Sobibór

Eine neue Gedenkstätte für ein Lager der »Aktion Reinhardt«[1]
12/2017Gedenkstättenrundbrief 188, S. 15-24
Stephan Lehnstaedt

In Polen sind in den letzten Jahren einige neue Geschichtsmuseen entstanden, die mit beeindruckender Architektur und höchst avancierter Gestaltung punkten. Sie bedienen das Bedürfnis nach Neuorientierung in einer postkommunistischen Gesellschaft: Alte Narrative sollen abgelöst, vor allem aber die eigenen endlich zur Geltung gebracht werden, denn gerade in der Auseinandersetzung mit dem realsozialistischen Regime hatte sich Zeitgeschichte als ein umstrittenes Feld erwiesen.[2]

In jüngster Zeit kommt den Interpretationen der Vergangenheit noch eine weitere Bedeutung zu: In Polen wie in anderen Ländern Ostmitteleuropas dominierte lange die Vorstellung einer Konvergenz, also der schrittweisen Angleichung an westeuropäische Standards im Bereich von Wirtschaft, Justiz, Staatswesen und anderen. Damit einher gingen historische Narrative, die eine Einbettung in europäische Zusammenhänge vorwiesen. Doch je mehr sich die Erkenntnis durchsetzte, dass Konvergenz ein langer Weg ist, trat die Idee der Nation wieder in den Vordergrund. So möchte die aktuelle Warschauer PiS-Regierung (Prawo i Sprawiedliwość, Recht und Gerechtigkeit) die nationalpolnische Geschichte als sinnstiftendes Element nutzen – als Gegenpol zu scheinbar überlebten Ideen von Internationalisierung und Europäisierung.[3] Nur die Vergangenheit zeigt demnach den Weg in die Zukunft. Daher ist es wichtig, die eigenen Vorstellungen davon in zahlreichen Museen darzustellen.

Freilich: Um Gedenkstätten im Sinne einer Erinnerung am historischen Ort handelt es sich bei den allerwenigsten der Neubauten. Eine Ausnahme ist vor allem das 2016 eröffnete Muzeum Polaków Ratujących Żydów podczas II wojny światowej im. Rodziny Ulmów w Markowej (Familie-Ulma-Museum der Polen, die während des Zweiten Weltkriegs Juden gerettet haben) im südostpolnischen Markowa.[4] Es erzählt auf rund 500 Quadratmetern die tragische Heldengeschichte von Józef und Wiktoria Ulma, die in ihrem Haus acht Juden versteckten. Im März 1944 wurden sie denunziert; deutsche Polizisten erschossen die Juden, das Ehepaar Ulma und seine sechs Kinder. Eigentlich als regionales Museum gebaut, erfährt es momentan viel Aufmerksamkeit, weil es ehrenvolles Verhalten von Polen unter deutscher Okkupation zeigt – und als Beleg für das Verhalten der Mehrheitsgesellschaft instrumentalisiert wird.

Wesentlich schwieriger ist die Situation an den Tatorten der deutschen Massenverbrechen – immer mit Ausnahme von Auschwitz. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die innerpolnische Debatte so stark auf das eigene Verhalten während des Holocaust konzentriert, auf die Frage, in welchem Umfang Polen »Gerechte« oder Profiteure, gar Kollaborateure beim Judenmord waren.[5] Das Museum in Markowa ist deshalb auch als Kontrapunkt in der Debatte zu sehen. Bei alldem ist die deutsche Verantwortung natürlich unumstritten. Doch gerade weil dies so klar ist und die Opfer zudem weit überwiegend Juden waren, die im osteuropäischen Diskurs nach wie vor meist nicht als Teil der (christlichen) Mehrheitsgesellschaft gelten, ist das Interesse an Stätten des Holocaust gering.

