»Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten, die Lawine hält keiner mehr auf.«[1] Dies ist die Lehre, die Erich Kästner einst aus der Erfahrung mit der NS-Diktatur gezogen hat. Die Bekämpfung einer drohenden Diktatur stellte sich für den Schriftsteller damit letztlich als eine »Angelegenheit des Terminkalenders, nicht des Heroismus«[2] dar.
Damit ist ein zentrales Motiv benannt, das uns und zahlreiche Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu Jahresbeginn 2012 bewog, einen Verein zur Erforschung und Vermittlung der badischen Landesgeschichte der Jahre 1918 bis 1945 zu gründen. Wenn aus der NS-Geschichte etwas gelernt werden könne und müsse – so unser aller Überzeugung –, dann sei es vor allem die Tatsache, dass Hass und Gewalt beizeiten im solidarischen Miteinander aller Demokratinnen und Demokraten begegnet werden muss.
Demgemäß ging und geht es uns darum, »die ganze Geschichte« einer Entwicklung zu erzählen, die schließlich in einem Weltenbrand mit zig Millionen Toten endete. Statt den Fokus vorrangig oder gar ausschließlich auf die Regimephase des Nationalsozialismus zu legen, müssten gleichermaßen auch dessen Bewegungsphase sowie die Umstände in den Blick genommen werden, unter denen die Braunhemden erstarken und schließlich an die Macht gelangen konnten.
In diesem Zusammenhang – so unsere weitere Überlegung – gelte es auch und vor allem den oft vergessenen frühen Gegnern der Nationalsozialisten und ihrer Verbündeten Beachtung zu schenken: jenen Menschen also, die die Gefahren beizeiten erkannten, hartnäckig vor einer Preisgabe der Demokratie warnten und schon lange vor 1933 aktiv gegen den Aufstieg des Nationalsozialismus ankämpften. Sie, die deshalb nach der NS-»Machtergreifung« zu den ersten Verfolgungs-, Folter- und Mordopfern von SA, SS und Gestapo gehörten, werden heute, wenn überhaupt, dann meist eben genau als wehrlose Opfer statt als aktiv handelnde, weitsichtige Menschen erinnert. Aus dieser Rolle wollten wir sie quasi postum befreien. Und wir wollten darüber hinaus natürlich auch der Frage nachgehen, warum sie letztlich zu wenige waren, als dass sie den Gang in die Diktatur hätten aufhalten können.
Der demokratische Abwehrkampf zu Zeiten der Weimarer Republik sowie die in den ersten Jahren nach der NS-»Machtergreifung« im Inland oder vom Exil aus unternommenen Versuche, dem in Windeseile errichteten Terrorregime etwas entgegenzusetzen, der Rettungswiderstand vor wie im Krieg – all dies also sollte in unserer Forschungs- und Vermittlungsarbeit ebenso Beachtung finden wie die späten Versuche, das NS-Regime durch Aufklärung oder Tyrannenmord zu stürzen.
Wenn auch aus etwas anderer Perspektive, so kamen wir letztlich doch zu ähnlichen Ergebnissen wie die Soziologen Dana Giesecke und Harald Welzer: In ihrem just im Gründungsjahr unseres Vereins vorgelegten Plädoyer für eine ›Renovierung der deutschen Erinnerungskultur‹ warnten auch sie davor, den Nationalsozialismus »vom Ergebnis, also von der millionenfachen Vernichtung her, verstehen und erklären zu wollen«. Das Grauen, das der Nationalsozialismus erzeugt habe, müsse »auf diese Weise opak und erratisch erscheinen, denn die industrielle Produktion von Leichen« sei »als factum brutum notwendigerweise völlig unerklärlich«, und deshalb genüge »das Geschehen an sich nicht zum Mitfühlen und Mitdenken«.[3] Dass das heutige Erinnerungswesen in Deutschland »vor allem den Schrecken« erinnere, »nicht aber diejenigen, die etwas getan haben, um ihn zu verhindern oder wenigstens abzumildern«, sei demgemäß schlichtweg unverständlich.[4]
Bereits in der Gründungsphase des Vereins entstand die Idee, einen historischen Lernort zu schaffen, an dem die badische Landesgeschichte der Weimarer Republik und der NS-Zeit in all den hier skizzierten Facetten Würdigung erfahren solle. Am historischen Exempel gelte es herauszuarbeiten, was einen demokratischen Rechtsstaat ausmacht, warum er für ein solidarisches Miteinander unverzichtbar ist, wie man seine Bedrohungen frühzeitig erkennt und wie man ihnen couragiert entgegentritt. Dieses Angebot – so der Plan – solle sich dezidiert an Alte wie Junge, an »Geschichtsfreaks« wie »Normalos« richten. Hauptzielgruppe allerdings sollten Schülerinnen und Schüler sein.
