Fußball und Erinnerung

Bildungsprojekte zum Nationalsozialismus im Sport eröffnen neue Zugänge und Zielgruppen.
12/2024Gedenkstättenrundbrief 216, S. 16-24
Andreas Kahrs

Fußball und Erinnerung

Bildungsprojekte zum Nationalsozialismus im Sport eröffnen neue Zugänge und Zielgruppen

 

Sportliche Großereignisse wie die Fußball-Europameisterschaft in diesem Jahr in Deutschland sind heute mehr als nur Sportveranstaltungen. Sie werden begleitet durch ein umfangreiches Rahmenprogramm mit kulturellen Veranstaltungen, die gesellschaftliche Diskussionen rund um den Sport aufgreifen. Dieses Ziel verfolgte auch das Projekt »Fußball und Erinnerung«, das anlässlich der UEFA EURO 24 im Auftrag der DFB-Kulturstiftung und in Kooperation mit dem World Jewish Congress (WJC) von der gemeinnützigen GmbH what matters initiiert wurde. Die große Präsenz des Themas Fußball während des Turniers sollte helfen, den Blick auf die Geschichte des Sports zu lenken, in der zahlreiche Linien auch in die Geschichte des Nationalsozialismus führen. Verteilt im ganzen Land und insbesondere in der Nähe der zehn Turnier-Spielorte beteiligten sich 21 Gedenkstätten, Erinnerungsorte und Museen ebenso wie Vereine mit spezifischen Veranstaltungen, die auf einer zweisprachigen Website veröffentlicht wurden. Internationale Gäste des Turniers sowie sport- und geschichtsinteressierte Menschen in Deutschland wurden eingeladen, jenseits der Spiele der EURO 24 durch das Prisma des Sports einen Blick auf die Geschichte des Nationalsozialismus zu werfen.

Ein Blick in die Angebote macht deutlich, wie facettenreich Sport- und Fußballbezüge zur Vermittlung von NS-Geschichte eingesetzt werden können. Die Spurensuche zur Geschichte jüdischer Mitglieder des FC Schalke 04 ist eines von vielen Beispielen, in denen die deutschen Vereine über ihre eigene Geschichte einen Einstieg zur Verfolgungsgeschichte der Jüdinnen und Juden bieten können.

Das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide ermöglichte einen neuen Blick auf Zwangsarbeiter verschiedener Länder, die in der Zeit in Berlin trotz ihrer Gefangenschaft als Fußballer in Erscheinung traten. In den Gedenkstätten Dachau, Neuengamme, Buchenwald und Sachsenhausen konnten sich Besucher:innen über das für viele Menschen überraschende Phänomen des Fußballspielens in Konzentrationslagern der Frage nähern, welche Bedeutung der Sport in verschiedenen Formen für die Häftlinge in den Lagern hatte. Ebenfalls Teil des Angebots war die Ausstellung »Sport.Masse.Macht. Fußball im Nationalsozialismus«. Sie war eines der Leuchtturmprojekte des Kulturprogramms zur EURO 24 des Landes Berlin und wird zukünftig als Wanderausstellung an verschiedenen Orten helfen, die Diskussion über die Kraft des Sports zu Inklusion und Ausschluss in Geschichte und Gegenwart fortzuführen.

Die Angebote der Gedenkstätten im Projekt »Fußball und Erinnerung« bieten nicht nur häufig einen alternativen Zugang zur NS-Geschichte, sondern können durch den speziellen thematischen Bezug für Fangruppen, Sportvereine und ihre Mannschaften auch neue Zielgruppen für die Bildungs- und Erinnerungsarbeit zum Nationalsozialismus ansprechen. Das umfassende Programm war nur möglich, weil es seit mehr als 20 Jahren unterschiedliche Initiativen und viele engagierte Akteur:innen in Clubs, Fangruppen und Gedenkstätten gibt, die das Potenzial der Verbindung von Sport und Erinnerungsprojekten nutzen wollen. Eine Fortsetzung der Plattform »Fußball und Erinnerung« soll die bestehenden Initiativen stärken und ein weiteres Wachsen des Netzwerks unterstützen. Zwar ermöglichen einzelne Sportereignisse wie die EURO 24 eine vorübergehende Aufmerksamkeit für das Thema. Langfristig liegen jedoch vor allem in der kontinuierlichen Arbeit mit Vereinen und Fangruppen die besonderen Möglichkeiten für eine nachhaltige Bildungsarbeit. Hier hat sich über die vergangenen Jahre bereits eine Praxis entwickelt, die kontinuierlich mit der Gedenkstättenlandschaft vernetzt werden konnte.

