Warum die Gedenkstunde im Bundestag am 27. Januar 2023 wichtig war – nicht nur für die queere Community

09/2023Gedenkstättenrundbrief 211, S. 47-51
Lutz van Dijk

In der jährlichen Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag, die zuerst 1996 unter Bundespräsident Roman Herzog stattfand, wurden von Anfang an auch Homosexuelle in einer Aufzählung der Opfergruppen mit genannt, jedoch wurde bislang sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten eine eigene Aufmerksamkeit verweigert. So ließ Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im Januar 2019 diplomatisch mitteilen, dass er »der Aufteilung des Gedenkens in einzelne Opfergruppen … aus grundsätzlichen Erwägungen skeptisch gegenüber (stehe).« Gleichwohl hatte es schon eher durchaus eigene Gedenkstunden für Zwangsarbeiter*innen, behinderte Menschen oder Roma und Sinti gegeben.

Nach Jahren des vergeblichen Bemühens über verschiedene Ebenen persönlicher Lobbyarbeit auch von vielen anderen entschloss ich mich, 2018 eine offizielle Petition an das Bundestagspräsidium einzureichen, die auch gleichzeitig an die Presse ging und erfreulich viel Aufmerksamkeit erhielt. Zu den über 170 Erstunterzeichner*innen zählten nicht nur Prominente aus der LGBTIQ+ Community in Deutschland und anderen Ländern, sondern auch Sprecher*innen weiterer Opfergruppen sowie international anerkannte Historiker*innen. So schrieb Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees: »Im Internationalen Auschwitz Komitee sind seit Jahrzehnten jüdische und nicht-jüdische Überlebende von Auschwitz im gemeinsamen Engagement als Zeitzeugen in vielen Ländern versammelt… Sie würden es außerordentlich begrüßen, wenn in der Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages die homosexuellen Opfer dieses menschenverachtenden Systems geehrt und vor neuer Ausgrenzung von Minderheiten und neuem Hass gewarnt werden würde.«

Außer den Holocaust-Überlebenden Rozette Kats, Leon Schwarzbaum und der leider inzwischen verstorbenen Esther Bejarano unterzeichnete auch Ruth Weiss, die nun am 27. Januar 2023 im NRW-Landtag in Düsseldorf sprach und uns gleichzeitig mitgeteilt hatte: »Wie enttäuschend, dass es bisher nicht möglich war, beim Gedenken am 27. Januar an die Opfer der Nazizeit auch Homosexuelle einzuschließen. Bereits in der Emigration in den 1930er-Jahren lernte ich bemerkenswerte Personen kennen, die wegen ihrer Sexualität verfolgt und wie meine Familie im Ausland, in unserem Fall im fernen Südafrika, Schutz gesucht hatten.«

Für den Landesverband der Sinti und Roma in Berlin-Brandenburg, ließ uns Petra Rosenberg wissen: »Auch Sinti und Roma haben die leidvolle Erfahrung machen müssen, noch lange nach 1945 zu den sogenannten ›vergessenen Opfergruppen‹ zu gehören. Es erforderte ein jahrelanges Engagement der direkt Betroffenen wie auch der sogenannten zweiten Generation, bis es zu einem gesellschaftlichen Verständnis in der Bevölkerung kam. Ich unterstütze deshalb ausdrücklich die Petition, endlich auch dieser Opfergruppe das Wort zu erteilen.«

Des weiteren unterzeichneten prominente Vertreter*innen des DGB und einiger Einzelgewerkschaften sowie der evangelischen und katholischen Kirche sowie mehrere mutige Geschichtsprofessor*innen aus Polen und anderen Ländern mit homophoben Regierungen.

Erst mit dem Regierungswechsel in Berlin gab es jedoch konkrete Hoffnung. Bereits im November 2021 schrieb die neue Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, dass unser Anliegen »besondere Berücksichtigung finden« würde und bestätigte dies im Juni 2022. Ein achtungsvoller Dialog begann unter Beteiligung auch anderer Vertreter*innen queerer Organisationen wie dem »Lesben und Schwulen Verband Deutschlands (LSVD)«. Hierbei war auch in unserem Interesse, dass dies eine offizielle Veranstaltung des Bundestags bleiben würde mit Anwesenheitspflicht aller Abgeordneten.

Da es heute allein vom Lebensalter her keine Überlebenden mehr gibt, die selbst hätten berichten können, entstand die Idee, die Geschichten zweier Opfer vorlesen zu lassen, die ich in Abstimmung mit Expert*innen schreiben durfte, wofür die offen lesbische Schauspielerin Maren Kroymann und der offen schwule Schauspieler Jannik Schümann gewonnen werden konnten. Beide stehen auch für unterschiedliche Generationen.

