»In der Gedenkstätte geht es von vornherein um mehr.«

Rezension von Elke Gryglewski, Verena Haug, Gottfried Kößler, Thomas Lutz, Christa Schikorra (Hg.): Gedenkstättenpädagogik. Kontexte, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen. Berlin 2015
10/2015Gedenkstättenrundbrief 179, S. 70-73
Werner Dreier

»Der Beginn dieser Reise, von der ich noch nicht weiß, wohin sie mich führen wird …« Damit beginnt Otto Dov Kulka seine Erkundungen der »Landschaften der Metropole des Todes«, die im Untertitel der deutschen Ausgabe noch präzisiert werden: »Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft«.[2] Er nimmt darin die Leser mit auf seine Reisen zu den Orten in den verschiedenen Zeiten: Erinnerungen an damals, als er als Kind »dort« war, Besuche der Orte später, Träume, Texte, Dokumente … Er zieht sich dabei nicht auf die relativ sichere Position des Historikers zurück, der reduziert, narrativiert, erklärt, sondern er lässt die Leser daran teilhaben, was diese Orte mit ihm machen.

Die Orte ohne die Menschen, die dort waren, litten, hofften, kämpften, verzweifelten, starben und lebten, sind belanglos. Darauf hat schon Ruth Klüger hingewiesen, wenn sie meint, »wer dort etwas zu finden meint, hat es wohl schon im Gepäck mitgebracht«. Sie verweist auf die »neue Konstellation des Ortes, die da heißt Gedenkstätte und Besucher, und was könnte weiter entfernt sein von der Konstellation Gefängnis und Häftling?«[3]

Diese »Landschaften des Todes« sind heute zu Gedenkstätten geworden, weil sich die Vorstellung durchsetzte, es seien Orte nicht nur von historischer Bedeutung, sondern auch von gesellschaftlicher Relevanz. Warum diese Vorstellung von den erinnerungspolitischen Akteuren von den Rändern der Gesellschaft erfolgreich in die Mitte getragen werden konnte, welche aktuelle gesellschaftspolitische Funktion die Gedenkstätten haben und wie lange und unter welchen Bedingungen ihre Bedeutung erhalten bleibt, das ist eine andere Diskussion.

Die Gedenkstättenpädagogik, um die der von Verena Haug sorgsam redaktionell betreute Sammelband kreist, stellt sich der Aufgabe der Vermittlung der verschiedenen Welten, die an diesen mit so viel Bedeutungen aufgeladenen Orten aufeinandertreffen: der Welten der ehemaligen Häftlinge und der Toten, die Welten der Gestaltenden und Mitarbeitenden der Gedenkstätten und die Welten der Besucherinnen und Besucher.

Die NS-Gedenkstätten in Deutschland jedenfalls gingen in den letzten 50 Jahren den Weg »Vom gegenkulturellen Projekt zur staatlichen Gedenkstättenkonzeption« und es stellt sich für sie nunmehr die Frage: »wie weiter?« Cornelia Siebeck beschreibt zunächst die Entwicklung der Gedenkstätten-Landschaft in der Bundesrepublik Deutschland von der Etablierung der ersten Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen KZ Dachau 1965 bis zur Integration der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nicht nur in die finanzielle Verantwortung der Bundesrepublik, sondern auch in den westdeutschen Gedenkstätten-Diskurs. Die Übernahme von staatlicher Verantwortung für die westdeutschen Gedenkstätten, die von den Aktivist der Gedenkstätten-Szene als widerständige und gegenwartskritische Orte begriffen wurden, schlägt sich auch im veränderten Diskurs nieder. Es geht nun nicht mehr darum, einer sich sträubenden Politik die Verantwortung für diese Orte darzulegen, sondern sie dem staatlichen Zugriff zu entziehen und gleichzeitig die staatliche Finanzierung zu sichern. Diese Etablierung der Gedenkstätten ließe sich als Erfolgsgeschichte einer Alterskohorte beschreiben, die erfolgreich ihre geschichtspolitischen Vorstellungen durchsetzte. Doch fragt Cornelia Siebeck gerade danach, was bei dieser geschichtsteleologischen Erzählung verloren ging, nach der Europa erfolgreich die beiden diktatorischen Systeme des Nationalsozialismus und Kommunismus überwand und die Gedenkstätten mehr systemstabilisierend als verunsichernd dies bestätigen. Sie greift dabei auf das Selbstverständnis der erinnerungspolitischen Akteure der frühen Gedenkstättenbewegung zurück, wenn sie als Kernfrage formuliert, es »stellt sich den NS-Gedenkstätten daher die Frage, ob sie diese gesellschaftspolitische Widerborstigkeit zurückgewinnen wollen, und wenn ja, worin eine solche Widerborstigkeit angesichts des gegenwärtigen (beinahe) Konsenses über ein erfolgreiches Gelernthaben aus der Geschichte bestehen könnte«. Damit eröffnet sie eine Debatte über die Ziele, welche Gedenkstätten explizit und implizit verfolgen, zu welcher viele Beiträgen dieses Bandes einen Beitrag leisten.

