»Spinne im Netz«

Die Vorgeschichte und der Beginn des Gedenkstättenreferats bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste
07/2023Gedenkstättenrundbrief 210, S. 11-20
Detlef Garbe

Die Geschichte des Gedenkens an den Stätten der nationalsozialistischen Verbrechen setzt unmittelbar mit der Befreiung der Lager ein.[1] Auch in Deutschland errichteten Überlebende zu Ehren ihrer zu Tode gebrachten Leidensgenossen bereits in den ersten Wochen und Monaten nach der Befreiung an den Orten ihrer Verfolgung und an den Begräbnisstätten mit Unterstützung der alliierten Besatzungsmächte zahlreiche Denkmale. Diese frühe Phase sakralen Gedenkens fand jedoch schon bald ihr Ende. Zwar gab es 1952 noch die Einweihung der Gedenkstätte Bergen-Belsen und eines Gedenkraums in der Hinrichtungsstätte Berlin-Plötzensee, doch dominierten seit den 1950er-Jahren die Denkmale für die Opfer des Bombenkriegs und für die Heimatvertriebenen sowie die um die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs aus Wehrmacht und Waffen-SS ergänzten Kriegerdenkmale. Die Bevölkerung gedachte »vor allem derjenigen, die auch vor 1945 als eigene Opfer betrachtet worden waren«.[2]

Erst in den 1960er-Jahren entstanden mit der KZ-Gedenkstätte Dachau, dem Dokumentenhaus Bergen-Belsen und der an den 20. Juli 1944 erinnernden Gedenkstätte im Berliner Bendler-Block mit Ausstellungen versehene Stätten. Zwar war für »die 1968er« der Umgang mit der NS-Vergangenheit ein Beleg dafür, wie sehr die bundesrepublikanische Gesellschaft und Politik eines Aufbruches bedurfte, doch gerieten die konkreten historischen Ereignisse und die Stätten der NS-Verbrechen nur selten in den Blick.

Ende der 1970er-Jahre zeigte sich dann ein stärkeres öffentliches Interesse, das bedingt war durch den Generationenwechsel, zunehmende Anzeichen eines neuen Rechtsextremismus und die 1979 ein Millionenpublikum erschütternde Ausstrahlung der US-amerikanischen Familiensaga »Holocaust«. Jugendverbände, Kirchen- und Gewerkschaftsgruppen begannen mit der Suche nach Spuren einstiger Stätten von NS-Verbrechen.[3] An dem Geschichtswettbewerb der Körber-Stiftung um den Preis des Bundespräsidenten von 1980/81 über den »Alltag im Nationalsozialismus« beteiligten sich 12 843 Schülerinnen und Schüler mit 2 172 Beiträgen – bis heute ein nie wieder erreichter Spitzenwert.[4] Die in solchen Zusammenhängen erarbeiteten Dokumentationen, die vom vergessenen Lager »vor der eigenen Haustür« berichteten, brachten überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein, dass Deutschland in den Kriegsjahren von einem Netz von Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern überzogen war.[5]

Anfang der 1980er-Jahre entstanden auch eine Reihe von Geschichtswerkstätten und Initiativen, die sich für die Einrichtung von Gedenk- und Dokumentationsstätten einsetzten.[6] Vor Ort galt es nun, starke Widerstände in der Bevölkerung zu überwinden und langjährige Auseinandersetzungen mit kommunalen Gremien zu führen. Von Bedeutung waren hierbei auch Jugendworkcamps unterschiedlicher Träger wie dem Service Civil International (SCI) und dem Christlichen Friedensdienst (CFD), die sich beispielsweise in Esterwegen, Osthofen und Neuengamme an Freilegungsarbeiten beteiligten. In diese Zeit fallen die ersten Anstrengungen zu einer bundesweiten Vernetzung und die Gründung des Gedenkstättenreferats, über dessen Anfänge dieser Beitrag berichten möchte.

