Kooperation oder Konkurrenz?

Das Gedenkstättenreferat als Schnittstelle
07/2023Gedenkstättenrundbrief 210, S. 160-165
Florian Kemmelmeier

Ein Blick zurück – das Gedenkstättenreferat von außen

Herbst 2004, Projektbesprechung in der Stresemannstraße 110, der damaligen Geschäftsstelle der Stiftung Topographie des Terrors. Es gab Kaffee bei meiner ersten Begegnung mit Thomas Lutz, das kleine Team des Gedenkstättenreferats saß auf der anderen Seite des Tisches.

Kurz zuvor hatte ich mein Praktikum bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Stiftung Denkmal) begonnen. Die Vorbereitungen für den Ort der Information des im Mai 2005 zu eröffnenden Holocaust-Denkmals liefen auf Hochtouren. Dies galt auch für das geplante »Gedenkstättenportal«, dessen internationale Inhalte zusammen mit dem Gedenkstättenreferat der Stiftung Topographie des Terrors erarbeitet wurden. Dabei waren zwei unterschiedliche Anwendungen vorgesehen: Das auf Europa konzentrierte »Gedenkstättenportal« der Stiftung Denkmal zum Abschluss der Ausstellung im Ort der Information sowie die online zugängliche internationale »Gedenkstättenübersicht« des Gedenkstättenreferats der Stiftung Topographie des Terrors.[1]

Wie ich rasch verstand, handelte es sich hier um ein ursprünglich nicht ganz freiwilliges Kooperationsprojekt. Dass der Bundestagsbeschluss zur Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas vom 25. Juni 1999 explizit eine Verbindung »mit den anderen Gedenkstätten und Institutionen« vorsah, war auf Bedenken in der Denkmals-Debatte zurückzuführen, denen zufolge eine Zentralisierung des Gedenkens in Berlin unmittelbar negative Auswirkungen auf die bestehenden, allzu oft um politische Anerkennung und Förderung ringenden Gedenkstätten habe. »Insgesamt bedroht« sei die dezentrale Erinnerungskultur, hatte Thomas Lutz die Einschätzung der Arbeitsgemeinschaft KZ-Gedenkstätten damals zusammengefasst.[2]

Die Rollen waren also verteilt: »wir« – die Stiftung Denkmal – waren der umstrittene Newcomer, das Gedenkstättenreferat war Vertreter der etablierten Gedenkstätten-Netzwerke. Als ich Anfang Februar 2005 – inzwischen studentische Hilfskraft – zum deutsch-französischen Gedenkstättenseminar nach Bad Urach fuhr[3], ermöglichte Thomas Lutz freundlicherweise die Vorstellung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas beim abendlichen Markt der Möglichkeiten. Wie überrascht war ich allerdings, als der erwartete Gegenwind aus dem Kreis der vor allem südwestdeutschen Teilnehmenden sich keineswegs allein gegen das kurz vor der Eröffnung stehende Holocaust-Denkmal richtete, sondern ebenso gegen die »Topographie des Terrors« – und ganz grundsätzlich gegen die Realisierung millionenschwerer Projekte in Berlin. Unerwartet standen Thomas Lutz und ich plötzlich auf derselben Seite.

In der Rückschau lässt sich feststellen: Die im Zuge der Denkmal-Debatten der 1990er-Jahre formulierten Bedrohungsszenarien einer Zentralisierung der Erinnerung sind – zumindest vordergründig – nicht eingetreten. Die bereits damals steigenden Zahlen der Besucherinnen und Besucher in den zahlreichen Gedenkstätten des wiedervereinigten Deutschlands sind nach Eröffnung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas (2005) oder auch des Dokumentationszentrums Topographie des Terrors (2010) keineswegs zurückgegangen. Im Gegenteil setzte sich der Anstieg des Interesses ungebrochen fort. Auch auf der förderpolitischen Ebene bildete die 1999 vorgelegte und 2008 überarbeitete Gedenkstättenkonzeption des Bundes eine wesentliche Grundlage für Verbesserungen in der Fläche, auch wenn nicht alle Gedenkstätten von ihr profitieren. Ohne die Berliner Großprojekte samt der mit ihnen verbundenen Debatten als Kristallisationspunkte lassen sich beide Entwicklungen sicher nur unzureichend beschreiben.[4] Dass es gelang, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas mit einem Ort der Information zu verwirklichen, der nicht allein über die »zu ehrenden Opfer«, sondern auch »die authentischen Stätten des Gedenkens« informiert, wie es das Stiftungsgesetz vom März 2000 formulierte[5], bot die Chance, das Denkmal in eine »Textur deutscher Erinnerungskultur«[6] einzufügen und so Zentralität und Dezentralität im Verbund zu verstehen.