Bei Mary Pünjer (1904–1942) wird deutlich, dass auch lesbische Frauen in der NS-Zeit verfolgt wurden, auch wenn es keinen eigenen Strafparagrafen gegen sie gab. Mary Pünjer wurde als »Asoziale« verhaftet und ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht, obwohl sie auch als Jüdin hätte deportiert werden können. Dem KZ-Arzt Friedrich Mennecke war es jedoch wichtig, ihre »Unheilbarkeit« als »Lesbierin« als Grund anzugeben, um sie in der »Heil- und Pflegeanstalt Bernburg« durch Gas ermorden zu lassen. Gleichwohl liegen keine eigenen Aussagen von Mary Pünjer über ihr Lesbischsein vor.[1]

Karl Gorath (1912–2003) wird 1934 mit 22 Jahren nach Paragraf 175 verurteilt. Eine erneute Verhaftung 1938 führt zuerst zu einer Zuchthausstrafe, nach deren Abbüßung er als »Wiederholungstäter« ins KZ Neuengamme und von dort 1943 nach Auschwitz deportiert wird. Er überlebt die NS-Zeit nur knapp. Trotzdem wird er bereits 1946 erneut vom gleichen Richter verteilt, der ihn schon in der NS-Zeit schuldig sprach. 1989, mit 77 Jahren, fährt Karl Gorath mit uns, einer offen schwulen Gruppe aus Norddeutschland, ins »Staatliche Museum Auschwitz«, vor allem, um herauszufinden, ob seine beiden jungen polnischen »Geliebten« und Mitgefangenen überlebt hätten. Die offiziellen Stellen lassen ihn damals glauben, dass sie umgekommen wären, obwohl einer 1989 sogar noch Führungen in Auschwitz durchführte.[2]

Der 27. Januar ist zuerst eine Erinnerung an die Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee 1945. Seit 2005 haben die Vereinten Nationen dieses Datum zum »Internationale Holocaust-Gedenktag« erklärt. Obwohl die Gedenkstunde im Bundestag an alle Opfer des Nazi-Terrors erinnern möchte, bleibt dieser Zusammenhang bedeutsam. Aus diesem Grund wurde Rozette Kats (*1942) aus den Niederlanden eingeladen, um als erste nach Bundestagspräsidentin Bas in der Gedenkstunde 2023 zu reden: Als kleines Kind überlebte sie bei einem nichtjüdischen Ehepaar in Amsterdam, zu dem ihre Eltern sie vor ihrer eigenen Deportation nach Auschwitz gebracht hatten. Rozette Kats berichtete auch, um deutlich zu machen, dass ein Verstecken der eigenen Identität immer schrecklich und krankmachend ist, worin sie Parallelen zu vielen queeren Opfern damals und heute sieht.

Fraglos können in 60 Minuten nicht alle wichtigen Aspekte dargestellt werden. Jedoch erstmals seit 1996 wurde durch den abschließenden Beitrag von Klaus Schirdewahn (*1947), der 1964 als 17-Jähriger nach Paragraf 175 verhaftet worden war, deutlich, wie die Verfolgung einer Opfergruppe auch nach 1945 weiterging. Der 1935 verschärfte Nazi-Paragraf 175 wurde zwar 1969 liberalisiert, jedoch abgeschafft erst 1994. Die etwa 50 000 Urteile von 1933 bis 1945 wurden erst 2002 für ungültig erklärt und als Vorstrafen gelöscht. Sogar erst 2017 wurden die erneut rund 50 000 Urteile nach 1945 aufgehoben. Die gesamte Gedenkstunde kann weiter jederzeit angeschaut werden unter:

www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw04-gedenkstunde-929020

Unter Historiker*innen gibt es bis heute eine Kontroverse darüber, wer als NS-Verfolgter anzuerkennen sei, zumal das Wort queer damals in der Tat noch nicht gebraucht wurde.[3] Es sollte jedoch niemals darum gehen, die eine gegen die andere Opfergruppe gerade in Bezug auf individuelle Biografien zu hierarchisieren, sondern die unterschiedlichen Verfolgungskriterien der Nazis zu demaskieren, um konkrete Schicksale überhaupt erst erkennen und sprachlich fassen zu können. Hier hat die historische Forschung erst begonnen.

