Sisyphos lässt grüßen

Von der Arbeitsgemeinschaft zum Bundesverband: Etappen bundesweiter Interessenvertretung der Gedenkstätten
07/2023Gedenkstättenrundbrief 210, S. 148-153
Andreas Ehresmann, Jonas Kühne, Harald Schmid

Den Verband der Gedenkstätten in Deutschland e.V., für den wir hier schreiben, gäbe es ohne das Engagement von Thomas Lutz nicht. Bereits mit dem Beginn seiner Tätigkeit im Gedenkstättenreferat, seinerzeit noch bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste angesiedelt, war ihm stets der Austausch untereinander und die Vernetzung der Aktiven ein wichtiges Anliegen.

Einen Beitrag zur Verabschiedung von Thomas Lutz in den Ruhestand zu verfassen, bedeutet daher auch und nicht zuletzt, seine Rolle und große Bedeutung für die Selbstorganisierung der Gedenkstätten in Deutschland zu betonen und ihm hierfür nachdrücklich und herzlich zu danken.

 

Selbstfindung und Selbstorganisierung – der lange Weg zur Verbandsgründung

Das kontinuierlichste und erfolgreichste Instrument beim Austausch untereinander und letztendlich beim Aufbau eines bundesweiten Zusammenschlusses der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen waren sicherlich die vom Gedenkstättenreferat unter Thomas Lutz ausgerichteten und bis heute stattfindenden Gedenkstättenseminare, von denen das erste 1983 in Hannover organisiert wurde; zwei Jahre zuvor hatten sich in Hamburg im Oktober 1981 Gedenkinitiativen und -aktivist:innen erstmals zu einem überregionalen Treffen zusammengefunden. Die daraus entstandene, zunächst lockere und unverbindliche Selbstorganisierung hat dann im Laufe der folgenden 15 Jahre zu verschiedenen regionalen und überregionalen Zusammenschlüssen geführt, teils mit Thomas Lutz als Mitinitiator (so beispielsweise bei der Gründung der Interessengemeinschaft niedersächsischer Gedenkstätten). Das waren erste regionale Vernetzungen von Gedenkstätten und -initiativen, die zu demselben Verfolgungskomplex arbeiteten. Hier ließen sich etwa der Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation nennen oder Zusammenschlüsse mit professioneller Fragestellung wie der Arbeitskreis Gedenkstättenpädagogik und die Arbeitsgemeinschaft der Gedenkstättenbibliotheken.

Neue Impulse erfuhr die Diskussion 1997 um einen verbindlicheren bundesweiten Zusammenschluss durch die Erklärung »Selbstverständnis, Leitlinien und Organisationsprofile«, verfasst von der im selben Jahr gegründeten Arbeitsgemeinschaft der KZ Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland. Über diesen, von der Breite der kleinen und mittleren Gedenkstätten durchaus kritisierten Text und über die nur wenige »große« Einrichtungen erwähnende Gedenkstättenförderung betreffenden Passagen im Schlussbericht der Bundestags-Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit« kam es dann bei einem Gedenkstättenseminar im Oktober 1998 in Nordhausen zu einer intensiven und grundsätzlichen Diskussion. In der Folge wurden Vertreter:innen kleinerer und mittelgroßer Gedenkstätten delegiert, die Interessen der nicht in der Arbeitsgemeinschaft organisierten Einrichtungen zu sondieren und (gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft) über eine zukünftige Arbeits- und Organisationsform auf Bundesebene nachzudenken, in der auch die Interessen der kleineren und mittelgroßen Gedenkstätten widergespiegelt werden sollten.

Bei einem gemeinsamen Gespräch am 22. Februar 1999 betonte die Arbeitsgemeinschaft, die kleinen und mittelgroßen Einrichtungen seien bei sämtlichen Gesprächen etwa mit dem Bund oder bei Expert:innen-Anhörungen immer mitvertreten und mitgedacht. Dagegen verwahrten sich jedoch die kleineren und mittelgroßen Gedenkstätten. Es reiche nicht, nur »mitgedacht« zu werden, man wolle mitreden.