 

Erinnerungsaktivitäten im Fußball seit mehr als 20 Jahren

Dass die historisch-politische Bildung in der deutschen Fußballlandschaft mittlerweile eine gewachsene Tradition hat, geht zurück auf den Beginn der 2000er Jahre. Damals begannen erste Fangruppen und Fanprojekte Besuche in NS-Gedenkstätten in ihre Aktivitäten zu integrieren. Einige verbanden beispielsweise Auswärtsspiele ihres Vereins in München mit einem Besuch in der Gedenkstätte Dachau oder organisierten erste Reisen in die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. In den meisten Fällen waren diese Initiativen Teil der zunehmenden Aktivitäten gegen Rechtsextremismus, die insbesondere im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 an Aufmerksamkeit gewannen. Einen wichtigen Beitrag zur Wahrnehmung dieses Problems im deutschen Fußball leistete das »Bündnis aktiver Fußballfans« (BAFF) mit der Ausstellung »Tatort Stadion«, die seit 2001 über Rassismus und Antisemitismus im Fußball aufklärte. Mit der zunehmenden Professionalisierung der Fanarbeit in den Vereinen entstand ein Dominoeffekt, durch den immer mehr Vereine und Fanprojekte eigene Initiativen ins Leben riefen. Ein wichtiger Schritt in dieser Entwicklung folgte 2004 mit der Gründung der Initiative »!Nie Wieder – Erinnerungstag im Deutschen Fußball«, die den verschiedenen Erinnerungsaktivitäten einen übergeordneten Rahmen gab und die Vernetzung erinnerungspolitisch engagierter Fans und Projekte förderte. Die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte wurde schließlich in vielen Clubs zu einem festen Bestandteil der Fanarbeit.

Neben dem Fokus auf die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung gerieten auch das Verhalten von Vereinsfunktionären und Spielern während der NS-Zeit allmählich ins Blickfeld der Fans. Den Vereinen selbst fiel es wie vielen gesellschaftlichen Akteuren in Deutschland lange Zeit schwer, ihre eigene Geschichte während des Nationalsozialismus kritisch zu hinterfragen. Das vorherrschende Narrativ beschrieb die Fußballclubs als »unpolitisch« ohne eine spezifische Rolle in der nationalsozialistischen Gesellschaft. Einen Wendepunkt markierte die Veröffentlichung der Studie »Fußball unterm Hakenkreuz: Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz« im Jahr 2005, die der DFB bereits 2001 in Auftrag gegeben hatte. Zwar wurde die Studie in einigen Aspekten auch kritisch rezipiert, sie beförderte allerdings zweifellos ein neues historisches Bewusstsein und führte dazu, dass einige Vereine eigene Bücher und Untersuchungen über ihre Geschichte in der NS-Zeit veröffentlichten.

Ein weiterer wichtiger Schritt war die Ausrufung des Julius-Hirsch-Preises, der ebenfalls 2005 erstmals durch den DFB verliehen wurde und seitdem jährlich Gedenkinitiativen und Bildungsprojekte der Antidiskriminierungsarbeit im Fußball auszeichnet. Der vormalige Nationalspieler Julius Hirsch, einer von nur zwei Juden in der Geschichte der deutschen Auswahlmannschaft, wurde im März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort wahrscheinlich nach seiner Ankunft ermordet. Durch die Schaffung des nach ihm benannten Preises und die steigende Zahl an Preisträger:innen aus verschiedenen Vereinen, entwickelte sich die Erinnerung an Julius Hirsch zu einer vereinsübergreifenden Klammer in den Aktivitäten der deutschen Fußballwelt.

