Opfer, Täter, Umfeld. Zum pädagogischen Konzept der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

06/2016Gedenkstättenrundbrief 182, S. 28-35
Christian Angerer

Voraussetzungen der pädagogischen Vermittlung an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

Am 5. Mai 1945 befreiten die US-Amerikaner das KZ Mauthausen mit seinem ebenso großen Zweiglager Gusen. 1945/46 benützten die sowjetischen Besatzungstruppen das Lager einige Monate lang als Unterkunft. Die sowjetische Besatzungsmacht übergab das ehemalige KZ Mauthausen im Juni 1947 der Republik Österreich zur Errichtung einer Gedenkstätte.[1]

Die von 1947 bis 1949 vorgenommene Gestaltung der KZ-Gedenkstätte folgte im Wesentlichen den Vorschlägen der österreichischen Häftlingsverbände. Sie orientierte sich vor allem an der Darstellung des Häftlingsleidens und des Widerstandskampfes. Erhalten blieben die Baracken und Gebäude, die den Appellplatz säumten, die Umfassungsmauer des Schutzhaftlagers mit den Türmen und der Steinbau der SS-Kommandantur, der für die Verwaltung der Gedenkstätte genutzt wurde. Die meisten anderen Gebäude wurden abgetragen und verkauft. Nicht Teil der KZ-Gedenkstätte wurden viele äußere Bereiche der Lagerstruktur, z.B. die SS-Siedlungs- und Wirtschaftsgebäude in der Umgebung. Diese Entscheidung für die enge Begrenzung der Gedenkstätte prägte die Wahrnehmung Mauthausens als abgeschlossenes, ummauertes Monument und als Ort der Häftlinge nachhaltig. Die Funktionen des Ortes für die Täter und für das mit dem Lager ökonomisch und sozial vernetzte gesellschaftliche Umfeld blieben ausgeblendet. Den österreichischen politischen Häftlingen war es wichtig, dem Leiden im KZ durch die Gedenkstätte einen Sinn zu verleihen – sie sollte den Kampf für ein freies und demokratisches Österreich symbolisieren. Die Absicht des Staates, in Mauthausen die Opferrolle Österreichs im Nationalsozialismus zu manifestieren, ließ sich damit gut vereinbaren. Zuständig für die im Mai 1949 eröffnete KZ-Gedenkstätte ist bis heute das Innenministerium.
Auf dem Areal des früheren SS-Lagers errichteten die Nationen ab 1949, beginnend mit Frankreich, oft monumentale Denkmäler für ihre Opfer.[2] Im Lauf der Jahrzehnte entstand ein Denkmalpark, der den ehemaligen SS-Bereich völlig überlagert. Die Denkmäler spiegeln den Kalten Krieg und später den Zerfall des Ostblocks wider.
Während das ehemalige KZ Mauthausen so zur zentralen österreichischen und bedeutenden internationalen Gedenkstätte für die Verbrechen der NS-Zeit wurde, verschwand das ehemalige KZ Gusen fast völlig von der Landkarte. Die Sowjets hatten die Steinbruchbetriebe weitergeführt, danach überzogen Siedlungshäuser das Gelände des Lagers.

In den 1960er-Jahren wurden die menschlichen Überreste aus verschiedenen Massengräbern in Friedhöfe im Inneren der KZ-Gedenkstätte Mauthausen umgebettet. 1970 öffnete eine Ausstellung im ehemaligen Reviergebäude ihre Tore. Hans Maršálek, der als politischer Häftling das KZ überlebt hatte und nach 1945 zum wichtigsten Historiker des KZ Mauthausen-Gusen wurde[3], hatte sie zusammengestellt. Die Einrichtung dieser Ausstellung signalisierte, dass die KZ-Gedenkstätte seit den 1970er-Jahren aus dem gesellschaftlichen Abseits rückte und zunehmend als Lernort Aufmerksamkeit erfuhr. Diese Aufmerksamkeit hält bis heute ungebrochen an. Die Zahl der Besucher und Besucherinnen liegt jährlich bei knapp 200 000. 2003 wurde ein Besucherzentrum eröffnet. Seit 2013 ersetzen zwei neue Ausstellungen auf hohem wissenschaftlichen und museumspädagogischen Niveau die Ausstellung aus den 1970er-Jahren.[4]