Sehr deutlich zeigt sich das an den Orten der »Aktion Reinhardt«:[6] Nach Treblinka kommen jährlich etwa 60 000 Besucher, in Bełżec sind es halb so viele, obwohl man dort dank amerikanisch-jüdischer Unterstützung 2004 die Gedenkstätte neu konzipieren und erstmals ein Museum eröffnen konnte. Treblinka kann demgegenüber neben der eindrucksvollen Anlage von 1964 nur ein Ausstellungsgebäude mit drei kleinen Schauräumen aufweisen. In Sobibór[7] hingegen, dem dritten Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt«, musste das winzige Museumsgebäude 2011 aus finanziellen Gründen sogar temporär schließen. Bis zu diesem Zeitpunkt Teil des Landkreismuseums Włodawa, ging die Zuständigkeit anschließend auf das staatliche Museum Majdanek über, das auch Bełżec verwaltet. Zurzeit sind auf dem Gelände nur einige Informationstafeln zu sehen. Spuren der Verbrechen oder Hinterlassenschaften der Täter sind mit dem bloßen Auge für Laien nicht zu erkennen. Dennoch kamen im letzten Jahr 25 000 Besucher, die Hälfte davon Sommerurlauber am nahen Jezioro Białe (Weißer See).

2011 begannen erste Überlegungen zu einer kompletten Neugestaltung der Gedenkstätte Sobibór inklusive des Baus eines Museums, Mitte 2013 prämierte man die eingegangenen Entwürfe. Doch erst 2017 begannen die ersten Arbeiten, bis 2019 sollen sie ihren Abschluss finden. Es ist eine gewaltige Herausforderung vor allem wegen der Geschichte des Ortes: Dort, ganz im Osten des heutigen Polens, errichteten die deutschen Besatzer ab März 1942 in einem ausgedehnten Waldgebiet ein Vernichtungslager, in dem sie ab dem 12. Mai innerhalb von nicht einmal eineinhalb Jahren rund 180 000 Juden ermordeten. Die Opfer stammten vorwiegend aus Polen, kamen aber auch aus anderen Ländern Europas; beispielsweise wurden in Sobibór etwa 34.000 niederländische Bürger getötet.[8] Wegen dieser internationalen Dimension der »Aktion Reinhardt« wird die konzeptionelle Arbeit von eine Steuerungsgruppe mit Vertretern aus Polen, Israel, den Niederlanden und der Slowakei begleitet und beschlossen.

Deutschland ist in diesem Ausschuss nicht Mitglied und hat auch lange keinen finanziellen Beitrag geleistet. Exemplarisch für diese Haltung steht eine 2013 getätigte Aussage der damaligen Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper. Sie lehnte eine Beteiligung in Sobibór mit der Begründung ab: »Man hat uns gesagt, dass man bis jetzt Projekte mit anderen Partnern vorbereitet, also mit den Ländern, die davon betroffen waren, die auch Inhaftierte hatten. Da war Deutschland nicht dabei.«[9] Jenseits aller politischen Insensibilität ist das schlicht falsch: In Sobibór ermordeten die Deutschen nicht nur 19 000 ihrer jüdischen Landsleute, sondern auch rund 6 000 Menschen aus Österreich – zu jener Zeit als »Ostmark« ebenfalls Teil des Deutschen Reichs.

Sicherlich war hier nicht nur deutscher Unwille im Spiel – als Täternation ist natürlich eine Rücksichtnahme auf die Wünsche der Opfer notwendig. Die genauen Hintergründe werden sich wohl erst aus den Akten beider Seiten rekonstruieren lassen, wenn die archivalischen Sperrfristen abgelaufen sind. Fakt ist allerdings, dass Polen von der Bundesrepublik außer für Auschwitz keinerlei dauerhafte finanzielle Hilfe für seine Gedenkstätten erhält – und auch nicht verlangt. Aber immerhin waren im Haushalt des Auswärtigen Amts zwischen 2014 und 2017 für einen Neubau in Sobibór zwei Millionen Euro vorgesehen. Berlin wartete auf eine Anfrage aus Warschau, die jedoch lange Zeit nicht kam, wohl aus falsch verstandener Rücksichtnahme auf gute außenpolitische Beziehungen. Erst die aktuelle PiS-Regierung, die immer wieder die Konfrontation mit Deutschland sucht, forderte einen Beitrag ein.