Über die Jahre entstand auf diese Weise unter Fans, Fanprojekten und Vereinen die Dynamik einer übergreifenden Vernetzung und eines gemeinsamen Austausches. Voneinander lernen ohne den sonst gepflegten sportlichen Wettstreit, lautete das Motto mit Blick auf Erinnerungsprojekte im Fußball. Dass sich das wachsende Netzwerk regelmäßig begegnen konnte, verdankt sich verschiedenen Initiativen, die vermehrt auch einen Brückenschlag zwischen den Fußball-Akteur:innen und der Gedenkstättenlandschaft ermöglichten. Teilweise auch, weil sich eine partielle personelle Überschneidung etablierte.

Anlässlich des 75. Todestages von Julius Hirsch reisten 2018 Fans verschiedener Vereine in die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau und rekonstruierten in einem Workshop der DFB-Kulturstiftung die Umstände der Deportation. Im Dezember 2021 fanden sich mehr als 80 Personen zu einem digitalen Vernetzungstreffen zur »Erinnerungsarbeit im Fußball« zusammen, das vor allem von den Koordinationsstellen der Fanprojekte und Mitarbeiter:innen der Gedenkstätten Neuengamme und Bergen-Belsen initiiert wurde. Im folgenden Jahr traf sich der Kreis der Interessierten vor Ort in Neuengamme. Einen wichtigen Beitrag zum gemeinsamen Austausch leistete auch die Deutsche Fußball Liga (DFL). Seit 2016 ermöglicht sie regelmäßig Fortbildungen für Personen aus der Fanarbeit, die die Teilnehmenden unter anderem in die Gedenkstätten Auschwitz-Birkenau, Theresienstadt und Sachsenhausen führten.

Die Aktivitäten der letzten Jahre haben zunehmend auch öffentliches Interesse geweckt und dazu geführt, dass das Potenzial von Fußballfans und Vereinen in ihrem Einsatz gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung und für die Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen anerkannt und wertgeschätzt wird. In der Debatte über den Fortbestand dieser Erinnerung in der deutschen Gesellschaft wird häufig die Frage gestellt, welche Institutionen eventuelle Leerstellen besetzen können und welche Akteure, jenseits von Schule und staatlichen Einrichtungen, zur langfristigen Sicherung der Wissensvermittlung beitragen können. Fußballvereine und Fangruppen haben das Potenzial, diese Leerstellen teilweise zu füllen, und übernehmen somit eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe, wenn sie Bildungsangebote über die Geschichte des Nationalsozialismus an Fans richten. Für sie sind die Aktivitäten ein Baustein einer weiter gefassten Anti-Diskriminierungsarbeit, die ihren Fokus auf Rassismus, Homophobie und Antisemitismus hat.

Durch die positiv konnotierte Bindung zu den Fans bietet sich Fußballvereinen eine einzigartige Chance, mit den Bildungskonzepten eine Alltagswelt zu adressieren, die von anderen Initiativen und Bildungsinstitutionen schwer zu erreichen ist. Fans können für antisemitische und rassistische Äußerungen sensibilisiert werden und lernen, Hintergründe und Erscheinungsformen zu erkennen. Sie nehmen die gemachten Erfahrungen nicht nur mit in ihr Fußballumfeld, sondern auch in ihren weiteren Alltag mit Freund*innen, Familie und Kolleg*innen. Ein besonderer Lernkontext entsteht bei Gruppen mit Sportbezug, weil sie mit Blick auf Alter und Herkunft ungemein heterogen sein können. Nicht selten treffen unter dem gemeinsamem Bezug zu den Farben ihres Vereins Menschen aufeinander, die sich im alltäglichen Leben zumindest nicht in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit historischen oder politischen Fragestellungen begegnen. Das Kennenlernen und die Akzeptanz unterschiedlicher Positionen und Perspektiven wird somit zu einem wichtigen Element der Aktivitäten.

 

Besondere Bezugspunkte durch Heimatstadt und Verein

Bildungsangebote, die Zielgruppen aus dem Sport ansprechen wollen, können von verschiedenen Zugängen zur Vermittlung der NS-Geschichte profitieren. Die in der Bildungsarbeit häufig anzutreffende Bezugnahme auf lokale Aspekte der Geschichte des Nationalsozialismus erweist sich im Fußballkontext als besonders fruchtbar. Fußballfans zeigen eine hohe Identifikation mit »ihrer Stadt« und Traditionen spielen eine wichtige Rolle innerhalb der Vereine. »Woher kommen wir?« – diese Frage erhält im Fußball eine doppelte Relevanz, denn die Stadtgeschichte spiegelt auch die Gründungsgeschichte der Vereine wider. Viele europäische Fußballklubs wurden im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts gegründet. Die 1930er Jahre waren die Jahre der ersten Erfolge, erste Helden und Legenden wurden geboren. Nach dem Krieg schrieben die deutschen Fußballvereine, wie viele andere Institutionen auch, ein halbes Jahrhundert lang ihre Geschichte eher unpolitisch – so, als habe es in der Zeit des Nationalsozialismus kein politisches Handeln im Sport gegeben.