Als Ergebnis einer Zusammenarbeit der KZ-Gedenkstätte Mauthausen mit dem vom Bildungsministerium getragenen Verein »_erinnern.at_« nahm im Jahr 2007 der Fachbereich Pädagogik seine Tätigkeit auf. Zunächst entwarf das dreiköpfige Team unter Mitarbeit von Externen ein pädagogisches Konzept.[5] Auf dieser Basis wurden die pädagogischen Angebote entwickelt: der zweistündige Rundgang als Standardprogramm, ein dreieinhalbstündiger Rundgang mit Vor- und Nachgespräch sowie Workshops als vertiefende Formate. Im EU-Projekt »Developing Education at Memorial Sites«, das 2013/14 an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen stattfand, schärfte der Fachbereich Pädagogik im Austausch mit internationalen Projektpartnern das Konzept und die Methodik der Vermittlungsarbeit.[6]
Im Folgenden wird am Beispiel des zweistündigen Rundgangs, des zentralen Elements der Angebote, der aktuelle Stand der pädagogischen Ziele und Methoden dargestellt.

Die Ziele des pädagogischen Konzepts der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

Die Gedenkstättenpädagogik steht vor der Herausforderung, an einem Ort, der zugleich Tatort und ein vom kollektiven Gedächtnis überformter Gedenkort ist, eine lange zurückliegende Geschichte von extremer Gewalt so zu vermitteln, dass die Besucher und Besucherinnen die historischen Ereignisse begreifen und eine Verbindung zu sich selbst herstellen können. Das pädagogische Konzept der KZ-Gedenkstätte Mauthausen steht unter der Überschrift »Was hat es mit mir zu tun?« Es setzt sich im Sinn der historisch-politischen Bildung zwei große Ziele für die begleiteten zweistündigen Standard-Rundgänge:

Das erste Ziel ist es, die Geschichte des KZ Mauthausen als Geschichte von Menschen zu erzählen, die in verschiedenen Positionen und Rollen beteiligt waren, die Entscheidungen getroffen, gehandelt und gelitten haben. Perspektiven von Opfern, von Tätern und Zuschauern aus dem gesellschaftlichen Umfeld werden rekonstruiert und besprochen. Ebenso wichtig ist es aber auch, diese Perspektiven wieder zu verlassen, um über die Voraussetzungen und Spielräume der historischen Akteure nachzudenken. Der Wechsel der Perspektiven zwischen Opfern, Tätern und Umfeld fördert das Bewusstsein, dass es sich um eine von Menschen im gesellschaftlichen Kontext gemachte Geschichte handelt. Erst durch diesen Perspektivenwechsel werden Komplexität und Aktualität der Geschichte begreifbar.[7]

Das zweite Ziel für die begleiteten Rundgänge besteht darin, den Besuchern und Besucherinnen eine Form der Vermittlung zu bieten, in der sie sich nicht belehrt, sondern mit ihren mitgebrachten Bildern im Kopf, mit ihren Gedanken und Fragen ernst genommen fühlen.[8] Autonomie und Partizipation, zwei zentrale Prinzipien der politischen Bildung[9], liegen auch dem pädagogischen Konzept der KZ-Gedenkstätte Mauthausen zu Grunde. Wenn sich Menschen an der Erzählung produktiv beteiligen können, entwickeln sie eine größere Bereitschaft, die Geschichte als »ihre Geschichte« anzunehmen. Umgekehrt erlaubt es nur der Austausch mit der Gruppe, von den Menschen zu erfahren, was sie wahrnehmen und denken. Deshalb besitzt der Rundgang an der KZ-Gedenkstätte interaktiven Charakter. Die eigenständigen Stimmen der Besucher und Besucherinnen werden nicht bloß mit einbezogen, sondern vielmehr eingefordert. Auch hier, im Gespräch über die Bedeutung der rekonstruierten historischen Perspektiven für uns heute, entwickelt sich Multiperspektivität. Die Gedenkstättenpädagogik macht dabei den Schritt vom Moralisieren, d.h. vom Gestus der moralischen Ermahnung, der nur den Überlebenden der Lager zusteht, zur kontroversen Diskussion von moralischen Fragen. Neben moralischen Problemen berühren diese Gespräche während des Rundgangs auch psychologische und sozialpsychologische Mechanismen, denen Menschen damals wie heute unterworfen sind und die es sich bewusst zu machen gilt. Gesellschaftspolitische Themen wie die Rolle von Ideologien oder Auffassungen von Gleichheit und Ungleichheit der Menschen werden angeschnitten. Im begleiteten Rundgang an der Gedenkstätte geht es darum, die Geschichte des Konzentrationslagers mithilfe der Topografie, der Relikte, der Erzählungen und der Diskussionen zu verstehen – doch unsere Fragen an die Geschichte sind so angelegt, dass sie den Besucher und die Besucherin mit ihren Wahrnehmungen und Gedanken in den Mittelpunkt stellen.
Im Kern strebt das pädagogische Konzept eine dynamische Verbindung zwischen drei Eckpunkten an: zwischen dem Ort, der Geschichte und dem Ich des Besuchers bzw. der Besucherin.