 

Jenseits des Nullsummenspiels

Allzu oft führt die Vorstellung eines Nullsummenspiels, in dem die Sorge um kleiner werdende Stücke des Kuchens dominiert, zu wenig produktivem Konkurrenzdenken. Das vielfältige Potenzial einer kooperativen Denkweise und Praxis bleibt unausgeschöpft. Manches Mal bedarf es kreativer Ansätze, um zu einer Denkweise der Kooperation zu gelangen. Im Fall des Denkmals für die ermordeten Juden Europas lässt sich der unkonventionelle Wettbewerbsbeitrag »Bus-Stop« von Stih & Schnock – der anstelle eines zentralen Denkmals eine Bushaltestelle mit Verbindungen zu bestehenden Gedenkstätten vorsah – als vorbildhaft für die Verweis-Struktur des später verwirklichten Gedenkstättenportals im Ort der Information ansehen.[7] Zugleich bedarf es auch vermittelnder Instanzen. Das Gedenkstättenreferat der Stiftung Topographie des Terrors hat mit Thomas Lutz eine solche Rolle immer wieder eingenommen. So mühsam die praktische Kooperation zwischen Stiftung Denkmal und dem Gedenkstättenreferat im konkreten Fall vor bald 20 Jahren auch gewesen sein mag, so wichtig war sie als über den Berliner Horizont hinaus reichende Schnittstellenarbeit.

Für die inzwischen gewachsene Erinnerungslandschaft im Berliner Zentrum sind heute weitere Neuplanungen in Vorbereitung: Der »Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen«, das Dokumentationszentrum »Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa«, oder zuletzt das »Mahnmal für verfolgte und ermordete Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus«. Diese werden mal mehr, mal weniger öffentlich diskutiert.[8] Es ist zu hoffen, dass die Realisierung der neuen Denkmäler und Ausstellungen im Ergebnis nicht zu recht unverbunden nebeneinander her wirkenden Orten und Einrichtungen führt, sondern vielmehr – ganz im Sinn der Erfahrungen der Denkmals-Debatte von vor über zwei Jahrzehnten – mit einem integrativen Ansatz bereits bestehende Orte und Institutionen einbezogen und mitgedacht werden. Ein solch kooperativer Ansatz, der Haltungen, Bedenken und Perspektiven unterschiedlicher Beteiligter im Prozess aufgreift sowie eine nötige öffentliche Diskussion mit kreativen Lösungen produktiv umzusetzen weiß, erschiene jedenfalls vielversprechend.

 

Das Gedenkstättenreferat von innen – »Jugend erinnert« als Netzwerk und Impuls

Ein vom Gedenkstättenreferat realisierter kooperativer Ansatz lag der Vernetzung und Begleitung von bundesweit 31 Bildungsprojekten an Gedenkstätten zugrunde. Grundlage und Rahmen bildeten das durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien geförderte Programm »Jugend erinnert« in der Förderlinie »Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus«.[9] Als ich im Dezember 2020 meine Tätigkeit als pädagogischer Projektmitarbeiter aufnahm, erläuterte mir Thomas Lutz seine Überlegung, durch »Jugend erinnert« ein Erfahrungswissen der pädagogischen Vernetzung zu generieren, das im Anschluss der gesamten Gedenkstättenlandschaft zugutekommen könnte.

Zu Beginn schien durchaus fraglich, ob es möglich ist, mit Online-Treffen mitten in der Corona-Pandemie ein wirkliches Netzwerk der »Jugend erinnert«-Projekte aufzubauen. Dafür, dass es gelang, spielten drei mehrtägige Treffen in Präsenz dann ab Herbst 2021 sicher eine wichtige Rolle. Entscheidend war aber wohl vor allem eine generelle Orientierung an den Bedarfen und Wünschen der Beteiligten, sowie grundsätzlich ein Schwerpunkt auf Austausch und Dialog – »keine Online-Veranstaltung ohne Kleingruppen« lautete eine der Grundregeln. Eine vertrauensvolle Atmosphäre, in der auch offen über Schwierigkeiten im Projekt gesprochen werden konnte, war für den praxisbezogenen Austausch sehr wichtig. Das solidarische Grundverhältnis im Netzwerk ermöglichte ein Lernen voneinander. Vielleicht erlaubte gerade auch die Heterogenität der beteiligten Projekte, dass der Profilierungsdruck gering blieb und die nicht selten vorhandene Diskrepanz zwischen Anspruch, Wunsch und Wirklichkeit gemeinsam ausgeleuchtet werden konnte.[10]