 

Anfänge einer Vernetzung

Im Juli 1981 wandte sich die zwei Jahre zuvor von Mitgliedern der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN/BdA) und der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) gegründete Initiative Dokumentationsstätte Neuengamme an den Vorstand und die Geschäftsführung von ASF in Berlin. Die Initiative bat in Absprache mit dem SCI, dem Aktionskomitee Emslandlager und der Ulmer Initiative Oberer Kuhberg darum, »eine bundesweite Koordination der im Bereich der Gestaltung und Schaffung von Dokumentations- und Gedenkstätten arbeitenden Gruppen und Organisationen zu initiieren«[7]. Aufgrund ihres Auftrages und ihrer umfangreichen Erfahrungen besitze ASF »eine besondere Qualifikation für die Koordination der sich in diesem Bereich entwickelnden Aktivitäten«.

Die 1958 von Synodalen der Evangelischen Kirche als ökumenisches Versöhnungswerk gegründete Aktion Sühnezeichen engagierte sich seit langem in der Gedenkstättenarbeit.[8] So beteiligte sie sich schon in den 1960er-Jahren mit jungen Freiwilligen am Bau der Versöhnungskirche in Dachau und des Dokumentenhauses in Bergen-Belsen. Seit 1965 organisierte sie eine stetig zunehmende Zahl von Gruppenfahrten in die polnischen Gedenkstätten Auschwitz und Majdanek, später auch nach Stutthof. 1979 begann die dauerhafte Mitarbeit von jährlich zwei ASF-Freiwilligen in Dachau, in den folgenden Jahren wurden derartige Freiwilligenstellen auch in Neuengamme, Berlin und Wewelsburg eingerichtet. Neben der Unterstützung der Gedenkstätten war mit diesen Einsätzen auch angestrebt, »über das kirchliche Gemeindeleben die Problematik des ehemaligen Konzentrationslagers anzusprechen und Interessierte für die Beschäftigung mit diesem Teil der Heimatgeschichte zu gewinnen«[9].

Nicht wenige der Akteure und Akteurinnen in den entstehenden Gedenkstätteninitiativen der 1980er-Jahre sind durch internationale Freiwilligendienste der ASF geprägt (so auch vier Autoren und eine Autorin dieser Sondernummer des GedenkstättenRundbriefs). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb sich in Begrifflichkeiten und Formen der frühen Gedenkstättenarbeit zahlreiche christliche Bezüge finden.[10]

Als ASF im Sommer 1981 die Anfrage der Initiative Dokumentationsstätte Neuengamme um Unterstützung bei einer bundesweiten Vernetzung erhielt, war die Bereitschaft hierzu also vorhanden. »Sühnezeichen fand sich unversehens in der Rolle der Spinne im Netz«[11], so formulierte es Gabriele Kammerer in ihrer 2008 publizierten Geschichte von ASF. Auch wenn es auf Seiten der Gedenkstätteninitiativen gewisse Vorbehalte gegen eine christlich geprägte Organisation gab, genoss die parteiunabhängige ASF aufgrund ihrer Bedeutung in der seinerzeit starken Friedensbewegung auch bei ansonsten eher kirchenskeptisch bis -feindlich eingestellten Kräften eine gute Reputation. So bot sich der Verein als Anlaufstelle für die Gedenkstättenvernetzung geradezu an.

Im September 1981 lud ASF neun Gedenkstätteninitiativen und vier Organisationen zu einem ersten Treffen für den 17./18. Oktober 1981 ins Gemeindehaus der Kirchengemeinde St. Stephanus in Hamburg-Eimsbüttel ein. Die Anfänge waren recht dürftig; auf der Einladung fand sich der Hinweis: »Bitte bringt Schlafsäcke mit nach Hamburg.«[12] An dem Treffen, das in Zusammenhang mit der Eröffnung des Dokumentenhauses Neuengamme stattfand, nahmen in der Gedenkstättenarbeit Tätige aus Berlin und Hamburg, aus Dachau, dem Emsland, Essen, Moringen, Ulm und Wewelsburg teil. Im Erfahrungsaustausch zeigte sich, dass sich die Probleme an den verschiedenen Orten sehr ähnelten. Da in allen Berichten von schweren Versäumnissen und jahrzehntelangen Vernachlässigungen im Umgang mit den Stätten des NS-Terrors die Rede war, entstand die Idee zu einer Bestandsaufnahme über die Nachkriegsgeschichte der ehemaligen Lager, aus der das Buch »Die vergessenen KZs?«[13] hervorging. Verabredet wurde hier auch eine Kontaktaufnahme zur Bundeszentrale für politische Bildung.[14]