Es zeichnete sich bei diesem Treffen aber eine grundsätzliche Bereitschaft ab, insbesondere hinsichtlich eines gemeinsamen Gedenkstättenverbandes und der politischen Außenvertretung bis zur Gründung eines solchen Verbandes zusammenzuarbeiten.

Bei einem Gespräch zwei Monate später, am 30. April 1999, sollte dann weiteres geklärt werden. Dieser Austausch, an dem neben Vertreter:innen der kleinen und mittelgroßen Gedenkstätten auch Detlef Garbe (Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme) und Thomas Lutz teilnahmen, erbrachte in der strittigen Frage allerdings keine Einigung: Die eine Seite plädierte für eine unabhängige Bundesorganisation, die andere argumentierte in Richtung eines dem International Council of Museums (ICOM) angeschlossenen Gedenkstättenverbandes. 2001 wurde dann mit dem International Committee of Memorial Museums in Remembrance of the Victims of Public Crimes (IC MEMO) zwar eine internationale Arbeitsgruppe der Gedenkstätten gegründet, ein bundesweiter Gedenkstättenzusammenschluss ließ aber noch lange auf sich warten.

Es setzte nun eine gewisse Stagnation in den Diskussionen ein. Erst im Oktober 2010 kamen Vertreter:innen der mittlerweile in vielen Bundesländern existierenden Landesarbeitsgemeinschaften der Gedenkstätten (sogenannte LAGs) auf Einladung der Stiftung Topographie des Terrors (respektive des Gedenkstättenreferats in Person von Thomas Lutz) in Berlin zusammen. Betont wurde wie schon häufig zuvor die große Bedeutung des Austausches und der gemeinsamen Diskussion und es wurden weitere Treffen vereinbart. Um eine gewisse Kontinuität zu wahren, wurde nun aber ein Delegationsprinzip beschlossen, bei dem jede LAG von zwei Vertreter:innen repräsentiert werden und diese die Ergebnisse in die Landesverbände vermitteln sollten.

Bereits beim zweiten Treffen der LAGs am 8. Juni 2011 wurden als Ziele vereinbart, diesen Zusammenschluss, neben einem allgemeinen Austausch auch dazu zu nutzen, Standards für die Bildungsarbeit von Gedenkstätten zu erarbeiten, hinter die einzelne Landesregierungen nicht zurückfallen können, und zu guter Letzt einen verfassten Zusammenschluss der Gedenkstätten zu erreichen. Es folgten bis 2014 intensive Diskussionen um die Zusammensetzung und die Struktur einer bundesweiten Organisation. Sie mündeten in ein konkretes Ergebnis: Im Rahmen der bundesweiten Gedenkstättenkonferenz in Bremen am 2. September 2014 wurde das »Forum der Landesarbeitsgemeinschaften der Gedenkstätten, Erinnerungsorte und -initiativen in Deutschland« (FORUM) gegründet und ein vierköpfiger Sprecher:innenrat gewählt. Das FORUM gab sich Richtlinien für seine Tätigkeit, die darauf abzielen, »dass sich die Gedenkstätten, Erinnerungsorte und -initiativen untereinander stärker vernetzen und austauschen, um einerseits die eigene Professionalisierung zu fördern und andererseits auch innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Rahmens zu einer stärkeren Vertretung gemeinsamer Interessen und einer verbesserten öffentlichen Wahrnehmung zu gelangen«.