Die Methodik beim Rundgang an der KZ-Gedenkstätte -Mauthausen

Beim begleiteten zweistündigen Rundgang werden die Besucher und Besucherinnen mit einer historischen Erzählung konfrontiert. Den roten Faden der Erzählung bildet, offen formuliert oder im Hintergrund, die Leitfrage: Wie war es möglich, dass inmitten der Gesellschaft beinahe 100 000 Menschen (in Mauthausen-Gusen und in den über 40 Außenlagern) ermordet wurden? Zur Annäherung an Antworten auf diese Frage tragen der historische Perspektivenwechsel – Opfer, Täter, Umfeld – und das vielstimmige Gespräch in der Besuchergruppe bei. In enger Beziehung zur Topografie der Gedenkstätte folgt die Erzählung drei perspektivischen Schwerpunkten. Der erste Abschnitt des Rundgangs im Außenbereich rückt die Umfeld-Perspektive, die vielfältigen Beziehungen zwischen Konzentrationslager und Gesellschaft in den Blick. Im zweiten Abschnitt, auf dem Gelände des ehemaligen SS-Lagers, das heute mit Denkmälern bebaut ist, werden die Täter aus den Reihen der SS thematisiert. Der dritte Teil des Rundgangs führt in das Innere des Lagers und widmet sich dem Leben und Sterben der Häftlinge. Auch wenn die genannten historischen Perspektiven im jeweiligen Abschnitt im Fokus stehen, so sind sie doch während des ganzen Rundgangs immer miteinander verknüpft.

Der am Ich des Besuchers bzw. der Besucherin orientierte Rundgang erfordert eine Balance zwischen Erzählung und Interaktion. Während knappe und präzise historische Informationen als Basis für Interaktion nötig sind, kann erst durch das Gespräch eine Verständigung über Deutung und Bedeutung der Geschichte stattfinden. Drei methodische Werkzeuge helfen uns, dieses Gespräch in Gang zu bringen.

Da ist zunächst die Wahrnehmung des Ortes. Wir fordern die Besucher und Besucherinnen auf, am jeweiligen Standort Relikte, Denkmäler oder Umgebung genau zu betrachten, auf sich wirken zu lassen und zu kommentieren. So bildet z.B. die Beobachtung, dass das KZ Mauthausen als festungsartiges Gefängnis weithin sichtbar auf einem Hügel errichtet wurde, den Ausgangspunkt für eine Diskussion über mögliche Wirkungen des Konzentrationslagers nach außen: von der Erfüllung eines Sicherheitsbedürfnisses in der Bevölkerung über Einschüchterung bis hin zur Identifikation mit der in der KZ-Architektur demonstrierten Macht.