In der Bundeszentrale waren bereits Ende der 1970er-Jahre Planungen mit dem Ziel aufgenommen worden, »den Gedenkstätten der Opfer des Nationalsozialismus zu neuer und größerer Bedeutung zu verhelfen«[15]. Zu diesem Zweck begannen zeitgleich Vorarbeiten für eine Bestandsaufnahme der bundesdeutschen Gedenkstätten. Erste, mehrere Hundert Seiten starke Ausarbeitungen lagen bereits 1981 vor.[16] Eine überarbeitete und wesentlich erweiterte Fassung erschien 1987 in der Schriftenreihe der Bundeszentrale als Band 245 mit einem Umfang von 831 Seiten.[17]

Bereits das zweite Treffen der Gedenkstätteninitiativen, das vom 21. bis 23. Mai 1982 in Dachau stattfand, konnte ASF mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung durchführen. Allerdings waren auch hier die Grenzen eng gesteckt. Die Zuwendung von 3000 DM erlaube, so ASF-Referent Christoph Heubner in der Einladung, pro Initiative nur eine Anreise von »nicht mehr als zwei Personen«[18]. Die hoch gesteckten Erwartungen der Initiativen musste auch Ulrike Puvogel, die zuständige Referentin der Bundeszentrale, enttäuschen. Sie verwies auf die beschränkten Möglichkeiten der Bundeszentrale, die Unterstützung nur bei einzelnen Veröffentlichungen und bei der Finanzierung von Seminaren leisten könne. Das Protokoll hielt auch fest, dass sich schon damals die Gedenkstätten mit der Frage befassten, wie zukünftig die Arbeit ausgerichtet werden könne, »wenn die Überlebenden einmal nicht mehr da sind«[19]. Zudem findet sich hier erstmals der Hinweis, dass ASF »die Einrichtung einer Stelle für Gedenkstättenarbeit«[20] erwäge.

 

Die Einrichtung des Gedenkstättenreferats bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste

Da jedoch bei ASF keine Mittel für eine auch nur befristete Anstellung eines oder einer hauptamtlich Beschäftigten zur Verfügung standen, musste nach einer anderen Lösung gesucht werden. In Absprache mit der Landeskirche von Hessen-Nassau konnte ab Anfang 1983 Thomas Vogel im Rahmen eines Sondervikariats mit dieser Aufgabe betraut werden. Da die Zeit für die Organisation eines ursprünglich für den Mai in Berlin geplanten mehrtägigen Seminars nicht mehr reichte, musste dieses um ein Jahr verschoben werden. Stattdessen begann Thomas Vogel nunmehr erste Strukturen für eine kontinuierliche Vernetzung der schnell anwachsenden Zahl von Gedenkstätteninitiativen zu entwickeln. Am 24. Mai 1983 erschien die erste, allerdings nur zweiseitige Ausgabe des GedenkstättenRundbriefs, im September folgte die zweite und im Dezember die dritte Ausgabe.

Die Gedenkstätten und ihre Anliegen fanden zunehmende öffentliche Aufmerksamkeit. Anzeichen eines sich verändernden Stellenwertes waren deutlich auf dem dritten, von Thomas Vogel vorbereiteten Gedenkstättentreffen bemerkbar, das vom 13. bis 16. Oktober 1983 im Freizeit- und Bildungszentrum »Weiße Rose« in Hannover-Mühlenberg stattfand. Das Hauptreferat hielt Prof. Dr. Herbert Obenaus über das an der Universität Hannover durchgeführte Forschungsprojekt zu den hannoverschen Außenlagern des Konzentrationslagers Neuengamme. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden von Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg begrüßt, der am zweiten Seminartag die Ausstellung »Konzentrationslager in Hannover 1943 bis 1945« eröffnete. An die Stelle des eher informellen Charakters der ersten beiden Treffen trat jetzt ein umfangreiches Tagungsprogramm: Die bundesweiten Gedenkstättenseminare waren geboren.