Der vorliegende Band dokumentiert in 23 Aufsätzen – denen diese Besprechung schon ob ihrer schieren Zahl unmöglich gerecht werden kann – eindrucksvoll den Stand der Debatte über Selbstverständnis, Rahmenbedingungen und Perspektiven von Gedenkstättenarbeit. Er dokumentiert den aktuellen Stand der Professionalisierung, die Verwissenschaftlichung und Pädagogisierung, aber auch Reflexivität und Ausdifferenzierung. Und er bietet eine vielfältige Auswahl von good practice an, die zum Nachmachen und Weiterentwickeln einlädt.

In den Beiträgen wird das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart, die Konsequenzen der mit dem Verlust der Zeitzeugen-Generation verbundene Historisierung der Orte sowie ganz allgemein die Bedingungen und Möglichkeiten der Erschließung der NS-Geschichte an diesen NS-Gedenkstätten für als immer heterogener begriffene Besucher thematisiert. Die Aufsätze sind in die drei Gruppen »Rahmen und Perspektiven«, »Stärken und Herausforderungen« sowie »Zugänge und Methodik« gegliedert. Zu den »Rahmen« gehört die Schule, sind doch die Schülerinnen und Schüler – worauf Robert Sigel in seinem Beitrag hinweist – die wohl wichtigste Besucher-Gruppe, die unter ganz bestimmten Rahmenbedingungen die Gedenkstätten besuchen. Diese Gruppe gerät noch in weiteren Beiträgen in den Fokus, etwa bei Martin Schellenberg, der sich mit »Gedenken als pädagogische Aufgabe« beschäftigt, sich dabei im Wesentlichen auf die Reflexion von Gedenken konzentriert; oder bei Verena Haug, die auf die »doppelte pädagogische Rahmung« der Schulklasse durch die zwei pädagogischen Instanzen Lehrperson und Gedenkstättenmitarbeitende hinweist. Auch Wolfgang Meseth spricht die schulischen Rahmenbedingungen von »Gedenkstättenveranstaltungen« an. Er verweist auf die Differenz von »Unterricht als hoch institutionalisierter und -ritualisierter Form der Kommunikation« und Gedenkstättenbesuchen, wo situativ – und in kurzer Zeit – die Rollenordnung und das zu verhandelnde Thema zwischen einander teils gut, teils unbekannten Akteuren vereinbart werden müssen. In seinem Beitrag wird eine der Stärken des Bandes offenkundig, nämlich über die eigene Diskurs-Gemeinschaft in benachbarte Disziplinen hinaus zu schauen, in dem Fall in die Geschichtsdidaktik, oder im Beitrag von Gottfried Kößler zu den Museen. Gerade in diesem Hereinholen benachbarter Expertise liegt ein großes Potenzial, das noch verstärkt gehoben werden könnte. Z.B. könnte das Thema der Qualifikation bzw. fortlaufenden Qualifizierung des an diesen Orten tätigen Personals aufgenommen und mit etwa der Lehrpersonen-Fortbildung und auch den von Museen etablierten Bildungsmaßnahmen in Beziehung gesetzt werden.

Am Beispiel des in mehreren Beiträgen angesprochenen »Beutelsbacher Konsenses« lässt sich eine Differenz von schulischer Bildung und Gedenkstättenpädagogik ansprechen. 1976 für die politische Bildung formuliert, betont er die Selbstständigkeit des politischen Subjekts »Schüler«, der im Unterricht nicht indoktriniert bzw. überwältigt werden darf und der das Recht darauf hat, dass das, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, auch im Unterricht als kontrovers dargestellt wird. Diese Prinzipien stehen jedoch in einem teilweisen Widerspruch zur Sozialisationsfunktion und zum erzieherischen Auftrag von Schule, können sie doch nicht bedeuten, dass die Schule an sich und die in ihr Tätigen allen gesellschaftlichen Vorgängen gegenüber neutral sind. Vielmehr sind sie demokratischen und menschenrechtlichen Prinzipien verpflichtet. Dies gilt noch viel schärfer für die moralisch hoch aufgeladenen NS-Gedenkstätten. Gedenkstättenpädagogen kämen wohl in einen hoch problematischen und kaum zu verbergenden Identitätskonflikt, würden sie so tun, als seien sie neutrale Moderatoren von Besuchergruppen-Gesprächen. Die Herausforderung ist wohl, historische Bildung, Demokratieerziehung und Menschenrechtserziehung zwar nach demokratischen und menschenrechtlichen Prinzipien zu organisieren, gleichzeitig aber die Wertorientierung transparent und damit auch kritisierbar zu machen – und sie auch klar zu vertreten.