Dass räumliche Nähe auch und gerade mit Blick auf die NS- und speziell auf die Widerstandsgeschichte ein »wertvolles Vermittlungsprinzip«[5] ist, wird niemand ernsthaft bestreiten wollen. In diesem Sinne sollte dem Lernort-Projekt nicht zuletzt auch die Aufgabe zukommen, eine geografische Lücke in der außerschulischen Bildungslandschaft des Landes Baden-Württemberg zu schließen.
Im württembürgischen Landesteil nämlich finden sich gleich mehrere Lernorte, die sich dem Thema »Nationalsozialismus« in landeshistorischer Dimension nähern: Mit dem Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg in Ulm und der Gedenkstätte Grafeneck bei Gomadingen erfahren zwei vereinsförmige Einrichtungen, die das Verfolgungs- und Terrorsystem der NS-Zeit zum Gegenstand haben, eine institutionelle Förderung durch das Land. Hinzu gesellen sich einige Angebote, die vom baden-württembergischen Haus der Geschichte in Stuttgart betreut werden – allen voran die ebenfalls in der Landeshauptstadt beheimatete Stauffenberg-Erinnerungsstätte sowie demnächst der in deren unmittelbarer Nähe entstehende Geschichtsort in der ehemaligen württembergischen Gestapo-Zentrale ›Hotel Silber‹. Im und für den badischen Landesteil hingegen fehlt bisher ein professionelles Angebot zum Thema.
Ein geeigneter geografischer Anknüpfungspunkt für einen Lernort zur badischen Landesgeschichte in Weimarer Republik und NS-Zeit war rasch gefunden: Als Haftort Hunderter früher Nazi-Gegner während der ersten sechs Jahre der NS-Diktatur steht das Konzentrationslager Kislau wie kein anderer Ort in der regionalen Perspektive des ehemaligen Landes Baden für die Themenkomplexe »Abwehrkampf«, »Widerstand« und »Verfolgung« zugleich. Errichtet im April 1933 auf dem Areal eines südlich von Heidelberg gelegenen früheren Bischofsschlosses, bestand das KZ Kislau ganze sechs Jahre lang – länger als alle anderen frühen Lager im deutschen Südwesten.
Bei den »Schutzhäftlingen«, die ohne rechtliche Grundlage nach Kislau oder in das zeitgleich errichtete KZ Ankenbuck bei Donaueschingen verschleppt wurden, handelte es sich zunächst fast ausschließlich um erklärte politische Gegner der Nationalsozialisten: Kommunisten, Sozialdemokraten, Freigewerkschafter und Reichsbanner-Männer aus Baden sowie – in Kislau – zum Teil aus der bayerischen Pfalz. Später wurden auch Zeugen Jehovas, couragierte Pfarrer und viele andere Menschen, die sich dem NS-System nicht beugen wollten, in Kislau festgehalten.
Kislau und Ankenbuck gehörten zu den wenigen frühen Lagern des NS-Regimes, die nicht von der SA, der SS oder der Gestapo befehligt wurden, sondern der Landesverwaltung unterstellt waren und es auch blieben – so in diesem Fall der des badischen Innenministeriums. Wie in den anderen frühen Lagern wollte man freilich auch dort die Häftlinge demütigen, ausbeuten und politisch neutralisieren.
Mit der Auflösung des KZ Ankenbuck im März 1934 fiel Kislau die Rolle des einzigen Konzentrationslagers in Baden zu. Zeitweise waren dort mehr als 170 Männer gleichzeitig in zwei Schlafsälen zusammengepfercht. Erst im Frühjahr 1939 wurde das KZ Kislau als – sieht man vom Sonderfall Dachau ab – reichsweit letztes der frühen Lager aufgelöst. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten dort mindestens 700 »Schutzhäftlinge« um ihre Freiheit und um ihr Leben gebangt, und Dutzende waren von Kislau weiter nach Dachau, Buchenwald oder Mauthausen »verschubt« worden.