Damit war nun, 33 Jahre nach dem ersten überregionalen Treffen von Gedenkinitiativen und -aktivist:innen 1981 in Hamburg, ein erster bundesweiter verbindlicher, wenngleich noch nicht in Rechtsform gebrachter Zusammenschluss der kleineren und mittelgroßen Gedenkstätten und -initiativen geschaffen. Der Sprecher:innenrat arbeitete aber kontinuierlich daran, den Zusammenschluss auch in einen rechtlich verfassten Status zu überführen. Nach vielen Programmdiskussionen gründeten die Vertreter:innen der Landesarbeitsgemeinschaften im FORUM schließlich am 9. Dezember 2020 den »Verband der Gedenkstätten in Deutschland. Forum der Gedenkstätten, Erinnerungsorte und -initiativen, Arbeitsgemeinschaften und Dokumentationszentren« (VGDF). Die Anerkennung als eingetragener Verein erfolgte am 23. März 2022. Die AG der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, die die Interessen der institutionell auch vom Bund geförderten Einrichtungen vertritt, war Gründungsmitglied des Verbands und entsandte bis Anfang 2023 mit dem jeweils amtierenden Sprecher der AG ein kooptiertes Mitglied in den Vorstand.

Zum Zeitpunkt der Gründung waren im Verband der Gedenkstätten in Deutschland über 300 kleine und mittelgroße Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen aus neun Bundesländern organisiert, die nach einer groben Schätzung etwa 1,4 Mio. Besucher:innen pro Jahr verzeichnen. Damit repräsentiert der Verband die ganz überwiegende Mehrzahl der in Deutschland aktive Bildungsarbeit betreibenden Gedenkstätten und –initiativen. Er verdeutlicht, dass die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht nur auf die großen, von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) kofinanzierten Gedenkstätten zu fokussieren ist, sondern zu einem sehr großen Teil in der weiten Fläche stattfindet. Eine Arbeit, die auch auf Bundesebene stärker honoriert werden sollte.

 

Die »Mühen der Ebene« – der Gedenkstättenverband seit seiner Gründung

Nach den langen Jahren der Diskussion über die Zweckhaftigkeit und Machbarkeit einer gemeinsamen organisatorischen Vertretung aller Gedenkstätten in Deutschland und der langsamen Formierung erster Schritte auf diesem Weg, war die Gründung des Bundesverbands Ende 2020 tatsächlich ein Meilenstein. »Der neue Verband versteht sich als Interessenvertretung gegenüber Politik, Medien und Wirtschaft und will sich um die Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung bemühen«, heißt es in der Gründungserklärung des VGDF. »Sein Ziel ist die Förderung eines bundesweiten Erfahrungs- und Informationsaustausches der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen untereinander sowie die Stärkung der Kooperationen mit allen relevanten Akteuren aus Erinnerungskultur und historisch-politischer Bildung, um die Professionalität der Einrichtungen zu stärken.«

Inzwischen ist die bescheidene Euphorie ob der geglückten Verbandsgründung einer aufgeräumteren Stimmung und Lageeinschätzung gewichen. Gewiss, der Verband hat endlich ein eigenes Bankkonto, eine herzeigbare Website, schreibt interessenpolitische Papiere für die bundesweite Debatte um die Zukunft der Gedenkstättenentwicklung und hat auch erste Lobby-Gespräche mit Kulturpolitiker:innen des Bundestags geführt. Tatsächlich steht der Gedenkstättenverband jedoch vor einigen strukturellen Problemen, die schrittweise anzugehen sind, um eine gemeinsame bundesweite Interessenvertretung abzusichern und so peu à peu auf sichere organisatorische Beine zu stellen. Eine überregionale Interessenvertretung muss dabei nach innen und nach außen systematisch entwickelt werden.

Im Kern umfasst die Aufgabe zwei Fragen: Wie kann der Verband im anspruchsvollen Sinne arbeitsfähig werden, also adäquate finanzielle, personelle und räumliche Ressourcen für die professionelle und effektive Vertretung der Interessen der Akteur:innen in den Gedenkstätten und im Weiteren der Erinnerungskultur erlangen? Und: Wie kann das leitende Ziel realisiert werden, ein Dachverband für alle aktiven Einrichtungen zu werden, die – meist unmittelbar am historischen Bezugsort – Bildungsarbeit für die gegenwartsorientierte Vermittlung der Geschichte und Verbrechen des Nationalsozialismus leisten – und zwar für alle Beteiligten mit ihren teilweise beträchtlichen Unterschieden? Denn die Spanne von den »großen Tankern« der vom Bund geförderten Gedenkstätten und Dokumentationszentren mit bis zu über einer Million Besucher:innen pro Jahr und Einrichtung (vertreten durch die AG KZ-Gedenkstätten) über mittelgroße Einrichtungen bis hin zu kleinen, oft von ehrenamtlichen Trägervereinen geleiteten Gedenkstätten (vertreten durch den VGDF) ist beträchtlich.