Das Auswärtige Amt bearbeitet deshalb aktuell einen Antrag der Stiftung für deutsch-polnische Aussöhnung über die Summe von 900 000 Euro,[10] die für die Ausstellung im neuen Museum in Sobibór verwendet werden soll. Unklar ist, warum für dessen Bau oder auch die Gestaltung der Außenanlagen selbst nichts gezahlt werden kann. Es drängt sich durchaus der Eindruck auf, dass Deutschland nicht unbedingt viel Wert darauf gelegt hat, sich in Sobibór zu engagieren. Ein Beleg dafür wäre auch der fraktionsübergreifende Antrag des Unterausschusses für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik des Bundestags, 2015 insgesamt vier Millionen Euro für politische Bildung zur »Aktion Reinhardt«, für die Gedenkstätte Bełżec sowie – ohne explizite »Anforderung« – für Sobibór zur Verfügung zu stellen. Er scheiterte am Veto des Haushaltsausschusses und der Begründung, es stünden schon zwei Millionen im Haushalt bereit, die nicht abgerufen worden seien.[11] 2016 wurde eine erneute Initiative, diesmal nur durch die Opposition, direkt im Unterausschuss abgelehnt.

Seit einigen Jahren – und bis 2017 – gab es jeweils in den Sommermonaten archäologische Grabungskampagnen in Sobibór. Ein polnisch-israelisches Team um Wojciech Mazurek und Yoram Haimi konnte dabei beeindruckende Funde machen und unter anderem Fundamente der Gaskammern lokalisieren, die sich beinahe exakt dort befanden, wo man sie bei der ersten Anlage der Gedenkstätte 1965 symbolisch durch einen gemauerten Turm verortet hatte. Korrigiert wurde allerdings der Verlauf des sogenannten »Schlauchs«, also des eingezäunten Wegs von der Bahnrampe zu den Gaskammern, den die Ankommenden auf dem Weg in die Vernichtung beschreiten mussten. Bemerkenswert ist ferner das Auffinden eines ehemaligen Fluchttunnels niederländischer Insassen. Diese hatten ihn für einen Ausbruch gegraben, wurden aber kurz zuvor verraten, der Tunnel von der SS zugeschüttet. Noch erstaunlicher sind die annähernd 20 000 gefundenen Objekte, die fast ausschließlich von den Opfern stammen. Die Zahl ist auch deshalb imponierend, weil nicht nur die Deutschen eine systematische Beraubung durchführten, sondern außerdem Polen nach dem Krieg eine reiche »goldene Ernte«[12] bei der Plünderung des Geländes einfuhren. Außerdem konnten die Archäologen bislang nicht an der Eisenbahnrampe graben, durch deren Vorfeld heute eine Staatsstraße führt; sie vermuten hier weitere umfangreiche Funde.[13]

Die Ausgrabungsstellen sind aus konservatorischen Gründen heute wieder zugeschüttet. Künftig will man vor allem nicht-invasiv vorgehen, was auch einem archäologischen Methodenstreit geschuldet ist:[14] Für Fachfremde ist es wohl eher anekdotisch, dass auf beide Arten Dinge gefunden werden konnten, die sich auf die andere Weise nicht entdecken ließ. Am Ende bleibt aber festzustellen, dass kein nationalsozialistisches Lager archäologisch so gut erschlossen ist wie Sobibór.

Die Funde sind auch ein eindeutiges Zeichen gegen all jene Holocaustleugner, die mit der angeblichen Inexistenz materieller Spuren argumentieren.[15] Zudem sind sie ein wichtiger Baustein für das künftige Museum, das ja – anders als etwa KZ-Gedenkstätten in Deutschland – ansonsten durchaus mit dem Fehlen von baulichen Überresten umgehen muss, weil die Täter nach dem Massenmord das Lager wieder abgerissen haben. Und weil 2016 mit Jules Schelvis und Philip Bialowitz die letzten der sowieso nur rund 70 Überlebenden verstorben sind und es insofern auch keine Zeugen mehr gibt, steigt die Bedeutung der Artefakte zusätzlich.[16]