Ein zweites wesentliches methodisches Element sind Texte und Fotos, die der Gruppe so ausgehändigt werden, dass jeweils drei bis vier Personen ein Exemplar betrachten und anhand einer gestellten Aufgabe besprechen können. Die ausgeteilten Materialien sollen nicht bloß ein illustratives, sondern ein stimulierendes, irritierendes Potenzial besitzen, das zur Diskussion über ein zentrales Thema anregt. Ein Beispiel wäre eine Zeichnung des französischen Häftlings Daniel Piquée-Audrain, die Funktionshäftlinge und neu angekommene Häftlinge in einer Szene beim entwürdigenden Haareschneiden im Duschraum zeigt. Die Zeichnung eignet sich gut dazu, die komplexe Hierarchie in der Häftlingsgesellschaft zu besprechen.

Als drittes methodisches Instrument setzen wir Fragen an die Gruppe ein, die an Wahrnehmungen oder Materialien geknüpft sind. Die Fragen spielen eine Schlüsselrolle für die Interpretation der Geschichte und für die Partizipation der Besucher und Besucherinnen. Je geschlossener die Fragen, je mehr die Fragen auf eine bestimmte Antwort abzielen, die richtig oder falsch ist, desto weniger fördern sie das Gespräch und desto stärker etablieren sich Hierarchien in der Gruppe. Je offener die Fragen, desto besser können sich die Gruppenmitglieder gleichberechtigt ins Gespräch einbringen. Die besten Fragen sind jene, die mehrere Ansätze und Positionen zulassen oder mit denen der Vermittler bzw. die Vermittlerin selbst noch nicht zu Ende gekommen ist. Eine solche Frage könnte sich z.B. im Denkmalpark darauf beziehen, wie die Besucher und Besucherinnen aus heutiger Sicht die Entscheidung beurteilen, dass die Einrichtungen des ehemaligen SS-Lagers entfernt und durch Denkmäler ersetzt wurden.

Drei Beispiele für Stationen des Rundgangs

Der begleitete zweistündige Rundgang macht kurz nach Beginn Station auf der Lagerstraße oberhalb des ehemaligen Sanitätslagers. Im ersten Abschnitt des Rundgangs steht die Umfeld-Perspektive im Mittelpunkt, jedoch gerade an dieser Stelle in enger Verbindung mit Opfer- und Täterperspektiven. Der Blick fällt auf eine große Wiese mit Baumreihen. Hier befand sich ab 1943 das Sanitätslager, ein isolierter Lagerteil für kranke und nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge. Sie wurden praktisch ohne medizinische Pflege ihrem Schicksal überlassen – ein Sterbeort für Tausende. Etwa 20 Meter vom Sanitätslager entfernt, nur durch einen Zaun getrennt, befand sich im KZ Mauthausen der Fußballplatz der SS. Die SS-Fußballmannschaft trug 1944 auf diesem Platz ihre Heimspiele in der oberösterreichischen Meisterschaft aus. Mannschaften aus der Region waren regelmäßig zu Gast auf dem Platz neben dem Sterbelager, und Publikum war dabei. Männer, Frauen, Jugendliche aus der Umgebung besuchten die Fußballspiele im KZ. Sie sahen dabei auch das benachbarte Sanitätslager. Eine der Fragen, die uns beschäftigt und die wir der Gruppe stellen, forscht nach möglichen Erklärungen dafür, dass Menschen als Zuschauer zu Fußballspielen ins KZ kamen – wissend, dass nebenan Menschen sterben. Die Überlegungen dazu in der Gruppe führen zu sozialpsychologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens, zu moralischen Fragen und oft auch zur Selbstreflexion in der Rolle des Zuschauers bzw. der Zuschauerin in der Gesellschaft heute.