Wie schon vor 1933 beherbergte die Kislauer Schlossanlage darüber hinaus auch während der NS-Zeit eine Landesarbeitsanstalt. In sie wurden Menschen eingewiesen, die man als »asozial« abgestempelt hatte. Seit 1934 fungierte der Schlosskomplex zudem als Durchgangslager für zurückkehrende ehemalige Fremdenlegionäre. Bevor sie nach Hause weiterreisen durften, mussten sie sich hier einer ideologischen »Schulung« unterwerfen. Nach der Auflösung des Konzentrationslagers diente Kislau des Weiteren als Strafgefängnis für politische Häftlinge.[6]
Die geografische Lage von Kislau kommt dem Vorhaben, dort einen Lernort für den badischen Landesteil zu errichten, sehr entgegen: Die Schlossanlage findet sich in unmittelbarer Nähe der Bahnstation Bad Schönborn – Kronau und damit zugleich an der Nahtstelle zwischen den beiden größten badischen Ballungsräumen. Sowohl von Heidelberg als auch von Karlsruhe aus ist sie in kürzester Zeit erreichbar. Das historische Kislauer Gebäudeensemble selbst steht für unsere Zwecke leider nicht zur Verfügung: Es dient heute als Außenstelle der Justizvollzugsanstalt Bruchsal. Deshalb hat das Land Baden-Württemberg ein Grundstück vor den Toren der Schlossanlage bereitgestellt, auf dem der künftige Lernort mit direkter Sichtachse zum authentischen Ort entstehen soll. Des Weiteren hat der Landtag mit den Stimmen von Grünen, CDU, SPD und FDP in seinem Doppelhaushalt 2015/2016 sowie nun auch in seinem Haushalt für das Jahr 2017 Mittel für ein Anschubprojekt zur Errichtung des Lernorts Kislau bereitgestellt. Auf dieser Grundlage konnte die Arbeit unseres Vereins wesentlich intensiviert und vor allem professionalisiert werden:
Seit dem Frühjahr 2015 ist ein kleines hauptamtliches Projekt-Team damit befasst, die Errichtung des Lernorts Kislau inhaltlich wie organisatorisch vorzubereiten. In einer ersten Projektphase wurde die historische und ausstellungstheoretische Forschungs- und Materiallage gesichtet. Im selben Zuge wurden innovative historische Lernorte in ganz Deutschland aufgesucht. Auf der Basis der so gewonnenen Eindrücke und Erkenntnisse hat das Team ein detailliertes Ausstellungs-, Vermittlungs- und Raumkonzept entwickelt.
Parallel zu alledem wurden eine Projekt-Mediathek aufgebaut und erste Originalobjekte sowie ein kleiner, aber umso interessanterer Nachlass mit wertvollen Originaltexten erworben. Im Benehmen mit den Verantwortlichen der Justizvollzugsanstalt wurde darüber hinaus das künftige Baugelände arrondiert und vermessen. Nachdem die Bauvoranfrage Ende 2015 den Bad Schönborner Gemeinderat passiert hatte, schrieben wir schließlich einen begrenzt offenen Realisierungswettbewerb für das zu errichtende Gebäude aus, der im Juli 2016 mit bestem Resultat abgeschlossen werden konnte: Nach dem einhelligen Urteil aller Jurymitglieder bietet vor allem der erstplatzierte Entwurf eine exzellente Grundlage für alle weiteren Planungen wie auch für die Mittelakquise. Dass er – wie sich am Ende des anonymisierten Verfahrens herausstellte – von einem Karlsruher Büro stammt, kann bei der Umsetzung des Vorhabens nur von Vorteil sein.
Im Rahmen einer im November 2016 von unserem Verein im Generallandesarchiv Karlsruhe ausgerichteten Fachtagung zu Herausforderungen und Chancen außerschulischen Lernens über den NS konnten wir darüber hinaus unser Netzwerk stark erweitern und Vertreterinnen und Vertreter von Geschichtseinrichtungen aus Baden-Württemberg sowie aus anderen Teilen Deutschlands und aus der Schweiz in einen fruchtbaren Dialog miteinander bringen. Die Aktivitäten des Projekt-Teams und der ehrenamtlich tätigen Vereinsmitglieder wurden von einer intensiven Werbe- und Öffentlichkeitsarbeit flankiert.
Im Jahr 2017 steht vor allem die Schaffung einer nachhaltigen Finanzierungsbasis für den Lernort Kislau auf der Agenda des Projekt-Teams wie des gesamten Vereins. Im Zuge einer klaren Akquise- und Fundraising-Strategie gilt es die Mittel für den Neubau und für dessen Innenausstattung einzuwerben. Ebenso gilt es eine nachhaltige institutionelle Förderung ab dem Jahreswechsel 2017/18 in Form einer Mischfinanzierung durch das Land einerseits sowie durch die im künftigen Einzugsgebiet des Lernorts liegenden Gebietskörperschaften andererseits sicherzustellen. Als Referenzeinrichtungen können in diesem Zusammenhang die Gedenkstätten in Ulm und Grafeneck dienen.