Ein erstes Monument für die in Sobibór ermordeten Juden weihte die Volksrepublik Polen am 27. Juni 1965 ein. Der Künstler Romuald Dylewski hatte eine Skulptur mit Mutter und Kind vor einem Turm geschaffen. Eine Inschrift wies auf die internationalen Opfer hin und erwähnte nicht, dass diese fast ausschließlich jüdisch waren und als solche verfolgt wurden. Zu diesen Objekten gehörte, unweit davon, eine kegelförmige Betonplatte als eine Art Grabhügel, ungefähr dort, wo die SS die Leichen verbrannt hatte und wo die späteren Ausgrabungen auch die Existenz von Aschegruben bestätigten. Allerdings war das frühere Lager fast drei Mal so groß gewesen wie die nun als Gedenkstätte eingerichtete Fläche; andere Teile hatte man nach 1945 teilweise planiert, asphaltiert oder mit Bäumen bepflanzt – und so weitere Spuren zerstört. An baulichen Überresten gibt es bis heute die damalige »Kommandantenvilla«, jetzt – wie vor der deutschen Besatzung – das Haus des Dorfschulzen. Wie dieses ist der ebenfalls erhaltene Bahnhof ein Holzgebäude, aber letzterer ist aktuell nicht in Benutzung und steht zum Verkauf.[17]

Ein kleines Museum auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers entstand erst 1993, nach dem Ende des Kommunismus. Seit dieser Zeit engagieren sich auch zivilgesellschaftliche Organisationen, etwa das Kasseler Bildungswerk Stanisław Hantz, die niederländische Stichting Sobibór sowie die polnische Stowarzyszenie Upamiętniania Sobiboru (Vereinigung für das Gedenken an Sobibór), die allesamt und oft gemeinsam Bildungsfahrten oder Ausstellungsprojekte realisieren. Zusammen schufen sie 2005 außerdem eine Allee mit Namen von (einigen) Opfern, die auf Steinen eingraviert sind. Dieser neu mit Bäumen bepflanzte Weg sollte dem »Schlauch« in die Gaskammern entsprechen, den die Juden damals gehen mussten, aber inzwischen ist klar, dass die Lokalisierung nicht stimmt.[18]

Die Allee ist in die Neukonzeptionen integriert. Bahnhof und »Kommandantenvilla« werden jedoch nicht Teil der Gedenkstätte. Der Gestaltungsvorschlag des Künstlers Łukasz Mieszkowski sowie der Architekten Marcin Urbanek und Piotr Michalewicz zielt darauf ab, dass Sobibór heute zuvorderst ein Friedhof ist. Vor diesem Hintergrund sollen insbesondere eventuelle sterbliche Überreste im Boden geschützt werden. Gemeinsam mit der Polnischen Rabbinerkommission hat man an allen Stellen, an denen die Archäologen Massengräber vermuten, auf Eingriffe in den Boden verzichtet. Diese großen Flächen sind mit einer wasserdurchlässigen Schutzplane ab- und später mit einer Schicht weißer Marmorsteine bedeckt worden (das gilt auch für den in den 1960ern betonierten Grabkegel). Die Plane dient dazu, dass bei den Arbeiten – die alle per Hand ausgeführt wurden – die Gräber nicht berührt werden. Der Marmor hat nicht die Form von Platten, denn die Aschegruben sollen sowieso nicht betreten werden; stattdessen sind es Gesteinsbrocken in unterschiedlicher Größe, bis hin zu einem Durchmesser von etwa 20 cm. Der optische Eindruck ist intensiv: die Dimension der bedeckten Fläche ebenso wie die Reinheit des Materials lassen Gespräche verstummen und führen das Ausmaß des Massenmords vor Augen.[19]

Entlang des nun archäologisch präzise identifizierten »Schlauchs« soll eine Mauer gebaut werden, die für die symbolische Trennung von Lebenden und Toten steht. Sie ist durch einzelne Lücken unterbrochen, die immer wieder Blicke auf die Massengräber erlauben. Ursprünglich waren sogar rechts und links des historischen Wegs in die Gaskammern Mauern geplant, aber dieser radikale gestalterische Entwurf fand nicht die Zustimmung der Steuerungsgruppe. Die tatsächliche Gestaltung ist noch nicht abschließend genehmigt; klar ist aber inzwischen, dass der sumpfige Untergrund sowieso keine größeren Bauten erlaubt und schon die Errichtung einer Mauer auf gewisse Probleme stößt. Die existierende Gedenkallee soll als Rückweg genutzt werden, sodass Besucher exakt geleitet sind und sich nicht frei auf dem Gelände bewegen.[20] Momentan nicht gesondert ausgewiesen werden sollen die Spuren des von niederländischen Juden gegrabenen Fluchttunnels.