Zum 30. Januar 1984, dem 51. Jahrestag der Machtübertragung an die Nationalsozialisten, gab das Gedenkstättenreferat erstmals eine gemeinsame, von 15 Gedenkstätten(initiativen) und Organisationen getragene Presseerklärung heraus, die sich nachdrücklich für das Projekt einer Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Dachau aussprach. Kurz darauf endete die einjährige Abordnung des Vikars Thomas Vogel, der in eine Kirchengemeinde nach Gießen wechselte.

An seine Stelle trat der damals 27 Jahre junge Thomas Lutz. Dieser hatte nach dem Studium von Geschichte, Politik und Sport in Marburg und der Ablegung des ersten und zweiten Staatsexamens als Alternative zum Zivildienst bei ASF Besuchergruppen in der Gedenkstätte Auschwitz betreut. Nun übernahm er im Berliner Büro den weiteren Ausbau des Gedenkstättenreferats. Neben der Vielzahl von Aufgaben musste er selbst an der Einwerbung von Mitteln mitwirken, damit ASF das Gedenkstättenreferat weiterhin auf hauptamtlicher Basis aufrechterhalten konnte. Spenden und Stiftungsgelder, so die Förderung durch die Freudenberg-Stiftung, schufen dafür die Grundlage, Voraussetzungen für eine langfristige Finanzierung waren aber nicht gegeben.

In dem im Februar 1984 erstmals von ihm redigierten GedenkstättenRundbrief, mit dem er sich vorstellte, verwies Thomas Lutz darauf, dass ihm ein grundlegendes Problem seiner Arbeit schnell deutlich geworden sei: »Während die Mitarbeiter der Gedenkstätten/-initiativen sehr konkret vor Ort an den jeweils bestehenden Problemen arbeiten, sitze ich hier etwas imluftleeren‹ Raum.«[21] Das sollte sich aber schon schnell ändern, denn dem neuen Gedenkstättenreferenten gelang es in kurzer Zeit, enge Verbindungen herzustellen und ein dichtes Netzwerk zwischen Gedenkstätten, Verbänden und Institutionen zu knüpfen. Bereits die ein Vierteljahr später herausgegebene Nummer 5 des Rundbriefs belegte dies eindrucksvoll mit einem Umfang von nunmehr 18 Seiten und einer klaren Gliederung in fünf Hauptkapiteln (Berichte über Gedenkstätten und Initiativen, Zur Diskussion, Informationen, News, Veranstaltungen). Den von seinem Vorgänger als hektografierte Blattsammlung eingeführten Rundbrief entwickelte Thomas Lutz innerhalb weniger Jahre zu einem weit verbreiteten und auch außerhalb der Gedenkstätten geschätzten Fachjournal.

Noch gemeinsam mit seinem Vorgänger leitete er vom 10. bis 15. April 1984 das zweite bundesweite Gedenkstättenseminar in Berlin zum Thema »Widerstand und Verfolgung 1933–1945. Was können wir heute daraus lernen?«. Dieses Seminar begründete erstmals eine langjährige, intensive Kooperation des Gedenkstättenreferats mit der Friedrich-Ebert-Stiftung.

 

Kampf um den Bestand und Überleitung an die Stiftung Topographie des Terrors

In einem Bericht über das erste Jahr seiner Arbeit als Gedenkstättenreferent nannte Thomas Lutz folgende Schwerpunkte seiner Tätigkeit: Beratung und Kontakt zu den Gedenkstättenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern, Organisation des Informationsaustausches, Begleitung der ASF-Freiwilligen in den Gedenkstätten, Veranstaltungen und Seminare sowie Öffentlichkeitsarbeit.[22] Die von ihm skizzierten Vorhaben für das Folgejahr lassen erkennen, welche Ausweitung die Arbeit schon bald finden sollte, beispielsweise durch ein Seminarprogramm mit der Körber-Stiftung für Preisträgerinnen und Preisträger des Wettbewerbes um den Preis des Bundespräsidenten und eine Tagung in der Ev. Akademie Westberlin zum Erfahrungsaustausch der Gedenkstättenarbeit in Ost- und Westeuropa.