Mit Rückgriff auf die mittlerweile verfügbaren Forschungsarbeiten lässt sich über die Frage, wie sich sowohl Stadt- als auch Vereinsfunktionäre im Nationalsozialismus verhalten haben, ein spannender Zugang zum Thema gewinnen. Fans sehen die NS-Geschichte durch das Prisma ihrer Vereinsgeschichte und wollen wissen und verstehen, wie sich ihre Offiziellen in der NS-Zeit verhalten haben und wie mit jüdischen Mitgliedern oder politischen Gegnern der Nationalsozialisten umgegangen wurde. Sie lernen nicht zuletzt auch, wie sich Spieler und Funktionäre den neuen Machthabern angedient haben. Aktionen in unterschiedlichen Fanszenen, von Choreografien über Veranstaltungen bis zu eigenen Recherchen zu ehemaligen Spielern und Funktionären zeigen, wie vielfältig sich diese Bezugnahme in Projekten von und mit Fans gestalten lässt. Besonders auf lokaler Ebene können Gedenkorte diese Arbeit unterstützen und die Arbeit mit Fans und Mitgliedern zu einem Baustein lokaler Erinnerung verwandeln.

Eine Auswahl aus Projekten zeigt, wie vielfältig diese Aktivitäten mittlerweile sind: An den jüdischen Fußballer Ernst Alexander erinnert eine ihm gewidmete Straße in der Nähe der Schalker Veltins-Arena. Alexander spielte in den Jugendmannschaften des Clubs und floh vermutlich als Reaktion auf die Novemberpogrome 1938 in die Niederlande. Nach seiner Verhaftung infolge der deutschen Besatzung wurde er im Juli 1942 aus dem Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz deportiert, wo er nach wenigen Wochen starb.

Anhand von individuellen Schicksalen, wie dem von Ernst Alexander, lassen sich wesentliche Etappen der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden erzählen. Fans und Mitglieder können durch die eigene Identifikation mit dem Verein zugleich eine Antwort auf die Frage finden, was diese Geschichte mit ihnen zu tun hat: Ernst Alexander war Schalker, so, wie sie es sind.

Fans von Hertha BSC Berlin recherchierten die Geschichte des jüdischen Mannschaftsarztes Hermann Horwitz, der 1943 in Auschwitz ermordet wurde. Das Projekt förderte zahlreiche bisher unbekannte Details der Familiengeschichte sowie erstmals ein Foto des Mediziners zutage und konnte selbst über die Zeit von Horwitz als Häftlingsarzt in Auschwitz berichten. Die Geschichte von Hermann Horwitz ist durch die Aktivitäten der Fans ein Teil der Vereinsgeschichte geworden und dient ebenfalls als Einstiegspunkt, um über die NS-Geschichte Berlins, die Orte der Verfolgung und die Mechanismen der gesellschaftlichen Ausgrenzung ins Gespräch zu kommen.

Bei Bayern München erinnerten Mitglieder der Ultragruppe »Schickeria« mit einer Choreografie nicht nur an den jüdischen Präsidenten Kurt Landauer, sondern auch an das Vereinsmitglied Hugo Railing, der 1942 im Mordlager Sobibor starb. An den Beispielen wird deutlich, dass die Beschäftigung mit der Geschichte des eigenen Vereins im Nationalsozialismus häufig auf eine Initiative »von unten« zurückgeht und somit die Herausbildung einer aktiven Erinnerungskultur bedeutet.