Für seine Arbeit verfügt der sechsköpfige Vorstand nur über minimale finanzielle Mittel. Hinzu kommt, dass die Vorstandsmitglieder ihre Tätigkeit zusätzlich zu ihrer normalen Arbeit in ihrer jeweiligen Organisation verrichten und auch keine Mitarbeiter:innen haben, die etwa organisatorische Aufgaben übernehmen könnten. Keine finanziellen Mittel, wenig Zeit und keine hauptamtliche personelle Unterstützung – das allein ist schon Anlass genug für eine realistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten der »äußeren« Interessenvertretung bei Entscheidungsträger:innen des Berliner Politikbetriebs, wo der VGDF organisatorisch und personell weitgehend Newcomer ist. Verschärft wird die Lage zudem durch eine schwierige Gemengelage bei der »inneren« Interessenvertretung, also beim Bemühen, wirklich alle Gedenkstätten unter einem gemeinsamen »Dach« zu integrieren. Denn faktisch konkurriert die sehr anspruchsvolle Idee eines professionellen Dachverbands mit der pragmatischeren Perspektive zweier verschiedener Organisationen, die vielleicht punktuell kooperieren, freilich nur bedingt mit einer Stimme sprechen.

Immer dann, wenn Sisyphos des Abstimmens und Integrierens der verschiedenen Interessen und Akteur:innen müde ist, überkommt ihn der regressive Traum des Wiederauseinanderfallens einer gemeinsamen organisatorischen Vertretung aller Gedenkstätten. Aber er weiß, dass dies keine Option ist – und dass es um ein Grundproblem von Politik geht, die Max Weber in seiner klassischen Formulierung als »starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich« definierte. Vordergründig zeigt sich das Problem als die verbindliche gemeinsame Interessenvertretung und Repräsentation der Gedenkstätten gegenüber Bundestag, Bundesregierung, Medien und anderen Interessengruppen. Jenseits von Fragen der Repräsentation und divergierender Interessen geht es, last but not least, allerdings auch um Machtfragen.

Die innere Integration, zu der besonders auch die organisatorische Abbildung der dezentralen Vielfalt der Gedenkstättenszene inklusive diverser überregional aktiver Arbeitsgruppen gehört, ist eine zentrale, vielleicht die Kernherausforderung des Verbands – die Bedingung der Möglichkeit wirksamer Interessenvertretung. Der Weg zu einer tragfähigen und attraktiven organisatorischen Lösung ist gepflastert mit Satzungsreformen, Brückenlösungen, verstärktem Austausch – und viel gutem Willen im Sinne der gemeinsamen Sache, der Sicherung und Professionalisierung der Orte des Gedenkens und Erinnerns an die NS-Opfer. Denn auch für die politische Interessenvertretung gilt: Wer sich primär mit sich selbst beschäftigt, wird seine Ziele nur mühsam erreichen.

Andreas Ehresmann, Leiter der Gedenkstätte Lager Sandbostel und Geschäftsführer der Stiftung Lager Sandbostel, Stellvertretender Vorsitzender des Verbands der Gedenkstätten in Deutschland e.V.

Jonas Kühne, Referent bei der sächsischen Landesarbeitsgemeinschaft Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und Vorstand des Trägervereins der Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig. Stellvertretender Vorsitzender des Verbands der Gedenkstätten in Deutschland e.V.

Dr. Harald Schmid, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten, stellvertretender Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein e.V., Mitglied im Vorstand des Verbands der Gedenkstätten in Deutschland e.V.