Im nächsten, im Oktober 1985 abgefassten Tätigkeitsbericht wird deutlich, in welchem Maße sich das Arbeitspensum entwickelte. Neben Besuchen in zahlreichen, oft Hunderte Kilometer voneinander entfernt gelegenen Gedenkstätten kamen verstärkt internationale Kontakte hinzu, so im Jahr 1985 Fahrten zu Gedenkstätten in die DDR und Polen und die Zusammenarbeit mit Institutionen wie dem Leo-Baeck-Institut in New York oder dem Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles.[23] Der Sachbericht für 1986 enthielt eine tabellarische Übersicht, die für das Jahr 72 Seminar- und Veranstaltungstage an verschiedenen Orten auflistete, wobei die Treffen zur Betreuung der Freiwilligen in Dachau und Neuengamme sowie zur Begleitung der Gedenkstätteninitiativen noch hinzukamen.[24] Hochmotiviert scheute Thomas Lutz keine Belastungen und keinen Zeitaufwand. In den Berichten ist mehrfach, zuweilen beiläufig, die Rede von »stundenlangen Fahrten auf bundesdeutschen Autobahnen« und von »körperlicher Überbeanspruchung«, die »nicht auf Dauer durchzuhalten«[25] sei.

Die eindrucksvolle Fülle der dargestellten Aktivitäten unterstrich die hohe Relevanz des Gedenkstättenreferats und die Notwendigkeit seiner Verstetigung. Es war keine Frage, dass es für ASF galt, baldmöglichst eine dauerhafte Verankerung der Stelle zu erreichen. Nicht nur, weil fehlende soziale Absicherung und Perspektive sonst zu einer anderweitigen beruflichen Orientierung geführt hätten. Thomas Lutz machte auch deutlich, welche Konsequenzen damit verbunden wären, wenn das Gedenkstättenreferat eingestellt werden sollte. Da ASF vor großen finanziellen Schwierigkeiten stand, wurde verstärkt nach einer mittelfristig realisierbaren anderen Kostenträgerschaft oder einem anderen institutionellen Rahmen für das Gedenkstättenreferat gesucht.

Der sich in den 1980er-Jahren vollziehende Wandel in der Auseinandersetzung mit den Stätten der NS-Verbrechen, der innerhalb eines Jahrzehnts zur Eröffnung einer ganzen Reihe von mit Ausstellungen und pädagogischer Begleitung versehenen Gedenkstätten führte, erfuhr nach 1990 eine weitere Stärkung. Dazu trugen Fragen nach dem Selbstverständnis des geeinten Deutschlands und nach den Lehren aus der zweifachen Diktaturerfahrung bei. Der stärkere gesellschaftliche Rückhalt, die steigenden Besucherzahlen und die Förderung aus öffentlichen Mitteln führten zu einer Professionalisierung der Gedenkstätten, die sich nunmehr schrittweise zu zeithistorischen Museen und modernen Bildungsstätten entwickeln konnten. Innerhalb von nur 15 Jahren rückten sie »von der Peripherie in das Zentrum der Geschichtskultur«[26]. In dieser Zeit identitätspolitischer Deutungskämpfe und der Herausbildung einer gesamtdeutschen Erinnerungskultur übernahm die Stiftung Topographie des Terrors im März 1993 das Gedenkstättenreferat, da ASF unter den Belastungen der Zusammenführung von Aktion Sühnezeichen Ost und West diese zehn Jahre lang vom Verein übernommene Aufgabe nicht mehr bewältigen konnte.

Mit dieser Entscheidung war, so der damalige Stiftungsdirektor Prof. Dr. Reinhard Rürup, »eine beträchtliche Erweiterung des Aufgabenspektrums der Stiftung Topographie des Terrors verbunden«[27]. Denn das Gedenkstättenreferat hatte sich in den Jahren zuvor sehr gut weiterentwickelt: Zum Zeitpunkt der Übernahme erschien bereits Heft 53 des GedenkstättenRundbriefs und das 20. Bundesweite Gedenkstättenseminar stand unmittelbar bevor.

