Paul Gangolf (1879–1936). Vergessener Künstler der Moderne | Ermordeter Häftling des KL Esterwegen, Jan Giebel/Sebastian Weitkamp (Hrsg.)

Buchbesprechung
06/2021Gedenkstättenrundbrief 202, S. 61-63
Thomas Grove

Leid tat mir, dass er sein hervorragendes Selbstbildnis zerstört hat, schreibt Else Lasker-Schüler 1923 über den Künstler Paul Gangolf und charakterisiert ihn damit als überaus selbstkritischen und anspruchsvollen Maler der Avantgarde. Vielleicht auch darin, dass er selbst einige seiner Werke vernichtete, ist ein Grund dafür zu sehen, dass Gangolf weitgehend in Vergessenheit geriet. Die Gedenkstätte Esterwegen widmet ihm 2021 eine Sonderausstellung und möchte sich mit dieser Ausstellung und dem hier zu besprechenden Ausstellungskatalog »auf die Spurensuche nach dem Menschen Paul Gangolf und seiner Kunst begeben und dabei die wenigen, erhaltenen Informationen zu seinem Lebensweg sammeln und mit seinem Werk verknüpfen« (S. 14). Um es gleich voraus zu schicken: Dieses Ziel erreicht das Autorenteam um die beiden Herausgeber Jan Giebel und Sebastian Weitkamp in beeindruckender Weise!

Wohltuend, weil dem Leben Gangolfs angemessen, wird der Lebensweg eines Künstlers nachgezeichnet und dessen Werk erläutert. Das Autorenteam degradiert Gangolf nicht zum NS-Opfer, das er war, sondern würdigt sein künstlerisches Werk, soweit es überliefert ist. Konsequenterweise besteht dieses Autorenteam dann auch aus vier Kunsthistorikern, neben Jan Giebel sind dies die Studierenden Eva Bräuer, Stefan Spitzer und Luise Wangler, und einem Historiker, dem frisch ernannten Co-Leiter der Gedenkstätte Esterwegen, Sebastian Weitkamp. Den Herausgebern ist es zu verdanken, dass der Katalog auch angesichts der Vielzahl der Autoren, die es allesamt verdient gehabt hätten, auch im Inhaltsverzeichnis genannt zu werden, eine Biografie aus einem Guss bietet.

Paul Gangolf wurde 1879 als Paul Löwy in Königsberg als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Als junger Mann zog er 1899 nach Berlin und führte dort spätestens seit 1907 den Künstlernamen »Gangolf«. Er betätigte sich neben seiner künstlerischen Arbeit auch journalistisch, wobei er eine sozialistische Haltung zum Beispiel als Autor im sozialdemokratischen Vorwärts einnahm. Diese politische Position ließ Gangolf schon 1907 ins Visier der preußischen Geheimpolizei geraten. Am Ersten Weltkrieg nahm Gangolf als Kriegsfreiwilliger teil. Zurück in Berlin gelang es Gangolf, Netzwerke in der Künstlerszene zu knüpfen. Zu seinen Vertrauten gehörten, neben der bereits erwähnten Else Lasker-Schüler, deren Ehemann Herwarth Walden und Wieland Herzfelde. Auch dank seines Mentors Gustav Schiefler gelingt es Gangolf an bedeutenden Ausstellungen in Berlin und darüber hinaus beteiligt zu sein und damals in Sammlerkreisen beliebte Kunstmappen aufzulegen. Ab 1925 lebte und arbeitete Gangolf, unterbrochen von einem gut halbjährigen Aufenthalt in London im Jahr 1931, bis zum Sommer 1932 in Paris. Auch dort zählte er zu dem kleinen Kreis der Besten. Trotz dieser Anerkennung seiner Arbeit lebte er doch durchgehend in finanziell prekären Verhältnissen. Zurück in Berlin versetzte ihn die nationalsozialistische Herrschaft in eine resignative Stimmung, muss er als Jude doch direkt unter den antisemitischen Maßnahmen gelitten haben. Eine direkte Verfolgung Gangolfs scheint es zunächst nicht gegeben zu haben. Erst um den Jahreswechsel 1934/35 wurde Gangolf verhaftet, wohl aufgrund abfälliger Bemerkungen Gangolfs über NS-Größen. Inhaftiert im KL Esterwegen wurde er mit einer Schussverletzung im Mai 1935 ins Krankenhaus Sögel eingeliefert, überlebte diese Verletzung und wurde im Juni 1935 aus dem KL entlassen. 1936 hielt sich Gangolf in Lissabon und Paris auf.