Vermittelt durch die Biografien der Vereinsmitglieder lässt sich auch die Geschichte der Orte ihrer Verfolgung erschließen. Mit diesem Ansatz besuchten Fans und Mitarbeiter von Arminia Bielefeld gemeinsam die Gedenkstätte Buchenwald und erinnerten an den ehemaligen jüdischen Präsidenten Julius Hesse, der im Zuge der Novemberpogrome 1938 ins Konzentrationslager verschleppt und 1944 in Theresienstadt ermordet wurde. Mit der gleichen Motivation unternahm das Fanprojekt von Mainz 05 Reisen mit Fans in die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, den Todesort des ehemaligen jüdischen Präsidenten des Vereins Eugen Salomon.

Zahlreiche Hinweise auf die antisemitische, rassistische oder politische Verfolgung durch das NS-Regime lassen sich vor der eigenen Haustür finden. Eine lokale Spurensuche kann einen wichtigen Anknüpfungspunkt an die Lebenswelt von Sportmannschaften, Fußballfans und Vereinsmitgliedern bilden. Der öffentliche Raum ist für viele Fans geprägt von Orten, die sie mit dem Stadionbesuch und dem Spieltags-Erlebnis verbinden. Viele dieser Orte sind zugleich verbunden mit der Deportationsgeschichte der Stadt, ohne dass dies im Alltag präsent ist. Wohnungen von jüdischen Deportierten, ehemalige Sammelstellen (sogenannte Judenhäuser) oder Ausgangspunkte von Deportationen können gemeinsam erkundet werden und somit historische Ereignisse mit realen Orten der Alltagswelt verknüpft werden. Die Teilnehmenden entwickeln dabei einen aufmerksamen Blick für ihre Umgebung und können auch Verantwortung für die Stiftung und die Erhaltung öffentlicher Erinnerungszeichen übernehmen.

Bei Borussia Dortmund begeben sich Mitglieder und Fans seit Jahren auf die Spurensuche einer Deportation von fast 800 Jüdinnen und Juden in das polnische Zamość. Niemand aus diesem Transport überlebte den Holocaust. Die meisten der Deportierten wurden im Rahmen der »Aktion Reinhardt« in den Mordlagern Belzec und Sobibor ermordet. Diese Orte sind in der deutschen Erinnerungslandschaft stark unterrepräsentiert. Indem die Fans die Spurensuche aufnehmen und sich auch in Dortmund an Gedenkveranstaltungen zur Deportation beteiligen, leisten sie einen wichtigen Beitrag dazu, dieses Ereignis in die Erinnerung der Dortmunder Stadtgesellschaft zurückzuholen.

Vor Ort in Dortmund erinnern BVB-Fans seit vielen Jahren außerdem mit einem Gedenklauf an den ehemaligen Platzwart des Vereins, Heinrich Czerkus. Er war als Kommunist im Widerstand aktiv und wurde wenige Wochen vor Kriegsende von den Nationalsozialisten erschossen. Aktuelle Beispiele für die gezielte Einbeziehung sportspezifischer Räume in die Erinnerungsarbeit fanden sich auch im Programm von »Fußball und Erinnerung«. Ein Projekt der beiden Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht in Zusammenarbeit mit einem Bündnis für Erinnerungskultur aus dem Umfeld des VfL Osnabrück widmet sich den Geschichten von Sportstätten und ihrem Wandel von Jubelstätten zu Unrechtsorten der Zwangsarbeit. Das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln hat einen Rundgang zu Orten im Umfeld des Stadions des 1. FC Köln erarbeitet, der aufzeigt, welche Bedeutung der Raum um das damalige Müngersdorfer Stadion im Nationalsozialismus für die Deportationen aus der Stadt hatte.

Verfolgte Sportler:innen und Sport im Konzentrationslager

Auch jenseits der lokalen Verankerung von Bildungsprojekten bietet das Thema Sport verschiedene Möglichkeiten für einen spezifischen Zugang zur Geschichte des Nationalsozialismus. Wie in verschiedenen Gedenkstätten bereits praktiziert, kann ein Blick auf das Phänomen des Sports im nationalsozialistischen Lagersystem einen besonderen lebensweltlichen Bezug für Gruppen herstellen, die in ihrer Identität als aktive Sportler:innen oder als Fans von Sportmannschaften die Gedenkorte besuchen. In thematischen Rundgängen oder Workshops erfahren die Besucher:innen, welche Lebensbedingungen in den Lagern herrschten und welchen gewaltsamen Praktiken die Gefangenen ausgesetzt waren. Dass in den Lagern auch Fußball gespielt wurde, sorgt häufig für Irritation. Tatsächlich war es nur für wenige Häftlinge möglich, sich fußballerisch zu betätigen. Die Frage danach, wer spielen konnte und wer nicht, gibt den Blick frei auf die Vielschichtigkeit der »Häftlingsgesellschaft« und die Mechanismen innerhalb eines Lagers. So lässt sich auch mit Blick auf das Fußballspielen die wichtige Erkenntnis vermitteln, dass die Gefangenen in den Lagern keine homogene Gruppe bildeten, sondern sich im Hinblick auf Herkunft, Geschlecht und Sprache voneinander unterschieden.