Darüber hinaus muss das Ausstellungs- und Vermittlungskonzept für den Lernort Kislau überdacht und weiterentwickelt werden. Dies soll im engen Austausch mit dem noch zu findenden künftigen Ausstellungsbüro sowie mit Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Schularten geschehen, die wir für ein »Jugend-Experten-Team« gewinnen konnten. Auch in die Entwicklung von Arbeitsmaterialien für den Schulunterricht sollen unsere »Jugend-Experten« einbezogen werden. Gleichzeitig gilt es einen interdisziplinär zu besetzenden wissenschaftlichen Beirat zu gründen und so eine Evaluation nach fachlichen Standards sicherzustellen.
Wie alle anderen, die sich heutzutage an die Konzeption eines historischen Lernorts machen, standen auch wir bei der Erarbeitung unseres vorläufigen Ausstellungs- und Vermittlungskonzepts vor einer vielschichtigen Aufgabenstellung: Das Darzubietende soll die Besucherinnen und Besucher weder mit Informationen erschlagen noch durch Vereinfachung entmündigen.[7] Es soll ihnen eine multimediale Reizüberflutung ersparen, erweiterte technische Möglichkeiten und veränderte Rezeptionsgewohnheiten freilich auch nicht völlig außer Acht lassen.[8] Es soll die Menschen nicht in eine passive Rolle drängen, sondern ihnen die Möglichkeit bieten, sich Inhalte selbst zu erschließen und dabei eigene Schwerpunkte zu setzen.[9] All dessen eingedenk ist es umso unabdingbarer, Ausstellungs- und Vermittlungskonzept »als gleichursprünglich zu denken«[10]
Über all diese grundsätzlichen Anforderungen an einen außerschulischen Lernort hinaus stellen uns nicht zuletzt auch die oftmals heterogenen Vorprägungen jener Gruppe von Besucherinnen und Besuchern vor neue Herausforderungen, die wir bei unseren Bemühungen vorrangig im Blick haben: Jugendliche und junge Erwachsene. Eine familiär bedingte emotionale Beziehung zum Thema »Nationalsozialismus« ist bei der überwältigenden Mehrheit der heutigen Schülerinnen und Schüler nicht mehr zu erwarten, denn schon ihre Großeltern gehören in der Regel bereits der ersten Nachkriegsgeneration an.[11] Die Situationen, in denen Erwachsene mit Jugendlichen in einen direkten Diskurs über dieses Thema treten, beschränken sich daher vielfach auf den schulischen Kontext beziehungsweise, da Zeitzeugenbesuche in Schulklassen immer seltener werden, auf den Unterricht durch die Fachlehrkräfte. Dies ist freilich nicht das einzige und vielleicht noch nicht einmal das markanteste »Alleinstellungsmerkmal« der heutigen jungen Generation: Anders als seinerzeit ihre Eltern sind Jugendliche und junge Erwachsene heute zahlreichen medialen Verfremdungen des Themas »Nationalsozialismus« ausgesetzt.[12] Die Inhalte von Spielfilmen wie »Inglorious Basterds« oder »Er ist wieder da« etwa wirken oft – begünstigt durch ihre permanente Verfügbarkeit im Internet – ohne jegliche Kontextualisierung auf die Konsumierenden ein und prägen das Bild, das diese sich vom Nationalsozialismus machen, maßgeblich mit. Ähnlich üben auch Computerspiele »historischen« Inhalts Einfluss auf die Geschichtsbilder junger Menschen aus: Indem die Gamerinnen und Gamer direkt in die Handlungen der – meist kriegerischen – Spiele eingreifen können, erschaffen sie sich eine eigene pseudohistorische Realität fernab geschichtlicher Fakten.[13] Auch jenseits dieser häufig exzessiv betriebenen Freizeitbeschäftigung lenkt die Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche das Rezeptions- und Lernverhalten junger Menschen zunehmend in Richtung einer visuellen Wahrnehmung.[14]
Angesichts des Skizzierten stellt sich unser vorläufiges Gestaltungskonzept für den Lernort Kislau als ein Versuch dar, eine zeitgemäße Form der Geschichtsvermittlung mit einem intensiven Wertedialog zu verknüpfen. Nicht nur junge Menschen, die den Lernort im Rahmen eines Gruppenangebots aufsuchen, sondern auch Individualbesucherinnen und -besucher möchten wir dazu anregen, über demokratische Grundwerte und ihre eigene Haltung zu diesen Grundwerten nachzudenken. Schon bevor sie sich mit dem historischen Gegenstand befassen, sollen sie deshalb gefordert sein, zu Wertefragen Position zu beziehen.
