kleine Lösung« mit der Neugestaltung eines größeren Raums (ca. 60 bis 90 Quadratmeter) im Neustädter zeiTTor-Museum im historischen Kern der Stadt. Hier wurden als Vorteile die Synergieeffekte gesehen, weil z.B. Seminarräume und weitere Infrastruktur gemeinsam genutzt werden könnten und kein zusätzliches Personal für Aufsicht etc. notwendig gewesen wäre. Nachteil wäre die weiterhin sehr kleine Ausstellungsfläche und geringe Strahlkraft gewesen.
• eine »große Lösung« mit einem eigenen Gebäude, gegebenenfalls auch der Umbau eines bestehenden Gebäudes.
Da sich zunächst weder ein geeigneter Standort für eine »große Lösung« fand noch die Finanzierung sowohl der Investitions- als auch der Betriebskosten absehbar war, beschloss die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Neustadt im März 2020 die Umsetzung der »kleinen Lösung«. Dieser Beschluss wurde ausdrücklich als »Interimslösung« bezeichnet.
Als schon mit den konzeptionellen Arbeiten begonnen worden war, kam doch noch die glückliche Wendung: im Herbst 2021 konnte die Stadt ein bebautes Nachbargrundstück des zeiTTor-Museums erwerben. Eine architektonische Konzeptstudie ergab, dass hier und im Hinterhof des zeiTTors ein ausreichend großer Neubau Platz finden und dieser mit dem zeiTTor verknüpft werden kann. Somit ergeben sich nun auch bei der »großen Lösung« günstige Synergieeffekte vor allem in Hinblick auf Aufsichts- und Kassenpersonal, was die dauerhaften Betriebskosten begrenzt. Ein »letter of intent«, der von zahlreichen Politiker*innen und Institutionen unterzeichnet wurde, warb daraufhin für eine finanzielle Unterstützung des Projekts durch das Land Schleswig-Holstein und den Bund – mit Erfolg: Im Mai 2022 beschloss der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages eine »Anschubfinanzierung« in Höhe von 5 Mio. Euro. Damit ist die Finanzierung des Neubaus gesichert.
Auch Konzeption und Realisierung der neuen Dauerausstellung sind inzwischen finanziell gesichert. Das Land Schleswig-Holstein beteiligt sich inklusive der Vorplanungskosten mit insgesamt 1,5 Mio. Euro aus dem Infrastrukturprogramm IMPULS. Die Stadt Neustadt in Holstein bringt Eigenmittel in Höhe von 375.000 Euro ein. Eine weitere Förderung erfolgt über den Digitalen Masterplan des Landes Schleswig-Holstein. Schließlich hatte auch ein Antrag bei der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien Erfolg, die nach positivem Votum des Expertengremiums eine Förderung in Höhe von gut 1,1 Mio. Euro aus der Gedenkstättenkonzeption des Bundes zusagte.
Der Begleitausschuss des Projekts, in dem unter anderem Prof. Wolfgang Benz mitwirkt, beschloss im August 2022 nach mehreren Workshops und Arbeitssitzungen die inzwischen von den Kurator*innen Stefan Nies und Julia Werner verfasste Konzeption für das Dokumentationszentrum. Seitdem wurden die inhaltlichen Arbeiten fortgesetzt, sodass nun auch ein »Forschungsüberblick und Darstellung des aktuellen Kenntnisstands zur Geschichte und Nachgeschichte« vorlag und mit einer Zusammenstellung von Biografien, Dokumenten, Abbildungen und Exponaten begonnen wurde. Die Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten finanziert zur Schließung von Forschungslücken ein Forschungsprojekt zu den
Zahlen, Namen und Bestattungen der Opfer, zur Geschichte des jüdischen Lebens im DP-Lager Neustadt und zur Geschichte der Erinnerungskultur seit 1945. Das Projekt läuft bis Ende 2024 und soll weitere Grundlagen für die Ausstellung schaffen und zudem in einer Publikation münden.
Bis Ende 2024/Anfang 2025 werden ein Architekturwettbewerb für das Gebäude und ein Gestaltungswettbewerb für die Ausstellung abgeschlossen sein, dann die Arbeiten am Feinkonzept für die Ausstellung beginnen.