Unabhängig vom Sport in Gefangenschaft kamen viele Menschen als Sportler:innen in die Lager. Ein Blick auf ihre Vorkriegsbiografien stellt ihrer Wahrnehmung als bloße Opfer der NS-Verfolgung eine Lebensgeschichte an die Seite, die den Teilnehmenden von Bildungsprojekten auch hier einen anderen Zugang zu den Verfolgungsbiografien ermöglicht. Ein Blick auf Gefangene wie den tschechischen Dachau-Häftling Čestmír Vycpálek, den polnischen Auschwitz-Häftling Antoni Łyko und den als Juden in Auschwitz-Birkenau ermordeten US-Bürger Eddy Hamel, Stürmerstar aus dem Team von Ajax Amsterdam, ermöglicht über die Erzählung von Lebensgeschichten verfolgter Fußballspieler die Vermittlung von Heterogenität der Verfolgtengruppen und die Diskussion über Unterschiede der nationalsozialistischen Verfolgung.

Anregungen und Fragestellungen aus Bildungsmaterialien zu verfolgten Sportlern, die von den Arolsen Archives in Zusammenarbeit mit Borussia Dortmund erstellt wurden, lassen sich adaptieren und auf andere Kontexte anwenden. Sowohl mit lokalen Ansätzen als auch mit thematischen Zugängen über den Sport lassen sich Besuche in den Gedenkstätten vor- und nachbereiten und Bildungsformate auch mehrteilig oder mehrtägig gestalten.

 

Ausblick

Die hier nur skizzierten Ansätze erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und sind Teil eines andauernden Prozesses. Eine wichtige Aufgabe besteht in der Aufrechterhaltung von Formaten für Austausch und Vernetzung zum Thema, auch um weitere Akteur:innen in die Arbeit einzubeziehen. Besonders der Breitensport und damit auch weitere Sportarten sollten verstärkt in die Aktivitäten integriert werden, die bislang vor allem in der Fanarbeit der Fußballvereine etabliert sind. Thematisch richtet sich der Blick häufig primär auf die Verfolgten und weniger auf die Strukturen und Akteur:innen der Verfolgung, wo besonders in der Frage des Ausschlusses von Sportler:innen aus den deutschen Vereinen ein großes Potenzial im beschriebenen Themenfeld liegt. Letztlich bietet vor allem der Sport einen Ausgangspunkt, um Bildungsprojekte zum Nationalsozialismus auch international zu vernetzen. Eine gemeinsame Initiative des WJC und what matters unter dem Titel »Together Through Sport« soll hierfür als Ausgangspunkt dienen. »Fußball und Erinnerung« soll auch zukünftig als Plattform für alle dienen, die sich als Gedenkstätte oder Museum mit einem speziellen Angebot an sportinteressierte Besucher:innen oder Sportmannschaften und Vereine wenden möchten. Wir freuen uns über eine Kontaktaufnahme von Interessierten und unterstützen gerne weitere Initiativen zum Aufbau einer nachhaltigen Erinnerungsarbeit zu Sport und Nationalsozialismus.

 

 

Dr. Andreas Kahrs ist Historiker und Co-Geschäftsführer der gemeinnützigen GmbH what matters. Die NGO hat einen Schwerpunkt auf Projekten zur Bekämpfung von Antisemitismus und zur Erinnerung an den Holocaust. In Zusammenarbeit mit dem World Jewish Congress hat what matters die internationale Initiative »Together Through Sport« für die Arbeit mit Sportverbänden, Vereinen, Fangruppen und weiteren Sportinstitutionen ins Leben gerufen.