Im Sommer 2017 begannen außerdem die Bauarbeiten am geplanten Museum. Es befindet sich an der Staatsstraße, liegt also gegenüber der Eisenbahnrampe und dient als Eingang zur Gedenkstätte. Vorab können die Besucher damit Informationen erhalten und sich auf deren Besuch vorbereiten. Die Prioritäten der Kuratoren um Tomasz Kranz und Krzysztof Banach sind klar: Ein Tatort des Holocaust, der zugleich Friedhof, Denkmal, Erinnerungsort und Erbe ist, wird bewahrt und Besuchern erschlossen. Das Konzept[21] reflektiert dabei das Authentizitätsversprechen, das unweigerlich mit einem historischen Ort einhergeht: Die Besucher erwarten Spuren, die es aber nur in ganz begrenztem Umfang tatsächlich zu sehen gibt; vielmehr treffen sie auf eine Aura des Vergangenen.

Vor diesem Hintergrund verzichtet das Kuratorenteam konsequent auf jegliche Emotionalisierung, Glorifizierung oder Martyrologisierung. Gegenwart und Vergangenheit an einem Ort des Genozids sollen nicht verwischt werden:

1  - Die heutige Gedenkstätte Sobibór ist zunächst und vor allem ein Friedhof von etwa 180 000 ermordeten Menschen. Die Gräber zu sichern und zu bewachen ist die dringendste Pflicht.

2  - Damit einher geht die Bewahrung des Gedenkens an die Opfer. Zugleich kann so Angehörigen und Nachfahren ein Ort der Trauer und des Andenkens gegeben werden.

3  - Aus dem Erbe des Massenmords durch die Deutschen ergibt sich die Verpflichtung, darüber aufzuklären, die heute Lebenden zu bilden und die Erinnerung an das Verbrechen wachzuhalten.

4  - Der historische Ort muss deshalb geschützt und bewahrt werden.

So setzt sich die neue Gedenkstätte von der früheren Instrumentalisierung durch die kommunistische Volksrepublik Polen ab. Die Herangehensweise unterscheidet sich aber auch deutlich von gegenwärtigen polnischen Geschichtsmuseen. Die Dauerausstellung dient dem Ort und beschränkt sich – gewissermaßen ganz klassisch – auf Information und Aufklärung. Bedauerlich ist allerdings, dass sie mit 348 Quadratmetern wegen der baulichen Gegebenheiten vergleichsweise klein ist. Die Kuratoren planen deshalb Multimediastationen, an denen auf reduziertem Raum zusätzliche Informationen geboten werden. In einem Nebengebäude ist ein Büro sowie relativ beschränkter Platz für temporäre Ausstellungen, der ansonsten für weniger zahlreiche Gruppen genutzt werden kann. Das erschwert die pädagogische Arbeit erheblich, weshalb immer wieder der Wunsch geäußert wurde – auch vonseiten gerade vonseiten der Stichting Sobibor und dem Bildungswerk Stanisław Hantz – doch das historische Bahnhofsgebäude anzukaufen und dafür zu nutzen. Inhaltlich hebt das vorliegende Konzept auf mehrere zentrale Aspekte ab: Das Vernichtungslager Sobibor war das flächenmäßig größte der »Aktion Reinhardt«[22] und dasjenige mit den meisten jüdischen Opfern von außerhalb Polens.

Die erhaltene Eisenbahnrampe ist ein einzigartiges bauliches Relikt, das wie kein anderes die wichtige Rolle der Logistik bei der Ermordung der Juden symbolisiert. Daran sollen exemplarisch die europäische Dimension des Genozids, aber auch das spinnwebenartige Netz von Deportationen aus ganz Zentral- und Ostpolen gezeigt werden. Das Lager war Endpunkt einer gut geölten Mordmaschine – die nicht nur von der SS getragen wurde, sondern auch von deutscher Zivilverwaltung, Eisenbahnern sowie Kollaborateuren wie den sogenannten Trawnikis und der polnischen Policja Granatowa (Blaue Polizei).[23]

