Orientierung durch Geschichte und Erinnerung

Überlegungen zum bundesweiten Gedenkstättenseminar im Mai 2002 in Weimar
08/2002Gedenkstättenrundbrief 108, S. 5-11
Robert Büchler, Wolf Kaiser und Peter Krahulec

Vom 23.–26. Mai 2002 hat das 37. bundesweite Gedenkstättenseminar in Weimar unter dem Titel: »Orientierung durch Geschichte und Erinnerung? Eine Tagung zur Gedenkstättenpädagogik mit dem Blick auf das kommende Jahrzehnt« stattgefunden. Angesichts des zunehmenden zeitlichen Abstands und des »Übergangs von der Zeitgeschichte zur Geschichte« hinsichtlich der Beschäftigung mit der NS-Zeit und dem Gedenken an die Opfer wurde in den Vorträgen, Plenumsdiskussionen sowie in den Arbeitsgruppenphasen die grundlegende Fragestellung diskutiert, wie Gedenkstätten inhaltlich und methodisch auf diese Situation reagieren und welche Konsequenzen sich für die zukünftige Arbeit ergeben.

Am letzten Tag der Veranstaltungen haben Norbert Büchler, Überlebender der KZ Auschwitz und Buchenwald, Wolf Kaiser, Pädagoge in der Bildungs- und Gedenkstätte im Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin und Peter Krahulec, Erziehungswissenschaftler an der Fachhochschule in Fulda, aus Ihrer jeweils unterschiedlichen Sichtweise auf die Fragestellung ein Resümee gezogen. Die drei Beiträge sind im Folgenden hintereinander abgedruckt.

Weitere Texte, Papiere und Zusammenfassungen sind als Protokoll dieses Gedenkstättenseminars im Internet auf den Seiten des GedenkstättenForums (www.gedenkstaettenforum.de) in der Rubrik »Public Newsgroup« abgelegt.

Thomas Lutz

Die Zukunft der Gedenkstätten

Robert Büchler

Wie gesagt, ich blicke auf diese Tagung zurück aus der Perspektive eines Überlebenden des Konzentrationslagers. Zuerst möchte ich betonen, dass das, was ich jetzt sage, meine persönliche Meinung ist.

Das Motto dieser Tagung heißt: »Die Zukunft der Gedenkstätten« oder »Zur Gedenkstättenpädagogik mit Blick auf das kommende Jahrzehnt«. Von dem, was ich gemeinsam mit den übrigen Teilnehmenden gehört und gelernt habe, ist für mich klar geworden, wie kompliziert und anspruchsvoll die Arbeit der Gedenkstätten in der Zukunft sein wird.

Als Überlebender des Konzentrationslagers bin der Meinung, dass es für die Zukunft nicht ausreicht zu schildern, welche Verbrechen vor etwa 70 Jahren an diesen Orten begangen wurden. Wenn wir die Gedenkstätten auch weiterhin in Stand halten wollen und sie funktionsfähig sein sollen, wird es notwendig sein, das pädagogische Programm zu erweitern und zusätzlich zu den spezifischen auch universale Themen und Probleme, die der jungen Generation nahe liegen, in die Bildungsarbeit zu integrieren.

Ich bin kein Pädagoge, aber wenn ich darf, möchte ich zu diesem Punkt meine Meinung sagen: Ich denke, dass die Gedenkstättenarbeit sich künftig auch mit den Problemen der demokratischen Gesellschaft und mit der Verteidigung ihrer Werte befassen muss. Eben die Werte, wie z. B. Menschenrechte und -würde, Humanität, Toleranz und Frieden, die in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern auf brutalste Art mit Füßen getreten wurden. Ich glaube, wenn auch diese Themen ins pädagogische Programm eingeordnet und die Probleme mit den jungen Besuchern erörtert werden, wird es ihnen leichter sein, die Geschichte der Konzentrationslager und deren Bedeutung für heute zu begreifen.

Natürlich, die Gedenkstätten zu erhalten, bedeutet vor allem, die Erinnerung an das Leid der Opfer wachzuhalten. Diese beiden von mir erwähnten Grundsätze der Gedenkstättenarbeit – Gedenken und Lernen für die Zukunft – widersprechen sich nicht. Im Gegenteil! Sie ergänzen sich wechselseitig.