Im eigentlichen historischen Ausstellungsbereich soll es nicht zuletzt auch darum gehen, Geschichten zu erzählen und Spannung zu erzeugen.[15] Durch eine gezielte Mischung aus Raum- und Medieninstallationen soll ein atmosphärisch dichtes Bild der Jahre 1918 bis 1945 entstehen, das dennoch ab und an bewusst durch mediale Verfremdungen und Bezüge auf aktuelle Entwicklungen durchbrochen wird. Auch der viel beschworenen »Faszination des Biografischen«[16] suchen wir in hohem Maße Rechnung zu tragen, indem wir einige ausgewählte historische Persönlichkeiten immer wieder in verschiedensten Kontexten präsentieren.
Gruppenangebote für Schulklassen und andere Jugendgruppen haben wir mit dem erklärten Ziel konzipiert, die Jugendlichen »als Akteure aktiver Erinnerung in die Lage zu versetzen, sich in der lebendigen und lebensnahen Beschäftigung mit Geschichte zu üben«[17]. Dies freilich kann nur gewährleistet werden, wenn wir auf ihre je unterschiedlichen Befindlichkeiten, Einstellungen und Vorkenntnisse eingehen können. Deshalb möchten wir jeder Gruppe ein Tandem aus je einem Vermittler und einer Vermittlerin zur Seite stellen. Beide müssen nicht nur inhaltlich gut geschult sein, sondern auch über das nötige Einfühlungsvermögen und ein hohes Maß an Flexibilität verfügen.
Gleich zu Beginn ihres Besuchs am Lernort Kislau möchten wir den jungen Menschen Zeit und Raum geben, sich ihrer eigenen Werte bewusst zu werden und miteinander darüber ins Gespräch zu kommen, bevor sie sich in Kleingruppen auf eine biografisch akzentuierte Spurensuche in der Landeshistorie begeben. Dabei soll wohlgemerkt weniger ein Sammeln und Notieren von Fakten als vor allem ein aktives Nachspüren und ein wortwörtliches »Erfassen« im Vordergrund stehen. Abschließend sollen die Jugendlichen – moderiert von den beiden Vermittlern – die je unterschiedlichen Ergebnisse ihrer Geschichtserkundungen zusammentragen und zur eingangs geführten Wertediskussion in Bezug setzen.
Sind wir mit diesem Ansatz und mit unserem unten noch näher zu beschreibenden Gestaltungskonzept tatsächlich auf dem richtigen Weg? Diese Frage können uns nur Menschen beantworten, die unser Angebot später erreichen soll: Schülerinnen und Schüler. Deshalb möchten wir Vertreterinnen und Vertreter der nachwachsenden Generation eng an der weiteren Erarbeitung und Verfeinerung des Ausstellungs- und Vermittlungskonzepts beteiligen. Dem Jugend-Experten-Team, das sich zu diesem Zweck gerade im Schoße unseres Vereins konstituiert, gehören Jugendliche und junge Erwachsene aus unterschiedlichen Schularten an. Zusammen mit den Mitgliedern des LZW-Projekt-Teams werden sie das Konzept für den Lernort Kislau kritisch überarbeiten und konkretisieren. Darüber hinaus werden sie mittelfristig auch Arbeitsmaterialien und themenbezogene Einzelprojekte mit Schulklassen mitkonzipieren und mitgestalten.
Am vorläufigen Ende unserer Überlegungen, wie ein idealer Lernort Kislau aussehen könne, stand ein integriertes Gestaltungskonzept[18], das einer dialektischen Grundstruktur folgt: Gleich eingangs möchten wir die Besucherinnen und Besucher zur Reflexion über Wertfragen anregen. Hernach sollen sie entlang eines multimedialen Parcours verschiedenste Aspekte der badischen Landesgeschichte der Jahre 1918 bis 1945 erkunden, um sodann abschließend die Ergebnisse der Geschichtserkundung mit den zu Beginn aufgeworfenen Wertfragen zusammenzuführen.