Die Aussagen der Überlebenden sind die bedeutsamsten historischen Zeugnisse über den Lageralltag während der Vernichtung. Nur mit der umfassenden Nutzung derartiger Quellen kann verhindert werden, dass der Holocaust als technischer Vorgang aus Perspektive der Täter geschildert wird.[24] Zentral für die Geschichte von Sobibor ist der Widerstand gegen die Vernichtung, der von den Juden im Lager selbst ausging – und von keiner Seite Unterstützung erhielt. Aber die Juden waren eben keine Lämmer, die sich zur Schlachtbank führen ließen, sondern organisierten am 14. Oktober 1943 einen erfolgreichen Aufstand, bei dem sie zwölf Täter töten konnten, während zugleich 200 Insassen aus dem Lager flohen (von denen wiederum ein gutes Viertel bis zur Befreiung überlebte).[25]

Diese Aspekte unterscheiden Sobibor von den beiden anderen Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt«. Sie sollen deshalb entsprechend herausgearbeitet und analysiert werden, um so den Besuchern eine Reflexion über die genannten Themen zu ermöglichen. Die Ausstellung wird in den Sprachen Polnisch und Englisch erstellt. Zusätzlich soll es einen Katalog in weiteren Sprachen geben, dazu Multimedia-Apps und vermutlich auch Audioguides, die den Gang über das Gelände begleiten. Die Ausstellung will außerdem fast 300 archäologische Fundstücke nutzen, um die Opfer und ihre Schicksale ins Zentrum zu stellen. So lässt sich die bemerkenswerte materielle Überlieferung nutzen, um die knappen autobiografischen Zeugnisse zu ergänzen. Nur Schlüssel werden dabei als serielle Objekte Verwendung finden und den Wunsch und die Hoffnung auf Heimkehr symbolisieren, ansonsten nutzt man ausschließlich Einzelstücke. Die Objekte sind zugleich ein wichtiges Gegengewicht zu den ansonsten dominierenden Fotos, weil sie unzweifelhaft von den jüdischen Opfern stammen – im Gegensatz zu den Bildern, die beinahe ausschließlich von Tätern gemacht wurden. Hierin liegt eine große Gefahr, weil die naturgemäß suggestiven Fotos das visuelle Empfinden bestimmen und die Besucher sich das Geschehen so vorstellen, wie es abgebildet ist. Jedoch: Die Fotos zeigen den Holocaust auf die Art, wie ihn die Täter sahen und abbilden wollten.[26] Es ist deshalb ein zentrales Anliegen der Ausstellung, diese Perzeption aufzubrechen.

Diskutiert wird momentan noch, ob man den vorgesehenen Text nicht an einigen Stellen kürzen soll, um einzelne Aspekte wie das Verhalten der »Nachbarn«, die Geschichte der Gedenkstätte oder die der Überlebenden nach 1945 aufzunehmen. Auch aus Platzgründen haben die Kuratoren auf diese Gesichtspunkte bislang weitgehend verzichten müssen, selbst wenn sie durchaus von Bedeutung sind. Problematisch scheinen hingegen die Wünsche der niederländischen Vertreter in der Steuerungsgruppe, moderne zivilgesellschaftliche Werte, Menschenrechte und Antisemitismus in Europa zu thematisieren.[27] Genau wie in Deutschland sehen Politiker gerne aktuelle Herausforderungen thematisiert, was häufig auf ein Zurechtbiegen der historischen Ereignisse für politische Themen hinausläuft. Viel eher wäre dergleichen wohl in einem pädagogisch-didaktischen Angebot umzusetzen, aber hierfür liegt in Sobibór noch kein Konzept vor.

Die Gedenkstätte Sobibór verspricht, ein ebenso würdiges wie angemessenes Opferandenken wie eine überzeugende Informations- und Bildungsarbeit zu leisten. Wichtig ist dann vor allem die Frage, wie man denn auch Aufmerksamkeit, also Besucher, dort hinlenkt. Die Lager der »Aktion Reinhardt« stehen in dieser Hinsicht ganz klar im Schatten von Auschwitz, das als Symbol für den Holocaust inzwischen regelrecht überrannt wird. Das bildet einen merkwürdigen Kontrast zur Bedeutung von Treblinka, Belzec und Sobibor für den Genozid an den europäischen Juden und will so gar nicht zu den monströsen Opferzahlen dieser drei Lager passen. Die tragischste Ursache dafür ist sicher die »Perfektion« des Massenmords, denn bei 1,8 Millionen Opfern und rund 150 Überlebenden der »Aktion Reinhardt« gab es nach dem Krieg schlicht nur wenige Zeugen, die eine Erinnerung einfordern konnten.