Mir ist klar, nicht alle von meinen Leidensgenossen stimmen mir in diesem Punkt zu. Ihnen würde ich sagen, sie sollen realistisch die künftige Entwicklung betrachten und dabei, wenn es ihnen möglich ist, ihre eigenen Erfahrungen und Emotionen zurückstellen. Aber auch wir, die Überlebenden, dürfen uns nicht vor diesen Problemen drücken und sagen: Die Fragen sind nicht unsere, das müsst ihr, die Pädagogen, unter euch klären. Für die Gedenkstätten ist es sehr wichtig, dass sich die Überlebenden an der pädagogischen Arbeit intensiv beteiligen. Sie hier im Saal wissen es besser als ich: die Zeugenberichte sind ein wichtiger Bestandteil der Gedenkstättenpädagogik und werden es auch in Zukunft sein. Für die Authentizität eines Zeugenberichtes gibt es keinen Ersatz. Ich wende mich an Sie: Nutzen sie die Gelegenheit aus, solange wir noch da sind.

Erinnerungsarbeit und Zukunftsfähigkeit

Wolf Kaiser

Mit Bedacht ist der Titel der Tagung mit einem Fragezeichen versehen worden: »Orientierung durch Geschichte und Erinnerung?« Können wir die Frage, ob historische Erinnerung eine Orientierung für die Zukunft vermittelt, im Nachhinein bejahen? Sie lässt sich wohl nicht generell und ein für allemal beantworten. Vielmehr ist deutlich geworden, dass es darauf ankommt, wie wir mit der Geschichte umgehen und auf welche Weise wir sie zu den Problemen, vor die wir jetzt und in Zukunft gestellt sind, in Beziehung setzen. »Erinnern für die Zukunft« (so heißt der Trägerverein des Hauses der Wannsee-Konferenz, in dem ich arbeite) ist ein Imperativ, der der didaktischen und methodischen Konkretisierung bedarf, wenn er mehr sein soll als eine wohlklingende Parole, die uns über Zweifel am Sinn unserer Tätigkeit hinweghilft.

Es ist auch nicht anzunehmen, dass der Erinnerung zu jeder Zeit das gleiche Gewicht beigemessen wird. Geschichtsbewusstsein ist bekanntlich selbst ein historisches Phänomen. Noch weniger selbstverständlich ist es, dass eine Gesellschaft bereit ist, sich mit ihrer Vergangenheit wirklich auseinander zu setzen, zumal wenn es um eine verbrecherische Vergangenheit geht. Es hängt von politischen Entwicklungen, aber auch von den Lebensbedingungen ab, ob und in welchen gesellschaftlichen Gruppen ein Bedürfnis nach Aneignung und kritischer Reflexion der Geschichte besteht oder ob der Bedarf an Mythen und Trost durch die Berufung auf eine angeblich glorreiche Vergangenheit wächst.

Wer eine Vorstellung davon gewinnen will, welche Bedeutung historische Erinnerung, in unserem Fall die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen und ihre Opfer, in Zukunft haben wird, muss nach den Rahmenbedingungen fragen, unter denen sie stattfinden wird. Auf die Beschreibung solcher Rahmenbedingungen zielten die Prognosen, die zu Beginn der Tagung formuliert worden sind. Diese Prognosen waren überwältigend negativ (was leider nicht heißt, dass sie sich nicht bewahrheiten können). Überwältigend wirkten sie vor allem deswegen, weil sie kaum Möglichkeiten erkennen ließen, auf die prognostizierten Entwicklungen einzuwirken, zumindest nicht durch unsere Tätigkeit als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Gedenkstätten. Unter diesem Eindruck schien es zunächst unmöglich, zukunftsweisende Antworten auf die Frage zu formulieren: »Wozu brauchen wir im Jahre 2012 Gedenkstätten?«

An den folgenden Tagen haben wir erneut Anlauf genommen und uns in Arbeitsgruppen zu verschiedenen Praxisfeldern auf die verfügbaren Ressourcen an Erfahrung, Kreativität und Optimismus besonnen, Ressourcen, die nicht nur bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vorhanden sind, sondern auch bei Menschen verschiedenen Alters, die Gedenkstätten besuchen. In diesen Arbeitsgruppen wurden nicht gleich konkrete Entwürfe für die Zukunft entwickelt. Vielmehr ging es zunächst darum, die bisherige Entwicklung und den heute erreichten Stand zu beschreiben sowie Erfahrungen mit erfolgreichen neuen Konzepten oder Beispiele guter Praxis vorzustellen. Dabei wurde deutlich, dass die Werte, an denen sich die Gedenkstättenarbeit in der Vergangenheit orientiert hat, keineswegs generell als obsolet betrachtet werden können. Authentizität und Glaubwürdigkeit etwa, die bereits am ersten Abend als grundlegende Prinzipien gedenkstättenpädagogischer Arbeit genannt wurden, waren die Schlüsselbegriffe in der Diskussion der Arbeitsgruppe, die sich mit der Frage befasste, wodurch sich gelungene Führungen auszeichnen. Die durchaus bewährten Mustern folgende Vorgehensweise in den Arbeitsgruppen verhinderte nicht den »Blick auf das kommende Jahrzehnt«, der allen Teilnehmern nahe gelegt worden war. Es erwies sich als nützlich, die Frage nach den künftigen Gegebenheiten, Erfordernissen und Möglichkeiten mitzudenken und zum Teil auch explizit zu diskutieren.