Der räumlichen Anordnung der je einzelnen Bereiche messen wir bei alledem eine zentrale Rolle bei. Die Tatsache, dass der Lernort Kislau nicht innerhalb des historischen Gebäudekomplexes Unterschlupf finden kann, sondern neu erbaut werden muss, birgt – so gesehen – zumindest einen großen Vorteil: Das Gebäude- und Raumkonzept lässt sich fast ganz und gar an den didaktischen Erfordernissen ausrichten. Im Folgenden versuchen wir, das Konzept in der gebotenen Kürze zu skizzieren:
Beim Betreten des Lernorts Kislau gelangen die Besucherinnen und Besucher in eine lichte Lobby. Dort erwarten sie Sitzmöbel, eine Video-Installation Wertekanon sowie ein auf dem Boden eingezeichnetes Wertethermometer. Sie sind eingeladen, darüber nachzudenken, was ihnen persönlich mit Blick auf das menschliche Zusammenleben persönlich wert und wichtig ist, und nach Wunsch in einer Video-Box selbst einen Beitrag für den Wertekanon zu generieren.
Eine Zeitschleuse bindet die Lobby thematisch und atmosphärisch an den historischen Bereich des Lernorts an. Durch sie gelangen die Besucherinnen und Besucher zurück ins Jahr 1918. Auf ihrer rund hundert Jahre umspannenden Zeitreise sehen sie sich mit jeweils zeittypischen Audio-und Bildeindrücken sowie mit Leitfragen konfrontiert, denen sie später wiederbegegnen werden.
Beim Verlassen der Zeitschleuse finden sich die Besucherinnen und Besucher am Beginn eines in hallenartiger Atmosphäre inszenierten Geschichtsparcours wieder. Entlang zwölf mehr oder weniger chronologisch angeordneter Themenfelder lässt sich in diesem Raum die badische Landesgeschichte der Jahre 1918 bis 1945 in beliebiger Kombination und Reihung durchmessen.
Jedem Themenfeld ist eine bestimmte allgemeingültige Leitfrage zugeordnet, mittels derer sich die historischen Ereignisse in Bezug zur eigenen Lebenswelt setzen lassen. Einige Themenfelder werden von größeren Rauminstallationen wie einem Werte-labyrinth, einem Scheideweg, einer begehbaren Fluchtorte-Karte oder einem Widerstandsnest dominiert, andere sind vor allem durch Audio-, Video- oder – teilweise inter-aktive – Medieninstallationen wie einen Weimarer Wahl-O-Mat geprägt. Zeitfenster unterstützen den Gegenwartstransfer. Vertiefungsebenen eröffnen interessierten Besucherinnen und Besuchern detailliertere Einblicke.
In einem Forum, das zentral in den Geschichtsparcours eingebettet ist, können die gewonnenen Eindrücke abschließend zusammengeführt und reflektiert werden. Plenar-förmig angeordnete Sitztreppen laden zum Verweilen ein. An und auf den Treppenstufen finden sich Passagen aus der UN-Menschenrechtscharta, aus dem Grundgesetz sowie aus vielen anderen Texten, die sich um die Grundfragen »Freiheit«, »Gleichheit« und »Frieden« ranken und zum Nachdenken und Diskutieren einladen.
Schulklassen und andere Jugendgruppen werden in der Lobby von den Vermittlern begrüßt und über die Abläufe der kommenden Stunden informiert. Sodann sollen die Jugendlichen anhand des Wertethermometers ihrem bisherigen Wissen entsprechend überlegen und diskutieren, was Begriffe wie »Demokratie« und »Rechtsstaat« für sie persönlich bedeuten und was ihnen im Zusammenleben mit anderen wichtig ist. Anschließend stellen die Vermittler ihnen sieben historische Persönlichkeiten vor, die von teils völlig unterschiedlichen Weltanschauungen geleitet wurden, aber eine Gemeinsamkeit hatten: Sie verteidigten Demokratie und Menschenrechte gegen die Nazi-Barbarei. Die Jugendlichen werden aufgefordert, sich in Teams von maximal je sechs Personen zusammenzufinden, die später im Geschichtsparcours den Spuren jeweils einer dieser Leitfiguren folgen sollen.
Nachdem sie die Zeitschleuse teamweise durchquert haben, machen sich die Jugendlichen auf dem Geschichtsparcours auf die Suche nach Informationen über »ihre« Leitfiguren. Im ersten Themenfeld, das der Umbruchphase 1918/19 gewidmet ist, werden alle Leitfiguren vorgestellt. Danach tauchen sie in drei – individuell völlig unterschiedlichen – weiteren Themenfeldern auf. Alle Teams sammeln daher je verschiedene Eindrücke und Erkenntnisse. Lediglich drei spezifische Stationen des Geschichtsparcours, an denen es sich mit der Frage nach den eigenen Standpunkten auseinanderzusetzen gilt, sind für alle Teams obligatorisch. An Fundorten, die in den Themenfeldern platziert sind, wählen die Teams Gegenstände aus, die ihrer Meinung nach zu dem im jeweiligen Themenfeld beschriebenen Handeln ihrer Leitfigur passen. Anhand dieser Wertsachen sollen die historischen Geschehnisse im Wortsinn begreifbar werden. Zugleich dienen sie als Gedächtnisstützen für die spätere Diskussion im Forum.