Doch davon kann und darf Gedenken nicht abhängen. Dieser Verpflichtung sollte sich auch Deutschland bewusst werden, dessen Engagement bislang eher als symbolisch betrachtet werden kann. Mit neuen Museen in Sobibór und Bełżec wäre es jetzt wohl an der Zeit, in Treblinka etwas zu bewegen. Der Bedarf ist groß, der Direktor Edward Kopówka klagte neulich auf einer Tagung in Berlin, dass sogar eine Beschilderung an den Zufahrtsstraßen fehle. Zynisch betrachtet hat die Bundesrepublik in Sobibór pro Opfer fünf Euro gegeben. Bezogen auf die Todeszahlen von Treblinka wären es dort 4,5 Millionen Euro. Niemand möchte so rechnen. Aber ungeachtet dessen wäre eine derartige Summe tatsächlich ein Anfang.

 

Prof. Dr. Stephan Lehnstaedt ist Historiker und Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien am Touro College Berlin.

 

[1] Ich danke Yoram Haimi, der mir großzügig und kurzfristig Bilder zur Verfügung gestellt hat, sowie Raphael Utz und Annika Wienert, die mit mir über Gedenken in Sobibór diskutierten.

[2] Florian Peters, Revolution der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in der Geschichtskultur des spätsozialistischen Polen, Berlin 2016.

[3] Martin Schulze Wessel, Konvergenzen und Diskussionen in der europäischen Geschichte vom Prager Frühling bis heute, in: Geschichte und Gesellschaft 43 (2017), S. 92–109.

[4] http://muzeumulmow.pl/en (10. 11. 2017) 

[5] Auch deshalb wird das Museum in Markowa stark kritisiert: Jan Grabowski / Dariusz Libionka, Bezdroża polityki historycznej. Wokół Markowej, czyli o czym nie mówi Muzeum Polaków Ratujących Żydów podczas II Wojny Światowej im. Rodziny Ulmów, in: Zagłada Żydow. Studia i Materiały 12 (2016), S. 619–642; Jan Forecki, Muzeum zgody w Markowej, ebd., S. 643–652.

[6] Für zwei aktuelle Überblicksdarstellungen vgl. Stephan Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust. Bełżec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt, München 2017; Dariusz Libionka, Zagłada Żydów w Generalnym Gubernatorstwie, Majdanek 2017.

[7] Das deutsche Vernichtungslager Sobibor im Unterschied zum polnischen Ort Sobibór (ausgesprochen: Sobibur).

[8] Die präzisesten Schätzungen gehen von 170 618 bis 183 588 Opfern aus. Die genaue Zahl wird sich angesichts fehlender Aufzeichnungen der Täter niemals ganz präzise ermitteln lassen. Vgl. Robert Kuwałek, Nowe ustalenia dotyczące licby ofiar niemieckiego obozu zagłady w Sobiborze, in: Zeszyty Majdanka 26 (2014), S. 17–60, hier S. 60. Die beste Gesamtdarstellung ist nach wie vor Jules Schelvis, Vernichtungslager Sobibór, Berlin 1998.

[9] RBB-Online – Kontraste: Sanierungsfall Auschwitz: Wie viel ist Deutschland das Gedenken wert?, www.rbb-online.de/kontraste/ueber_den_tag_hinaus/diktaturen/sanierungsfall-auschwitz--wie-viel-ist-deutschland-das-gedenken-.html (12. 11. 2017).

[10] Auskünfte an den Verfasser durch Felix Klein, Auswärtiges Amt, und Tomasz Kranz, Staatliches Museum Majdanek.

[11] Deutscher Bundestag, Drucksache 18/6126, 20. 11. 2015.

[12] Als polemische Abrechnung: Jan Tomasz Gross/Irena Grudzinska Gross, Golden Harvest. Events at the Periphery of the Holocaust, Oxford 2012.