Im Hinblick auf diese Frage zeichneten sich zwei Tendenzen ab: zum einen eine weitere adressatenspezifische Ausdifferenzierung der didaktischen und methodischen Konzepte für den Umgang mit der Geschichte, zum andern die Bereitschaft, nach neuen Wegen zu suchen, wie der mit gedenkstättenpädagogischer Arbeit seit je verbundene Anspruch, zur Achtung der Würde des Menschen, zur bedingungslosen Respektierung der Menschen- und Bürgerrechte beizutragen, realisiert werden kann.

Bei diesen Bemühungen werden auch außerhalb der Gedenkstätten gesammelte Erfahrungen einzubeziehen sein. Wir werden fragen müssen, welchen spezifischen Beitrag die Gedenkstätten leisten können und welche Methoden an diesen Orten möglich und angemessen sind. Zudem wird der internationale Austausch über den Umgang mit den Massenverbrechen der Nationalsozialisten intensiviert werden müssen. Auch in Deutschland werden sie nicht nur im Horizont der nationalen Geschichte gesehen werden können. Das darf nicht bedeuten, die deutsche Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen zu relativieren oder gar aus dem Blickfeld zu rücken. Der Frage, warum gerade in Deutschland eine verbrecherische Diktatur errichtet und von Deutschen mit einer beispiellosen Radikalität Völkermorde ungeheuren Ausmaßes begangen wurden, werden wir nicht ausweichen können, selbst wenn wir es wollten. Sie stellt sich jedoch nach dem Ableben der Tätergeneration als ein historisches Problem, nicht als eine aktuelle moralische Frage nach Schuld und Sühne. Das schließt nicht aus, dass aus der nationalen Kontinuität moralische Verpflichtungen (u.a. zu Entschädigungsleistungen) abzuleiten sind. Im Hinblick auf die genannten pädagogischen Ziele jedoch wird die Frage nach dem Ursprung der nationalsozialistischen Verbrechen in der deutschen Geschichte kaum den günstigsten Zugang bieten, und zwar nicht nur im Hinblick auf Adressaten nichtdeutscher Herkunft.

Es kann nicht das letzte Ziel von Pädagogik sein, jeweils den nachfolgenden Generationen die Last der Erinnerung an die Verbrechen der Vorfahren aufzuladen; vielmehr geht es darum, ihnen zu helfen, sich diese Geschichte anzueignen und über die durchaus gegenwartsbezogenen und für die Zukunft bedeutsamen Fragen nachzudenken, die sich daraus nicht nur für Deutsche ergeben. Dazu ist es notwendig, sich von Schuldgefühlen zu befreien, die sich auch bei Nachgeborenen einstellen können, und von der (manchmal vorgeschobenen, aber nicht selten wirklich vorhandenen) Empfindung vermeintlicher Herabsetzung aufgrund der Zugehörigkeit zur deutschen Nation. Ein in diesem Sinne souveräner Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus dient nicht der nationalistisch motivierten Entsorgung der deutschen Geschichte; vielmehr könnte er dem nationalistischen Diskurs über die Geschichte den Boden entziehen.

Soziales Gedächtnis und Utopiefähigkeit:

Gedenkstättenpädagogik in der Zukunft – Zielvorstellungen eines Erziehungswissenschaftlers

Peter Krahulec

Unter Architekten trüge mein Beitrag vermutlich die Funktionsbestimmung »Sollbruchstelle«; das meint: Die professionelle Skepsis dem eigenen Tun gegenüber generiert beispielsweise die ultima ratio: Wenn ein Damm tatsächlich brechen sollte, dann an einer vorher bestimmten Stelle, um die Dinge wenigstens unter Kontrolle behalten zu können.