Von den Vermittlern moderiert, tragen die Teams anschließend im Forum die Ergebnisse ihrer Erkundungen zusammen und werten sie gemeinsam aus. Dabei rücken ihre eigenen Werte und Ziele genauso in den Blick wie die der Leitfiguren.
Die Geschichte von Widerstand und Verfolgung in Baden ist bislang nur rudimentär erforscht. Auf eine Initiative unseres Vereins hin hat das baden-württembergische Wissenschaftsministerium zwei Promotionsstipendien bereitgestellt, mit denen sich ein Teil der Lücken schließen lässt. So konnte im Sommer 2016 ein an der Universität Freiburg angesiedeltes Promotionsprojekt zur Friedens- und Menschenrechtsbewegung in Baden während der Weimarer Republik begonnen werden. Im Herbst 2016 sodann ging ein weiteres, an der Universität Heidelberg betreutes Promotionsvorhaben zur »Schutzhaft« in Baden an den Start.
Manch andere Lücken müssen vorerst weiterhin offenbleiben. Auch deshalb gilt es dem Lernort Kislau ein Dokumentationszentrum anzuschließen, an dem künftig die gesamte Spannbreite von Widerstand und Verfolgung im ehemaligen Land Baden dokumentiert und direkt mit der vor Ort zu leistenden Vermittlungsarbeit verknüpft werden soll. Im Zusammenspiel mit dem Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg, das sich der Geschichte der württembergischen Konzentrationslager widmet, kann und soll so mittelfristig die Widerstands- und Verfolgungsgeschichte des gesamten deutschen Südwestens erforscht werden.
Unter der Domain www.lzw-portal.de ist am Jahresbeginn 2017 unser Geschichtsportal »Zivilcourage & Widerstand« online gegangen. Perspektivisch soll es die Vermittlungsarbeit am Lernort Kislau ergänzen, indem sich mittels der dort bereitgehaltenen Informationen ein Lernort-Besuch vor- oder nachbereiten lässt. Aber auch unabhängig davon wird das Portal schon bald viele interessante Informationen zu Ereignissen der Jahre 1918 bis 1945 in Baden wie im Reich, zu Nazi-Gegnern in und aus Baden, zu ihren Organisationen, zu den Orten ihres Wirkens sowie zu Orten der Verfolgung bereithalten. Eine interaktive Landkarte erleichtert das Auffinden von Ortseinträgen, ein Glossar mit knappen Begriffserklärungen rundet das Angebot ab. Bislang finden sich auf dem Portal rund 200 Einträge. Im Laufe des Jahres 2017 wird es nach und nach um weitere Texteinträge und weiteres Bildmaterial angereichert. Spätestens ab dem Schuljahresbeginn 2017/18 werden Schulklassen damit regulär arbeiten können.
Das Herzstück des Online-Geschichtsportals bilden animierte Bildergeschichten von jeweils rund vier Minuten Dauer, die wir selbst konzipieren und produzieren. Aus der Ich-Perspektive jeweils einer bekannten oder weniger bekannten Persönlichkeit beleuchten wir darin markante Ereignisse aus der badischen Landesgeschichte der Jahre 1918 bis 1945 in einer einfachen und verständlichen Bildsprache. Die ersten vier Motion Comics konnten wir mit Landesmitteln produzieren, einen fünften dank einer 5.000-Euro-Spende. Nach Maßgabe der Mittelakquise sowie unserer zeitlichen Möglichkeiten möchten wir mittelfristig mindestens ein Dutzend weiterer Motion Comics realisieren. Auch dies ist aus unserer Sicht ein gutes Medium, um gerade auch jungen Menschen zu vermitteln, dass man Ausgrenzung und Gewalt beizeiten konsequent widerstehen muss, wenn eine Demokratie Bestand haben soll.
Dr. Andrea Hoffend leitet das Projekt Lernort Kislau. Als Zeithistorikerin und Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkten auf NS-, Arbeiterbewegungs- und Landesgeschichte war sie zuvor in Forschung und Lehre, im Archivwesen sowie im Kommunikationsmanagement tätig.
Andreas Schulz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Lernort Kislau und Fachreferent für Jugendarbeit an Gedenkstätten bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Als Historiker hat er zu Schulen und Gedenkstätten sowie Digitalisierung gearbeitet.