[13] Yoram Haimi/Wojciech Mazurek, Uncovering the Remains of a Nazi Death Camp. Archeological Research in Sobibor, in: Yad Vashem Studies 41 (2013), H. 2, S. 55–94. Vgl. auch Marek Bem/Wojciech Mazurek, Sobibór. Archeological Research Conducted on the Site of the Former German Extermination Centre in Sobibór 2000–2011, Warszawa/Włodawa 2012.

[14] Anna Zalewska, Sobibór. The Material Remains of the Former Nazi Death Camp in Sobibór as the Subject of Archeological Studies. Part I: Delineation of Archeological Data, Warszawa 2016.

[15] Exemplarisch für Treblinka, wo Archäologen ebenfalls die Überreste der Gaskammern finden konnten: http://de.metapedia.org/wiki/Konzentrationslager_Treblinka (10. 11. 2017).

[16] Beide haben Memoiren hinterlassen, wobei die von Schelvis vor allem eine Dokumentation des Lagers sind: Schelvis, Vernichtungslager Sobibór; Philip Bialowitz, A Promise at Sobibór. A Jewish Boy’s Story of Revolt and Survival in Nazi-Occupied Poland, Madison 2010. Bekannt in Deutschland ist auch der 2015 gestorbene Thomas Toivi Blatt mit seiner Schrift: Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór, Berlin 2000.

[17] Jacek Barczyński, »Chcemy pokazać, czym była wojna«. Dworzec w Sobiborze będzie muzeum, www.dziennikwschodni.pl/chelm/stacja-sobibor-chce-edukowac-i-bratac,n,1000206077.html (12. 11. 2017).

[18] Klara Muhle, Der historische Ort der ehemaligen Tötungsstätte Sobibór, in: Jörg Ganzenmüller/Raphael Utz (Hrsg.), Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 147–166, hier S. 156–159; Sabrina Lausen, Die Gedenkstätte Sobibór im Spannungsfeld zwischen polnischer und europäischer Erinnerungspolitik, in: Ekaterina Makhotina u.a. (Hrsg.), Krieg im Museum. Präsentationen des Zweiten Weltkriegs in Museen und Gedenkstätten des östlichen Europa, Göttingen 2015, S. 313–334.

[19] Muhle, Der historische Ort der ehemaligen Tötungsstätte Sobibór, S. 161–166. An dieser Stelle kann keine Aussage zur Konservierung des Baumaterials und dessen Alterung gemacht werden; der Verfasser war im Oktober 2017 vor Ort, als die Steine gut einen Monat lagen.

[20] Ebenda.

[21] Tomasz Kranz, SS-Sonderkommando Sobibor. Niemiecki obóz zagłady »Aktion Reinhardt«, Państwowe Muzeum na Majdanku Lublin, 2017. Der Verfasser hat dieses Konzept im Herbst 2017 für die Gedenkstätte Majdanek begutachtet.

[22] Vgl. grundlegend Annika Wienert, Das Lager vorstellen. Die Architektur der nationalsozialistischen -Vernichtungslager, Berlin 2015,

[23] Angelika Benz, Handlanger der SS. Die Rolle der Trawniki-Männer im Holocaust, Berlin 2015.

[24] Vgl. zu diesem Perspektivwechsel Tomasz Kranz, NS-Täter als Thema der Dauerausstellungen am Ort ehemaliger Vernichtungslager: Das Beispiel der Gedenkstätten Majdanek und Bełżec, in: Gedenkstättenrundbrief 141 (2008), S. 31–35.

[25] Zu hinterfragen wäre allerdings, inwieweit der Aufstand tatsächlich eine »gemeinsame« Revolte war, die nationale Trennlinien überwand. Vgl. hierzu Michael Fleming, A reconsideration of the revolt at Sobibór, in: Holocaust Studies. A Journal of Culture and History 22 (2016), S. 321–338. Siehe grundlegend auch Franziska Bruder, Hunderte solcher Helden. Der Aufstand jüdischer Gefangener im NS-Vernichtungslager Sobibór. Berichte, Recherchen und Analysen, Münster 2013.

[26] Vgl. grundlegend Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001, S. 917.

[27] Statement on behalf of the Dutch delegation with regard to the development of the permanent exhibition at the former German nazi-concentration camp in Sobibór, 26. 10. 2017 (per Email).