Die Voraussetzungen und Bedingungen der Bildungsarbeit standen mithin immer wieder im Mittelpunkt. Ein Anliegen war – wie die Projekte in einem gemeinschaftlich erstellten und an Kulturstaatsministerin Claudia Roth versandten Positionspapier deutlich machten – auf eine Einbeziehung von Praktikerinnen und Praktikern bei einer künftigen Ausgestaltung des Förderprogramms zu dringen sowie sich für eine nachhaltige Planung und Förderung der Bildungsprojekte einzusetzen.[11] Dass es hier mit viel Engagement gelang, im Verbund der Projekte von kleinen wie großen Gedenkstätten gemeinsame Positionen zu formulieren, brachte einen im Netzwerk gewachsenen »Spirit« der Kooperation zutage.

Vor dem Hintergrund der inzwischen vier Jahrzehnte umfassenden Geschichte des so oft von Thomas Lutz moderierten Austauschs und der Vernetzung von Gedenkstätten ist ein Geist der Kooperation, wie er im »Jugend erinnert«-Netzwerk deutlich wurde, sicher nichts Neues. Dass es sich lohnt, ihn auch zukünftig zu pflegen und komplexen Herausforderungen durch Verständigung und Formulierung gemeinsamer Positionen zu begegnen, erscheint aber sicher als einer der wesentlichen Impulse aus »Jugend erinnert«. Dies ist vielleicht gerade dort wichtig, wo ein solcher kooperativer Geist schwer zu realisieren ist, etwa wenn es um knappe Ressourcen und Vertretungsansprüche geht.

Inhaltlich wurde im »Jugend erinnert«-Netzwerk durchaus gehaltvoll, aber eher wenig kontrovers diskutiert. Dies lag möglicherweise an der solidarischen Grundhaltung zueinander, vielleicht erschwerte gerade auch der explizit »kooperative« Ansatz der Vernetzung die Profilierung unterschiedlicher Positionen. Vielleicht spiegelt sich darin aber auch einfach das größere Bild wieder, in dem Gedenkstätten heute kaum noch »im Gegenwind«[12] agieren, vielmehr »in der Mitte der Gesellschaft angekommen«[13] sind und vor diesem Hintergrund ihre Funktion als »Stabilisatoren der Erinnerung« (Aleida Assmann) eines erinnerungspolitischen Mainstreams wahrnehmen. So sehr dieses Bild sicher vereinfacht: Ob und wie nach dem Ausscheiden der »Generation Aufarbeitung«[14], zu der auch Thomas Lutz zu zählen ist, jenseits einer bloßen Ausgestaltung des Erreichten durch Einbeziehung neuer »Zielgruppen«, durch Digitalisierung sowie neue methodische Ansätze künftig auch das Selbstverständnis von Gedenkstätten eine Entwicklung erfahren wird, ist offen. Im Sinne einer kritischen historisch-politischen Bildungsarbeit erscheinen Infragestellungen und kontroverse Haltungen – als »Konkurrenz der Ideen« – durchaus wünschenswert. Insofern erscheint es hilfreich, Kooperationen nicht allein als Allianzen zu verstehen, sondern als eine Chance, mit unterschiedlich profilierten Partnerinnen und Partnern über den jeweils bisherigen Tellerrand hinaus zu blicken.

Florian Kemmelmeier ist pädagogischer Mitarbeiter im Gedenkstättenreferat der Stiftung Topographie des Terrors. Er hat viele Jahre Erfahrung als freier Mitarbeiter sowohl für die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas als auch die Stiftung Topographie des Terrors.