Zum Monitoring Ihres respektablen Zukunftsbaus, den Sie in den vergangenen drei Tagen entworfen haben, haben Sie – das gebietet die prima ratio! – mit Robert Büchler einen verehrungswürdigen Überlebenden des univers concentrationaire eingeladen. Was aber haben Sie von einem Pädagogen?

Nun, einer der Großen meiner Zunft, Hartmut von Hentig, hat die Aufgaben von Pädagogik und von PädagogInnen zweifach bestimmt: »die Dinge klären, die Menschen stärken«1. Zum ersten Auftrag hat etwa Volkhard Knigge im Rundbrief Nr. 100 positiv bilanziert: Gedenkstätten ringen nicht mehr am Rande um Akzeptanz, sondern zählen potentiell zur »kulturellen Grundausstattung der Bundesrepublik Deutschland«. 100 Orte, über 3 Millionen Besucher hat Thomas Lutz in meiner Arbeitsgruppe geschätzt. »Alles« geklärt?

Für zusätzliche Klärungen haben Sie Uwe Buermann, Reiner Steinweg und Andreas Zumach zum Eröffnungsabend und zum Blick in die (nähere) Zukunft eingeladen. Da kam Unmut auf im zahlreichen Auditorium. Dazu muss ich von meiner Profession her sagen: Die didaktische Grundkategorie, was aus schier Unendlichem wähle ich aus für endliche Vermittlungszeit, ist: das, was Zukunftsbedeutung hat! Darin stimmen Wolfgang Klafki, Oskar Negt, Hartmut von Hentig und alle anderen meiner »Säulenheiligen« uni sono überein.

Freilich: Zukünftiges kann zweifach »geklärt« werden: im worst case, wie gehört; oder aber unter dem pädagogischen Postulat »die Menschen stärken«. Dann käme eher mein kulturanthropologischer Optimismus als Berufsethos zum Tragen, das dreifache »Ja!«: Ja, wir Menschen sind lernbedürftig; ja, wir Menschen sind aber auch lernfähig; und vor allem, wir Menschen sind zum Besseren hin fähig. »Nichts ist dazu verurteilt, so zu bleiben, wie es ist«, sagt Ernst Bloch, der Hoffende. Dann kann auch Zukunft »ersonnen« werden, wie wiederum André Gorz das früh schon formuliert hat2.

Mit diesem pädagogischen Grundkonzept als Wünschelrute habe ich Ihren Kongress beobachtet, um Widersprüche, vor allem aber um Anschlussstellen zu suchen. Zunächst ein paar chronologische Eindrücke:

Prima vista: So viele junge Menschen! Zukunft ad personas? Im Gespräch vermittelt sich ein gebrochener Eindruck: so viele prekäre Existenzen scheint es, auf der (berechtigten) Suche nach einer Planstelle… Logisch erscheint daher der Zwischenruf am ersten Abend, als Andreas Zumach Wir-Postulate entwarf: »Wer ist wir?«. Generationsspezifische und partizipationsspezifische Ungleichzeitigkeiten prägten diesen Kongress. Und meine hier zahlreicher vertretene Generation muss sich und kann sich aber auch der Tatsache stellen, dass wir den größten Teil unserer Zukunft bereits verbraucht haben.

Daniel Gaedes Film über drohende ökologische, globalistische Katastrophen sollte wachrütteln, er rüttelte aber auch an einem Grundpfeiler unseres Selbstverständnisses, das sich in der Chiffre »Nie wieder!« aufhebt. Warnen wir damit immer noch vor den wirklichen Gefahren? Aus dem Blickwinkel der Weltgesellschaft entstehen neue Verbrechen: »Verbrechen gegen die Zukunft«. Ein Trittstein hierzu aus meiner Arbeit hier am Zwillingsort Weimar-Buchenwald:

Gemeinsam mit dem Erfurter Kollegen Siegfried Wolf haben wir (ganz im Sinne des Negtschen Prinzips des exemplarischen Lernens) Spurensuche zu einem Tag betrieben, in dem eine ganze Epoche zusammenlief, zum 16. April 1945, als – Sie erinnern sich – der amerikanische Stadtkommandant 1000 Weimarer Bürgerinnen und Bürger ins gerade befreite KL Buchenwald befahl, »um sich von den Zuständen dort zu überzeugen«. Siegfried Wolf und ich haben die Ergebnisse jener speziellen Unfähigkeit wahrzunehmen und zu trauern in einem Buch beschrieben. Unabgegolten aber im blochschen Sinne blieb der Denkstachel, den die 1945 22-jährige Zeitzeugin Gisela Hemmann uns mit den Worten aufgab: »Wie unbedacht man durch diese Zeit gegangen ist…«

Das ist doch die Anfrage an jeden auf dem Ettersberg und anderswo Spurensuchenden: Wie bedacht gehst Du durch Deine Zeit – und in welche Zukunft? Emphatisch ausgedrückt: An welche Orte müssten denn wir Heutigen – vermutlich auch verordnet – geführt werden, »um uns von den Umständen heute zu überzeugen«?