Für die Übernahme von Thomas Lutz wurde die noch unbesetzte Stelle eines Wissenschaftlichen Mitarbeiters für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit umgewidmet; der Arbeitsplatz befand sich in den von der Stiftung genutzten Büroräumen in der Budapester Straße 44, später in der Stresemannstraße 110. Für das Gedenkstättenreferat, das im Laufe der Jahre mit einer Sachbearbeitungsstelle, Honorarmitteln und dem Einsatz von Freiwilligen des FSJ Kultur gestärkt werden konnte, bedeutete die Einbindung in die Stiftung Partizipation an deren wissenschaftlicher Expertise und einen weiteren Professionalitätsschub.

Zweifellos war die Integration des Gedenkstättenreferats mit seiner internationalen Ausstrahlung für das Profil des Berliner Dokumentationszentrums, das über den Terror informiert, den die SS von hier aus über das ganze Land und das von der Wehrmacht besetzte Europa entfachte, ebenfalls von großem Vorteil.

Um mit Worten von Dr. Thomas Lutz, der von 1984 bis 2023 als Gedenkstättenreferent geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Entwicklungen mitgeprägt hat, zu schließen: »Heute gehört das Bekenntnis zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen zur deutschen Staatsräson. Ein Generationen-Projekt, das sich vor vier Jahrzehnten gegen Widerstände entwickelt hat, ist heute auch bei den Eliten der Gesellschaft angekommen.«[28]

 

Prof. Dr. Detlef Garbe, Historiker, von 1989 bis 2019 Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, anschließend bis Juni 2022 Gründungsvorstand der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte.

 

[1]    Vgl. Thomas Rahe: Die Anfänge des Holocaust-Gedenkens. Erinnerungskultur in den jüdischen Displaced-Persons-Camps, in: Insa Eschebach (Hrsg.): Was bedeutet Gedenken? Kommemorative Praxis nach 1945. Berlin 2023, S. 231–245.

[2]    Habbo Knoch: Geschichte in Gedenkstätten. Theorie – Praxis – Berufsfelder. Tübingen 2020, S. 59.

[3]    Zu Kontexten und Motiven des sich Ende der 1970er-Jahre deutlich verstärkenden Interesses an Stätten der NS-Verbrechen und der Hinwendung zu den Opfern vgl. Ulrike Löffler: »Antifaschistische Erziehung« im Westen. Pädagogische Antworten auf die Konjunktur des Rechtsextremismus um 1977, in: Archiv für Sozialgeschichte 63 (2023), im Erscheinen.

[4]    Vgl. den ausführlichen Rückblick auf die seit 1973 auf Anregung von Bundespräsident Gustav Heinemann von der Körber-Stiftung durchgeführten Geschichtswettbewerbe: koerber-stiftung.de/projekte/geschichtswettbewerb/rueckblicke/(eingesehen am 19. 2. 2023).

[5]    Vgl. Ulrich Herbert: Vor der eigenen Tür. Bemerkungen zur Erforschung der Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus, in: Dieter Galinski/Ulrich Herbert und Ulla Lachauer (Hrsg.): Nazis und Nachbarn. Schüler erforschen den Alltag im Nationalsozialismus. Reinbek 1982, S. 9–33.

[6]    Vgl. Detlef Garbe: Von der »Nestbeschmutzung« zur Identitätsstiftung. Zivilgesellschaftliche Impulse in der Entstehungsgeschichte der bundesdeutschen Gedenkstätten, in: Volkhard Knigge (Hrsg.): Jenseits der Erinnerung – Verbrechensgeschichte begreifen. Impulse für die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach dem Ende der Zeitgenossenschaft. Göttingen 2022, S. 137–157.

[7]    Initiative Dokumentationsstätte Neuengamme, Schreiben vom 23. 7. 1981; Privatarchiv (PA) Detlef Garbe.

[8]    Vgl. Gabriele Kammerer: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Aber man kann es einfach tun. Göttingen 2008, S. 193.

[9]    Gabriele Steltenkamp (ASF-Freiwillige in Neuengamme), Zwischenbericht (1985) für die Nordelbische Kirche, zit. in Stephan Linck: Neue Anfänge? Der Umgang der evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien, Band 2: 1965–1985. Kiel 2016, S. 158.