Was ist geplant?
Kern des Dokumentationszentrums wird eine neue, ca. 250 bis 300 Quadratmeter umfassende Dauerausstellung, ergänzt um Gruppenarbeitsräume. Denn Hauptzielgruppen sind Jugendliche und junge Erwachsene, die ganz überwiegend als Schulklassen und Gruppen der historisch-politischen Bildungsarbeit ins Dokumentationszentrum kommen. Das Dokumentationszentrum kooperiert daher mit dem Kinder- und Jugendnetzwerk Neustadt in Holstein e.V., das bereits in den vergangenen Jahren als Akteur der Erinnerungs- und Gedenkarbeit aufgetreten ist und seinerseits eng mit den Schulen vor Ort zusammenarbeitet. Darüber hinaus wendet sich das Dokumentationszentrum an Tourist*innen sowie an Neustädter*innen, Anwohner*innen der schleswig-holsteinischen und nordwestmecklenburgischen Ostseeregion sowie der Metropolregion Hamburg, wird also auch Einzelbesucher und Familien ansprechen, mit sehr unterschiedlichem Vorwissen. Eine besondere Zielgruppe sind internationale Gäste aus dem Umfeld der Überlebenden und ihrer Angehörigen.
Neben der Dauerausstellung im Dokumentationszentrum ist die bessere Erschließung, Erläuterung und Vernetzung von Erinnerungs- und Gedenkorten sowohl in Neustadt als auch in der gesamten Ostseeregion Teil des Projekts. Neben Informationstafeln soll dies durch einen regionalen Mediaguide und über ein digitales »Cap-Arcona-Portal« erfolgen, das vom Dokumentationszentrum gemeinsam mit dem regionalen Netzwerk Cap-Arcona-Gedenken aufgebaut und betreut wird. Das »Cap-Arcona-Portal« soll über eine Karte nicht nur die Erinnerungs- und Gedenkorte erschließen, sondern auch niedrigschwellig aufbereitete thematische Einführungen (»Storys«) sowie vertiefende Beiträge zu Einzelaspekten und Personen beinhalten, inklusive einer biografischen Datenbank.
Wichtiger Bestandteil der Dauerausstellung ist zudem eine »Ermittlungsstation«, die Zielgruppen unterschiedlichen Alters verschiedene Rechercheansätze für eine individuelle Spurensuche in der Ausstellung und im »Cap-Arcona-Portal« bietet. Dabei geht es einerseits um die Erkenntnis, dass die Rekonstruktion der historischen Ereignisse äußerst schwierig ist, andererseits darum, sich kritisch mit dem Quellenwert, der Aussagekraft und der Perspektive von Quellen wie z.B. Fotos zu befassen sowie Gründe für Leerstellen (z.B. den Verlust von Archivmaterial) zu verstehen.
Das zukünftige Dokumentationszentrum wird ein wichtiger Akteur der zukünftigen Gedenk-, Erinnerungs- und Vermittlungsarbeit zum Nationalsozialismus im Osten Schleswig-Holsteins und Westen Mecklenburg-Vorpommerns. Es wird daher bestrebt sein, die Zusammenarbeit und Vernetzung in der Region fortzusetzen und auszubauen. Die Fördergeber in Bund und Land Schleswig-Holstein haben diese Chance erkannt und so kann das Projekt mit einer guten finanziellen Grundlage in die Aufbauphase starten. Hingegen sind die finanziellen Zusagen für den späteren dauerhaften Betrieb bisher noch dürftig – bisher wird nur von max. 1,5 Personalstellen ausgegangen und es sind auch die sonstigen Betriebskosten nur durch die große Bereitschaft der kleinen Stadt Neustadt in Holstein, den größten Anteil zu tragen, gesichert. Hier sind noch dicke Bretter zu bohren, um das Projekt auf eine auch dauerhaft auskömmliche Grundlage zu stellen.
Stefan Nies und Julia Werner sind Historiker*innen und planen und kuratieren für die Stadt Neustadt in Holstein das neue Cap-Arcona-Dokumentationszentrum.
Mirco Schlippes ist Kulturkoordinator der Stadt Neustadt und leitet das Museum Cap Arcona. Er ist Projektleiter für das neue Dokumentationszentrum.