 

[1]    Die Stiftung Denkmal machte ihr Gedenkstättenportal im Jahr 2011 auch online zugänglich: www.memorialmuseums.org. Die bereits seit 2005 als Online-Portal zugängliche »Gedenkstättenübersicht« ist seit 2020 in überarbeiteter Form Teil des GedenkstättenForums www.gedenkstaettenforum.de/gedenkstaetten/gedenkstaettenuebersicht.

[2]    Thomas Lutz: Überlegungen zur Verbesserung der Zusammenarbeit und zur Selbstorganisation der Gedenkstätten für NS-Opfer. Ein Zwischenbericht, in: GedenkstättenRundbrief 89 (6/1999), S. 30. Für einen zeitnahen, knappen Überblick der Debatte siehe Horst Seferens: Zwei Jahrzehnte Diskussion um staatliche Erinnerungssymbole in Bonn und Berlin, in: GedenkstättenRundbrief 100 (4/2001), S. 83–90. Zur Arbeitsgemeinschaft KZ-Gedenkstätten siehe auch den Beitrag von Oliver von Wrochem in der vorliegenden Sonderausgabe.

[3]    Programm hier nachzulesen: http://www.hsozkult.de/event/id/event-54210.

[4]    Dazu Horst Seferens im Jahr 2001: »Auch wenn bis heute niemand weiß, wie der ‚Ort der Information‘ exakt aussehen wird, scheint es, als könnten die Gedenkstätten mit dem Ergebnis des Berliner Denkmalstreits zufrieden sein, zumal das inzwischen vorgelegte neue Gedenkstättenkonzept der Bundesregierung die Bundesförderung für die Gedenkstätten verstetigt und auf die bedeutenden Gedenkstätten in Westdeutschland ausgeweitet hat«, a.a.O., S. 85.

[5]    Gesetz zur Errichtung einer »Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas«, vom 17. März 2000, § 2.

[6]    Günter Morsch: Anmerkungen zu den jüngsten Diskussionen um das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas und das »Haus der Erinnerung«, in GedenkstättenRundbrief 89 (6/1999), S. 3–5, hier S. 5.

[7]    Der unter anderem von Günter Morsch, a.a.O., S. 5, aufgegriffene Vorschlag erhielt im künstlerischen Wettbewerb von 1994/1995 den 11. Preis, vgl. Ute Heimrod/Günter Schlusche/Horst Seferens (Hrsg.): Der Denkmalstreit – das Denkmal? Die Debatte um das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas«. Eine Dokumentation, Berlin 1999, S. 286.

[8]    Jüngstes Medienecho zum Projekt »Polen-Denkmal« auf: www.polendenkmal.de/politik/polen-ort/deutsches-medienecho; Anhörung im Kulturausschuss des Bundestags von November 2022 zum erwähnten Dokumentationszentrum: www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw48-pa-kultur-909668; neueste Entwicklungen zum Mahnmal für verfolgte Zeugen Jehovas: https://alst.org/aktuelles/events/anhoerung-zu-geplantem-mahnmal-fuer-die-im-nationalsozialismus-ermordeten-zeugen-jehovas.

[9]    Florian Kemmelmeier: Von Leuchttürmen und den Mühen der Ebene. Begleitung und Vernetzung im Förderprogramm »Jugend erinnert«, in: GedenkstättenRundbrief 207 (9/2022), S. 15–25.

[10]  Auf die erwähnte Diskrepanz zielt auch der Arbeitskreis Räume Öffnen in seinem Prozesspapier »Arbeitende Gedenkstätten – Gedenkstätten sind Arbeit« ab, in: GedenkstättenRundbrief 205 (3/2022), S. 34–41.

[11]  Nachhaltig fördern, Erfahrungen aus der Praxis einbeziehen. Bilanzierendes Positionspapier der »Jugend erinnert«-Projekte, Dezember 2022.

[12]  Detlef Garbe: Gedenkstätten in der Bundesrepublik: Eine geschichtspolitische Erfolgsgeschichte im Gegenwind, in: Gedenkstätten und Geschichtspolitik. Beiträge zur Geschichte der national-sozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 16 (2015), S. 75–89.

[13]  Harald Schmid: Mehr Gegenwart in die Gedenkstätten! Erinnerungsorte in Zeiten des Memory-Drains und der Entpolitisierung, in: GedenkstättenRundbrief 177 (3/2015), S. 11–16, hier S. 11.

[14]  Volkhard Knigge, »Zur Zukunft der Erinnerung,« in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25–26/2010, S. 10–16, hier S. 12.