Im Sommer 1936 kehrte er dann zurück nach Deutschland und wurde – so vermutet Weitkamp – wohl im Zuge der Maßnahmen gegen zurückkehrende Emigranten erneut verhaftet und ein zweites Mal am 10. August 1936 in Esterwegen inhaftiert. Am 12. August musste Gangolf dann mit einer Strafkompanie zum Reisig Sammeln ausrücken. Dabei fielen mehrere wohl gezielte Schüsse der SS-Wachmannschaften, die Gangolf tödlich trafen.

Kommentar des SS-Arztes Ostermeier: »Aha, ist das Judenschwein bei Abraham.« Gangolfs Kunst wurde von den Nationalsozialisten als entartet diffamiert und zahlreiche seiner Kunstwerke wurden von ihnen beschlagnahmt und gingen auf diese Weise verloren. Erst 2004 und dann 2019 wurden Gangolfs Werke wieder durch Ausstellungen einem größeren Publikum in Deutschland zugänglich.

Der Katalog baut auf einer ungemein akribischen Archiv- und Literaturrecherche auf. Die Autoren haben in 17 deutschen und europäischen Archiven Dokumente zu Leben und Werk Gangolfs gehoben und ausgewertet. Über 60 gedruckte Quellen und eine sehr breite Literaturauswahl detailversessen herangezogen, um Puzzleteil für Puzzleteil zu dieser Biografie zusammenzufügen. Damit ist erstmals eine vollständige und quellengestützte Schilderung des Lebenslaufs Paul Gangolfs vorgelegt worden.

Das Buch spricht eine breite Leserschaft an. Kunstinteressierte, Historiker, aber auch wissbegierige Laien werden von der Darstellung inspiriert. Besonders abwechslungsreich wird die Buchlektüre durch die Vielfalt der genutzten Quellen, die dem Leser vorgestellt werden und ihm ein Bild davon vermitteln, wie der Historiker an seine Kenntnisse gelangt. Hier ist exemplarisch die saubere und vollständige Transkription der Akte der preußischen politischen Polizei aus dem Jahr 1908 zu nennen. Ebenso gelungen ist die vollständige Wiedergabe der Mappe »Metropolis« aus dem Jahr 1922, die ergänzt wird durch beschreibende Bildanalysen Eva Bräuers.

Überhaupt hat hier der Wallstein Verlag ein schönes Buch gemacht. Es ist liebevoll und ästhetisch ansprechend layoutet worden. Die Seitengestaltung auf hochwertigem Papier überzeugt, da sie den Kunstwerken Gangolfs den passenden Rahmen gibt. Nur wenige der über 80 Abbildungen sind dann doch zu klein geraten, wie z.B. eine Seite eines Fotoalbums (S. 57) oder die Reproduktionen der Neumannschen Bilderhefte (S. 83 und 85).

Das Herausgeberduo gibt mit den einleitenden Bemerkungen und dem abschließenden 5. Kapitel dem Katalog eine gelungene erzählende Klammer, wenn sie vom Vergessen und Wiederentdecken dieses deutschen Künstlers schreiben. Insgesamt liest sich die Biografie bruchlos, nur im Exkurs zu den Pariser Jahren Gangolfs greift Luise Wangler etwas auf den Mord an Gangolf voraus. Zurecht möchte die Gedenkstätte Esterwegen die Ausstellung zu Gangolf als einen Beitrag zum Gedenkjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« verstanden wissen, denn auch ein nicht durch die Religion geprägtes Leben, wie das Paul Gangolfs war ein jüdisches Leben in Deutschland und seine Religion machte ihn in Esterwegen zum Ziel rassistischer Gewalt.

Sicher ist den Herausgebern zuzustimmen, wenn sie resümieren, dass es auch ihrer Publikation nicht gelingen könne, die Frage »Wer ist Paul Gangolf?« abschließend zu beantworten (S. 146). Wer möchte z.B. nicht erfahren, warum – man möchte ergänzen: warum zum Teufel? – er aus dem sicheren Lissabon noch einmal ins Nazi-Deutschland zurückkehrte, in dem er bereits angeschossen worden war? Und doch gebührt ihnen das Lob, diese Frage besser und vollständiger als je zuvor beantwortet zu haben!

 

Der Geschichtslehrer Thomas Grove ist Schulleiter des Osnabrücker Graf-Stauffenberg-Gymnasiums und veröffentlicht immer wieder kleinere und lokalgeschichtliche Arbeiten zur Zeit des Nationalsozialismus.