Das wäre dann zwar mehr affirmativ als widerborstig, doch gibt es wohl keine Einwände gegen die Bewahrung demokratischer, menschenrechtlicher und auch rechtsstaatlicher Errungenschaften – das Widerborstige könnte da wohl am ehesten in der Ausweitung des Geltungsbereichs dieser Grundlagen bestehen.

Was an Gedenkstätten tatsächlich gelernt wird, lässt sich nur schwer abschätzen. Denn auch in der Gedenkstättenpädagogik wird ganz allgemein ein Mangel an empirisch abgesicherter Kenntnis konstatiert: Die »Wirkung von Gedenkstätten« wird zwar immer wieder postuliert, jedoch nicht empirisch erhoben. Für Verena Haug resultiert das aus mangelnden finanziellen und personellen Ressourcen, vielleicht hat dieses Defizit aber auch damit zu tun, dass die von den Gedenkstätten intendierten komplexen kognitiven, sozialen und auch emotionalen Lernprozesse gar nicht so einfach in einer empirischen Untersuchung zu isolieren und zu erheben sind.

Eine ganze Reihe von Beiträgen beschäftigt sich mit den Bildungszielen: Wolf Kaiser und Kuno Rinke untersuchen das Verhältnis von historischer und politischer Bildung, insbesondere zeigen sie anhand von überzeugenden Beispielen die Möglichkeiten für Demokratiebildung und Menschenrechtsbildung. Oliver von Wrochem gibt in seinem Beitrag »Empfehlungen für Menschenrechtsbildung an Gedenkstätten«, geht dabei allerdings von mindestens zweitägigen Seminaren aus. Damit markiert er eine der Spannungen im Feld: Während viele der im Band angesprochenen, spannenden und wertvollen Lernsettings mehr Zeit in Anspruch nehmen, sind die meisten Besucherinnen und Besucher nur wenige Stunden am Ort. Auf das »Kerngeschäft« der meisten Bildungsabteilungen an Gedenkstätten konzentriert sich Julius Scharnetzky, der die »stiefmütterlich« Behandlung dieses Basisangebots »Führungen« durch die Gedenkstättenpädagogik beklagt. »Führungen« bzw. »Begleitungen« müssen nicht notwendigerweise monologisch sein, sondern können durchaus auch den Interessen und Fragen Raum geben. Aktivierende Rundgangskonzepte, die etwa an der Gedenkstätte Flossenbürg auf dem Modell »Schüler führen Schüler« aufbauen, oder auch der Versuch an der Gedenkstätte Mauthausen, die Interaktion zwischen Vermittelnden und Lernenden ins Zentrum zu stellen, hätten durchaus mehr Aufmerksamkeit und Raum verdient.

Doch das kann ja in einigen Jahren in einem nächsten Versuch nachgeholt werden, wenn dann wiederum der aktuelle Diskurs in der Gedenkstättenpädagogik abgebildet werden wird. Dieser Band zeigt eindrücklich, wie sich Selbstverständnis und Selbstverständigung, Ziele und Methoden in den letzten Jahren entwickelten und es kann mit einiger Berechtigung vorher gesagt werden, dass diese Entwicklung weiter schreitet.

Ein nächster Band könnte dann auch um ein Literaturverzeichnis und eventuell ein Register ergänzt werden, was durchaus hilfreich wäre. Vielleicht könnte dort auch der Blick über die Bundesrepublik hinaus noch etwas erweitert werden. Doch all das tut der inhaltlichen Qualität der im vorliegenden Band versammelten Beiträge keinen Abbruch, die ein eindrücklicher akademischer Ausweis für dieses neue und relevante Feld der Gedenkstättenpädagogik sind und zugleich viele wertvolle und praxisnahe Anregungen für die Vermittlungsarbeit geben.

 

Dr. Werner Dreier, Historiker, arbeitete als Lehrer sowie in der Lehrerbildung und ist seit dem Jahr 2000 der Geschäftsführer von erinnern.at (Nationalsozialismus und Holocaust: Gedächtnis und Gegenwart). Das Institut organisiert im Auftrag des österreichischen Unterrichtsministeriums Lehrerfortbildungen und entwickelt Lehrmittel zu Holocaust und Nationalsozialismus.

 

[1] Aus dem Beitrag von Gottfried Kößler, Aura und ihre Ordnung, im hier besprochenen Band.

[2] Otto Dov Kulka, Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft, München 2013, S. 9

[3] Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992, S. 75