[10]  Vgl. Ulrike Löffler: »Zeitgeschichte im Lichte des Wortes Gottes prüfen«. Christliche Bezüge in der Gedenkstättenarbeit der alten Bundesrepublik, in: Religiöse Praxis in Konzentrationslagern und anderen NS-Haftstätten. Göttingen 2021 (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung: 2), S. 150–170.

[11]  Kammerer (Anm. 8), S. 193.

[12]  Christoph Heubner/Gerhard Eisenbach, Einladung der ASF vom 28. 9. 1981; PA Detlef Garbe.

[13]  Detlef Garbe (Hrsg.): Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik. Bornheim-Merten 1983.

[14]  Christoph Heubner, Schreiben an Detlef Garbe vom 19. 10. 1981; PA Detlef Garbe.

[15]  Bundeszentrale für politische Bildung/Abteilung Planung und Entwicklung: Ansatzpunkte und mögliche Maßnahmen politischer Bildung zu rechtsextremistischen und neofaschistischen Tendenzen, 7. 9. 1979, S. 6; diesen Hinweis verdanke ich Ulrike Löfflers am 14. 5. 2022 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme gehaltenen Vortrag »Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Anfänge der bundesrepublikanischen Gedenkstättenarbeit«.

[16]  Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, Stand Anfang 1981 (Verantwortliche Referentin: Ulrike Puvogel, Bearbeitung: Anna Roth); eine 2. überarbeitete Auflage (Redaktion: Ulrike Puvogel) im Umfang von 434 Seiten datiert vom September 1981.

[17]  Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. Text und Zusammenstellung: Ulrike Puvogel. Bonn 1987. 1995/1999 erschien die Dokumentation unter dem gleichen Titel als zweibändige Ausgabe (Band 2 umfasste Berlin und die Neuen Bundesländer) im Umfang von insgesamt 1831 Seiten).

[18]  Christoph Heubner/Petra Burhenne, Einladung der ASF vom 5. 5. 1982; PA Detlef Garbe.

[19]  Joachim Schlör: Treffen der Initiativgruppen für/in Gedenkstätten vom 21. bis 23. Mai 1982 in Dachau, Protokoll vom 26. 5. 1982, S. 6; PA Detlef Garbe.

[20]  Ebenda, S. 7.

[21]  Rundbrief Nr. IV an die Gedenkstätten und Initiativen, 22. 2. 1984, S. 1.

[22]  Thomas Lutz, Abschlussbericht des Polen-/Gedenkstättenfreiwilligen, 1. 9. 1983 bis 28. 2. 1985; PA Detlef Garbe.

[23]  Thomas Lutz, Tätigkeitsbericht des Gedenkstättenmitarbeiters [Okt. 1985], S. 1; PA Detlef Garbe.

[24]  Thomas Lutz, Sachbericht für 1986 über die Arbeit des Gedenkstättenreferats, S. 4 f.; PA Detlef Garbe.

[25]  Thomas Lutz, Abschlussbericht (Anm. 21), S. 7.

[26]  Detlef Garbe: Von der Peripherie in das Zentrum der Geschichtskultur. Tendenzen der Gedenkstättenentwicklung, in: Bernd Faulenbach/Franz-Josef Jelich (Hrsg.): »Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?« Die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR in Ausstellungen, Museen und Gedenkstätten. Essen 2005, S. 59–84.

[27]  Reinhard Rürup (Hrsg.): Netzwerk der Erinnerung. 10 Jahre Gedenkstättenreferat der Stiftung Topographie des Terrors. Berlin 2003, S. 8.

[28]  Thomas Lutz: Topographie des Terrors. Entstehungsgeschichte und Bedeutung für die Entwicklung von Gedenk- und Dokumentationsstätten, in: Habbo Knoch/Oliver von Wrochem (Hrsg.): Entdeckendes Lernen: Orte der Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen. Festschrift für Detlef Garbe. Herausgegeben im Auftrag der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte. Berlin 2022, S. 335–355, hier S. 353.