Das zweite Beispiel: Beim ehemaligen Kommandanturgebäude wird, mit Unterstützung durch einen Text oder ein Foto, die Täter-Perspektive besprochen. Es gibt z.B. eine Reihe von Fotos, auf denen SS-Offiziere Arm in Arm bei der Geburtstagsfeier des Kommandanten Franz Ziereis im August 1943 zu sehen sind. Im Gespräch mit der Gruppe können die Rollen resümiert werden, in denen bisher im Rundgang SS-Männer vorgekommen sind: als Wachmänner, als Schläger und Todesschützen im Steinbruch, als Fußballspieler. In welcher Situation werden sie auf dem Foto gezeigt? Wie wirken sie in dieser Situation? Was strahlen sie aus? Solche Fragen bringen Faktoren wie ideologisch begründetes Elitedenken, Selbstbewusstsein durch Uniform, Eröffnung von Karrierechancen und Zusammenhalt durch Kameradschaftsgefühl ins Gespräch. Mithilfe dieser Gruppenfotos lässt sich auch die arbeitsteilige Organisation der gemeinschaftlich begangenen Verbrechen thematisieren. Durch die Rollenverteilung beim Morden teilte sich vielleicht die moralische Verantwortung auf, und die Teamarbeit mochte beim Einzelnen die Überzeugung verstärken, das Richtige zu tun. Der private Zweck dieser SS-Fotos lenkt die Aufmerksamkeit auf die unscheinbar bürgerliche Kehrseite jener Menschen, die mit ihren Familien in Siedlungshäusern nahe dem KZ lebten und meist gut in die Dorfgesellschaft integriert waren. Dieser gesellschaftliche und staatliche Rückhalt bestärkte sie in ihrem Verhalten. Viele SS-Angehörige kamen aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft und kehrten nach 1945 wieder dorthin zurück.

Das dritte Beispiel bezieht sich auf die sogenannte »Mühlviertler Hasenjagd« Anfang Februar 1945.[10] 500 sowjetische Offiziere, die dem Tod geweiht waren, unternahmen einen Massenausbruch aus dem Block 20 des KZ Mauthausen. In der folgenden Menschenhatz wurden fast alle von SS-Männern oder von Menschen aus der Umgebung ermordet. Nur acht überlebten. Diese Geschichte zeigt, dass der Begriff »Täter« nicht auf die SS beschränkt werden darf. Viele schlossen sich der Jagd an und wurden zu Tätern oder Mittätern; andere hielten sich als Zuschauer oder Wegschauer heraus; manche entschieden sich dafür, zu helfen, und einige wenige wurden zu Rettern, indem sie Geflüchtete bei sich zu Hause versteckten.

Das Thema der sogenannten »Mühlviertler Hasenjagd« eignet sich besonders gut als Abschluss des Rundgangs, weil darin Opfer-, Täter- und Umfeld-Perspektiven wieder miteinander verknüpft werden. Außerdem wird nach dem Gang durch das scheinbar abgeschlossene Innere der Gedenkstätte die Verbindung mit der Gesellschaft wiederhergestellt, ohne die das KZ nicht möglich gewesen wäre. Als Standort bietet sich der Zaun nahe dem Block 20 mit Blick auf die umliegenden Felder an. Nach einer kurzen Erzählung des Massenausbruchs und der Hatz bekommen die Besucher und Besucherinnen z.B. einen Bericht der Bäuerin Theresia Mascherbauer in die Hand.[11] Der Text führt eine der Entscheidungssituationen vor Augen, vor denen Menschen während der Jagd auf die Häftlinge standen:

»Als er zum Haus kommt, sehe ich, dass er eine Sträflingsuniform anhat. Er kam herzu, ganz verängstigt, eine gefrorene Rübe unter dem Arm. Er bat um Zündhölzer. Wir sagten ihm, er solle warten, wir geben ihm etwas zu essen. Er ging aber gleich wieder weg. Ich richtete einen Korb mit Essen her und wir gingen der Spur in den Wald nach. Dort kniete er unter einem kleinen Nadelbaum, dort hatte er einen Fetzen, den er auflegte, wir legten ihm das Essen darauf und gingen gleich wieder weg. Wir mussten ja aufpassen.«[12]

»Wie würdet ihr das Verhalten der Bauersleute beschreiben?«, wäre eine mögliche Einstiegsfrage an die Gruppe.[13] In der Diskussion kann herausgearbeitet werden, dass es sich um eine Entscheidung zur Hilfe handelt, die zweimal getroffen wird. Johann und Theresia Mascherbauer entschließen sich dann sogar ein drittes Mal zur Hilfe und verbergen den Geflüchteten bis zum Kriegsende. Auch denkbare Gründe für dieses Verhalten, das, wie der letzte Satz andeutet, nicht ungefährlich war, lassen sich erörtern. Vor allem aber ist es wichtig festzuhalten, dass es Handlungsspielräume gab – entgegen den Mythen der Nachkriegszeit, dass alle starr vor Angst keine Wahl hatten und mitlaufen mussten. Viele entschieden sich mit voller Absicht dafür, den Nationalsozialismus zu unterstützen. Die Geschichte der sogenannten »Mühlviertler Hasenjagd« kann am Ende des Rundgangs noch einmal das Bewusstsein stärken, dass die Entscheidungen der vielen einzelnen Menschen für die Geschichte zählen – damals wie heute.