Unsere Stärke ist der »authentische Ort«. Was wird im Zuge der Virtualisierung, der De-Realisierung aus unseren Orten? »Wir ertrinken in Informationen und dürsten nach Wissen«, beschreibt der Zukunftsforscher John Naisbitt einen »Megatrend«3.

2012, sagt Reiner Steinweg, wird der Vorrat an Demokratie aufgebraucht sein. Bereits vor einigen Jahren hat ein großer Träger der außerschulischen Bildung, der AdB (Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten e.V.), sein Jahresmotto so gewählt: »Demokratie ist kein unverlierbarer Besitz«! Die Gedenkstätten haben den Lernort-Diskurs lange »geklärt«, also werden Gedenkstätten zukünftig verstärkt »Lernorte für Demokratie« sein (müssen).

Dieser dialektischen Denkfigur bin ich im Zuge unseres Kongresses immer wieder begegnet, und sie halte ich für nachhaltig: aus der These ex negativo die Antithese zu erarbeiten, um zu einer zukunftsfähigen Synthese zu gelangen. Bernhard Schoßig etwa fragte in der Menschenrechts-AG: Was lässt sich am Terrorort positiv vermitteln (über das Gedenken an die Opfer hinaus)? Und er stellte Dachau nicht nur als »Lernort für Demokratie« vor, sondern expolierte aus dem »KZ als internationalem Ort« die »Idee einer europäischen Friedensordnung«.

Ich pflichte ihm bei mit der Erinnerung an eine Streitschrift des englischen Verlegers und Sozialisten Victor Gollancz: »What Buchenwald really means« aus dem Jahre 19454, die seinerzeit die britische Vorstellung von deutscher Kollektivschuld relativierte.

Die Deklaration der Menschenrechte, daran hat Rainer Huhle erinnert, wurde als positive Antwort auf die NS-Menschenrechtsverletzungen kodifiziert. Zwar beschäftigt sich in zunehmendem Maße pädagogische Literatur mit dem Thema Menschenrechtserziehung, dass sich jedoch vergleichsweise wenig »good practice« dazu findet, wie es eine AG erbrachte, macht solche Kongresse wie diesen notwendig. »Kollegiale Beratung« heißt in meiner Fachsprache, was hier stattfand – und mit ein wenig Pathos: »Ermutigung der Ermutiger«.

»Spiegel des Möglichen« hat Rikola-Gunnar Lüttgenau in seiner AG Gedenkstätten genannt. Darin muss sich nicht nur die »Banalität des Bösen« spiegeln. Es gibt auch eine »Banalität des Guten«, und eine Ermöglichungsdidaktik (auch dieses Wort fiel in einer AG) könnte »Gedenkstätten als Zukunftswerkstätten« konzipieren.

Hieraus könnte mehr als nur ein Synergie-Effekt resultieren, wenn Sie bereit wären, den bislang dominierenden Mainstream der HistorikerInnen um die Kompetenz von PädagogInnen anzureichern. In einer dreiminütigen tour de force will ich anreißen, wo Schnitt- und Anschlussstellen wären unter der Aufgabe »Zukunftsfähigkeit«.

Sieben »epochaltypische Schlüsselprobleme« hat der Marburger Emeritus Wolfgang Klafki 1994 formuliert5 – und Sie werden sich sofort an die drei Experten des Eröffnungsabends erinnern:

• Krieg und Frieden

• die ökologische Krise

• das rapide Wachstum der Weltbevölkerung (das der Bremer Genozid-Forscher Gunnar Heinsohn »den heranwachsenden Krieg« nannte)

• die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit

• das Problem des Nationalitätenprinzips versus Interkultur

• das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit durch E-Medien

• die Ich-Du-Beziehung und der Glücksanspruch im kapitalistischen Konkurrenzprinzip.