Lernort Zivilcourage & Widerstand e.V.
Projekt Lernort Kislau
Ettlinger Straße 3a
76137 Karlsruhe
Telefon 0721 82101070
info@lzw-projekt.de
[1] Erich Kästner 1958 in seiner Rede zum 25. Jahrestag des Beginns der Bücherverbrennungen, zit. nach ders.: Über das Verbrennen von Büchern. Zürich 42017, S. 13–26, hier S. 25.
[2] Ebenda.
[3] Dana Giesecke und Harald Welzer: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinne-rungskultur. Hamburg 2012, S. 8.
[4] Ebenda, S. 54.
[5] Klaus Kienesberger: Verweigerung verstehen. Praktische Überlegungen zur Vermittlung von Widerstandsgeschichte. In: Till Hilmar (Hg.): Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten historisch-politischer Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus. Wien 2010, S. 222–235, hier S. 234.
[6] Vgl. zum Vorangehenden – Angela Borgstedt: Das nordbadische Kislau. Konzentrationslager, Arbeitshaus und Durchgangslager für Fremdenlegionäre. In: Wolfgang Benz und Barbara Distel (Hg.): Herrschaft und Gewalt. Frühe Konzentrationslager 1933–1939. Berlin 2002, S. 217–229; des Weiteren die im Generallandesarchiv Karlsruhe lagernden Verwaltungs- und Häftlingsakten des KZs Kislau sowie die im Staatsarchiv Freiburg lagernden Verwaltungsakten des KZs Ankenbuck.
[7] Vgl. Daniel Tyradellis: Müde Museen. Oder: Wie Ausstellungen unser Denken verändern könnten. Ham-burg 2014, S. 154.
[8] Wie wichtig ein »mehrere Wahrnehmungsebenen umfassendes Erschließen von Lerninhalten« für eine höhere »Behaltensleistung« des Gehirns ist, verdeutlicht anhand der Hirnforschung u. a. Hildegard Amelin-Haffke: Nachhaltigkeit aus Sicht der Museumspsychologie: Was können Museen als Lern- und Bildungsorte leisten? In: Burckhard Dücker und Thomas Schmidt: Lernort Literatur-Museum. Beiträge zur kulturellen Bildung. Göttingen 2011, S. 72–87, hier S. 81.
[9] Neben Tyradellis 2014 (Anm. 7) vgl. zum Gesamtkomplex etwa Sibylle Lichtensteiger u.a. (Hg.): Dramaturgie in der Ausstellung. Begriffe und Konzepte für die Praxis [Edition Museum, Bd. 8]. Bielefeld 2014, sowie Hartmut John und Anja Dauschek (Hg.): Museen neu denken. Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit. Bielefeld 2008.
[10] Tyradellis 2014 (Anm. 7), S. 82.
[11] Zum hier zugrunde gelegten Generationenbegriff siehe v.a. Sabine Bode: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Stuttgart 2009, S. 17.
[12] Einen Überblick über die zunehmende Medialisierung der Shoah und deren Einfluss auf das Geschichtsbewusstsein bietet der Band von Gerhard Paul und Bernhard Schoßig (Hg.): Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre [Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 10]. Göttingen 2010.
[13] Zu Geschichtsbildern in Computerspielen und deren Fokussierung auf Weltkriegsgeschichte vgl. Steffen Bender: Virtuelles Erinnern. Kriege des 20. Jahrhunderts in Computerspielen. Bielefeld 2012.
[14] Als Einführung in diesen Themenkomplex empfiehlt sich Catarina Katzer: Cyberpsychologie. Leben im Netz: Wie das Internet uns verändert. München 2016.
[15] Vgl. Lichtensteiger u.a. 2014 (Anm. 9), hier v.a. S. 42–46; Hermann Kossmann: Narrative Räume. Der Werkzeugkasten der Szenografie, ebenda, S. 50–66; Hartmut John: Hülle mit Fülle. Museumskultur für alle – 2.0. In: ders./Dauschek 2008 (Anm. 9), S. 15–64, hier S. 24.
[16] Vgl. bereits Christian Meier: Die Faszination des Biographischen. In: Frank Niess (Hg.): Interesse an Geschichte. Frankfurt a.M. – New York 1989, S. 100–111.
[17] Matthias Heyl: Historisch-politische Bildung zur Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen im 21. Jahrhundert. In: Hilmar 2010 (Anm. 5), S. 23–53, hier S. 28.
[18] Eine digitale Version findet sich unter: http://bit.ly/2rnFkng