 

Dr. Christian Angerer ist Germanist und Historiker. Er ist seit 2008 Mitarbeiter im pädagogischen Team an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen.

 

[1] Zur Geschichte der KZ-Gedenkstätte Mauthausen siehe: Bertrand Perz, Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen. 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck 2006.

[2] Zum Denkmalpark in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen siehe: Hildegard Schmid/Nikolai Dobrowolskij (Fotografie), Kunst, die einem Kollektiv entspricht … Der internationale Denkmalhain in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2007.

[3] Hans Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. Dokumentation, 4. Auflage, Wien 2006.

[4] Das Konzentrationslager Mauthausen 1938–1945. Katalog zur Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2013; Der Tatort Mauthausen/The Crime Scenes of Mauthausen. Eine Spurensuche/Searching for Traces, Wien 2014.

[5] Yariv Lapid/Christian Angerer/Maria Ecker, »Was hat es mit mir zu tun?« Das Vermittlungskonzept an der Gedenkstätte Mauthausen, in: GedenkstättenRundbrief Nr. 162, 8/2011, S. 40–45.

6    Dieses EU-Projekt wird dokumentiert auf der Website www.edums.eu sowie in der Broschüre: Ines Brachmann/Yariv Lapid/Wolfgang Schmutz (Eds.), The Challenges of Interaction. Developing Education at Memorial Sites, Bregenz 2014, abrufbar unter www.edums.eu/images/publication/publication_edums_mauthausen.PDF [letzter Zugriff am 12. 4. 2016].

[7] Zur Bedeutung von Multiperspektivität in der historisch-politischen Bildung an Gedenkstätten vgl. z.B. Hanna Huhtasaari, Die Bundeszentrale für politische Bildung. Selbstverständnis und Auftrag im Arbeitsfeld Gedenkstättenpädagogik, in: Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, hrsg.v. Elke Gryglewski u.a., Berlin 2015, S. 82–97, hier S. 93.

[8] Vgl. Julius Scharnetzky, Führungen an Orten mit nationalsozialistischer Vergangenheit, in: Gedenkstättenpädagogik, S. 236–250, hier S. 244–249.

[9] Vgl. die Ausführungen zum Überwältigungsverbot, zum Kontroversitätsgebot und zur Ermächtigung der Adressaten, eigenständig zu urteilen, bei Wolf Kaiser/Kuno Rinke, Zum Verhältnis von historischer und politischer Bildung in Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, in: Gedenkstättenpädagogik, S. 147–165, hier S. 150–151.

[10] Zur Geschichte der »Mühlviertler Hasenjagd« siehe: Matthias Kaltenbrunner, Flucht aus dem Todesblock. Der Massenausbruch sowjetischer Offiziere aus dem Block 20 des KZ Mauthausen und die »Mühlviertler Hasenjagd« – Hintergründe, Folgen, Aufarbeitung, Innsbruck 2012.

[11] Ines Brachmann, Station »Mühlviertler Hasenjagd«, in: Brachmann/Lapid/Schmutz (Eds.), The Challenges of Interaction, S. 80–82.

[12] Bericht von Theresia Mascherbauer aus: Peter Kammerstätter, Der Ausbruch der russischen Offiziere und Kommissare aus dem Block 20 des Konzentrationslagers Mauthausen am 2. Februar 1945 (Die Mühlviertler Hasenjagd). Materialsammlung. Aussagen von Menschen, die an der Verfolgung beteiligt waren oder zusehen mussten, und solchen, die Hilfe gaben, Linz 1979, S. 100–101. [Hier sprachlich bearbeitet von Christian Angerer].

[13] Brachmann, Station »Mühlviertler Hasenjagd«, S. 82.