Welche Beiträge kann eine interkulturell und friedenspädagogisch orientierte Disziplin dazu leisten? Und das unverwechselbar in Gedenkstätten, ohne diese zu austauschbaren Orten der allgemeinen Bildungsarbeit zu machen. Sechs Aufgaben haben m.E. eine gemeinsame Perspektive6:

• Zentrales Thema bleibt die Gewalt als Brutalisierung des Alltags (inklusive der Geschlechterbeziehung) und als internationaler Bürgerkrieg. Ergo: Affektkontrolle ausbauen, Sensibilisierung gegen Gewalt erhöhen.

• Kommunikationsfähigkeit reduziert Gewaltbereitschaft. Ergo: Kommunikative Strategien sind die gewaltfreie Alternative. Formen der Verhandlung, des Kompromisses und des Interessenausgleichs thematisieren. (An dieser Stelle ein hochachtungsvoller Gruß nach Nürnberg zur Arbeit des Kollegen Rainer Huhle).

• Neue multiple Loyalitäten entwickeln. Ergo: den ethnischen Absolutismus relativieren; Inklusion statt Exklusion zur gesellschaftlichen Strategie verhelfen.

• Interkulturelle Kompetenz: Durch wachsende Migration stößt soziale Akzeptanz bislang an Grenzen der Konvention und Tradition. Ergo: Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit für Fremdes und die Fähigkeit entwickeln, das Andere als anders zu akzeptieren. Normenflexibilität ist notwendig bei Wahrung eines Grundkonsenses auf der Basis der allgemeinen Menschenrechte (– ein zweiter Gruß nach Nürnberg).

• Entfeindung organisieren versus die organisierte Friedlosigkeit. Ergo: Menschen befähigen, stabilere Identitäten aufzubauen, ohne andere zum Zwecke der Selbststabilisierung abzuwerten.

• Empathie und Zivilcourage fördern. Ergo: Subjektentwicklung und Selbstwertstärkung, die zu prosozialem Handeln befreien (am Orte Buchenwald mit Hintersinn gesprochen: Dies scheint mir die historische Lektion »Selbstbefreiung« zu sein).

In der Summe: Das wäre doch auch eine »kulturelle Grundausstattung« (s.o.) demokratie- und zukunftsfähiger Subjekte! So wird historische Kompetenz zur Voraussetzung für das Vertrauen, dass Krisen überwunden und gesellschaftliche Brüche gestaltet werden können. »Soziales Gedächtnis und Utopiefähigkeit«, sagt Oskar Negt7, »sind zwei Seiten derselben Sache. Wer für das Ganze keine Hoffnung hat, hat auch für sich selbst keine. Erst wenn wir einen Begriff von der Vergangenheit haben – wie geworden ist, was ist, und wo wir stehen – gewinnen wir Utopiefähigkeit zurück, können wir Befreiungsphantasien entwickeln, die aus wissender Hoffnung besteht«.

1    vgl. u.a.: Hartmut von Hentig: Die Schule neu denken. Eine Übung in praktischer Vernunft. Carl Hanser Verlag, München/Wien, 2. erweit. Auflage 1993

2    vgl. André Gorz: Kritik der ökonomischen Vernunft. Rotbuch Verlag, Berlin 1989

3    vgl. John Naisbitt: Megatrends. 10 Perspektiven, die unser Leben verändern werden. Vorhersagen für morgen. Bertelsmann Verlag, Gütersloh o.J.

4    Victor Gollancz: What Buchenwald really means. The Fanfare Press, London 1945, 16 Seiten

(auch im Buchenwald-Archiv)

5    vgl. Wolfgang Klafki: Orientierungspunkte demokratischer Schulreform. Vierzehn Thesen zu den Schwerpunkten äußerer und innerer Schulreform in den neunziger Jahren; in: Wolfgang Klafki et.al.: Selbstbewusste Kinder – Humane Schule. Anregungen für eine bildungspolitische Grundsatzdiskussion. Schriftenreihe der Fraktion Bündnis 90/Grüne im Landtag von Sachsen-Anhalt, Magdeburg 1994

6    vgl. hierzu v.a.: Hans Nicklas: Friedenserziehung – Erziehung zur Friedensfähigkeit im Umbruch;

in: Wolfgang Sander (Hg): Handbuch politische Bildung. Praxis und Wissenschaft.

Wochenschau-Verlag, Schwalbach 1997

7    vgl. Oskar Negt: Schlüsselqualifikationen für eine zukunftsfähige Bildung;

in: Frankfurter Rundschau vom 5. 11. 1998

Artikel als PDF verfügbar