Bei Transsexuellen zum Beispiel, aber auch anderen geschlechtlichen Minderheiten, ist noch viel am Anfang, obwohl transphobe Attacken zuzunehmen scheinen, wie nicht nur der Mord an Malte C. (25) in Münster Anfang September 2022 zeigt, der sich beim Gay Pride mutig vor zwei lesbische Frauen gestellt hatte. Auch darum war es gut, dass die Transkünstlerin Georgette Dee in der Gedenkstunde zwei Lieder von Bert Brecht und Friedrich Hollaender aus den 1920er-Jahren vortrug, die für die »queere Welt« damals von Bedeutung waren und die von den Nazis ab 1933 verboten wurden. Wie bedeutsam die Gedenkstunde für Angehörige geschlechtlicher Minderheiten war, ist auch daraus abzulesen, dass es hier besonders viele positive Rückmeldungen mit dem Wunsch nach mehr historischer Kenntnis gab.[4]

Auch wenn queere Flüchtlinge in der Gedenkstunde nicht selbst zu Wort kamen, sollte es mehr als eine Geste sein, dass zu den eingeladenen Ehrengästen, die ausdrücklich von Bundestagspräsidentin Bas in ihrer Rede begrüßt wurden, auch Ali Tawakoli aus Afghanistan und Edward Mutebi aus Uganda gehörten. Denn weiter gibt es mehr als 70 Länder mit strengen Haftstrafen für Homosexuelle, davon in mehr als 40 auch für Frauen. Und in 13 Ländern besteht die Todesstrafe gegen homosexuelle Frauen und Männer – das überwiegend christliche Uganda wäre das 14. Land, wenn das bereits vom dortigen Parlament im März 2023 mit über neunzigprozentiger Mehrheit angenommene Gesetz von Präsident Museveni ratifiziert wird.

So war die Gedenkstunde im Bundestag vom 27. Januar 2023 auch Ermutigung zu weiter nötigem Engagement und mehr solidarischen Kontroversen. Viele formulierten danach auch über die professionelle Zustimmung hinaus, wie sehr die Beiträge der Gedenkstunde sie persönlich berührt hätten, so die Politikwissenschaftlerin Felicia Ewert: »Die Shoah-Überlebende Rozette Kats appellierte in ihrer Ansprache im Bundestag, dass sie selbst nicht zu einer sexuellen und geschlechtlichen Minderheit gehöre, die Parallelen aber nicht außer Acht gelassen werden dürften. Es dürfe keine Teilung geben. Bei diesen Worten und der Geschichte ihres Überlebens schossen mir die Tränen in die Augen. Denn sie hätte diesen Appell nicht machen müssen… doch sie nutzte den Raum, um auf Queerfeindlichkeit aufmerksam zu machen. Mein tiefster Dank an dieser Stelle.«[5]

Oder wie Tilmann Warnecke im Tagesspiegel formulierte: »Eine Gedenkstunde, die nachhallt.«[6]

 

Dr. Lutz van Dijk ist Historiker, Pädagoge und Schriftsteller, der von 1992 bis 1999 bei der Anne Frank Stiftung Amsterdam tätig war und verschiedene Veröffentlichungen zum Thema, auch für Jugendliche publizierte, so u.a.: »Verdammt starke Liebe – die wahre Geschichte von Stefan K. und Willi G.«, seitdem in zahlreiche Sprachen, auch Englisch und Polnisch, übersetzt, (zuerst: Reinbek 1991), Berlin 2015. Als Ko-Herausgeber auch: Ostrowska, Joanna/Talewicz-Kwiatkowska, Joanna/van Dijk, Lutz (Hrsg.): »Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten«, Berlin 2020/Warschau 2021. Er lebt in Amsterdam und Kapstadt.

 

[1]    Mehr zu Mary Pünjer siehe: Schoppmann, Claudia: Elsa Conrad – Margarete Rosenberg – Mary Pünjer – Henny Schermann: Vier Portraits, in: Eschebach, Insa (Hrsg.): Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Berlin 2012, S. 97–111.

 

[2]    Mehr zu Karl Gorath und auch der aktuellen Situation im »Staatlichen Museum Auschwitz« heute, in: Ostrowska, Joanna/Talewicz-Kwiatkowska, Joanna/van Dijk, Lutz (Hrsg.): Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten, Berlin 2020/Warschau 2021 (hier im besonderen der Beitrag von Jörg Hutter, S. 179–185).

 

[3]    van Dijk, Lutz: Es ist an der Zeit, historische Forschung zu demaskieren, in: Tagesspiegel vom 4. 2. 2021: www.dw.com/de/ein-k %C3 %A4mpfer-f %C3 %BCr-die-ehrung-queerer-ns-opfer/av-64 542 547; van Dijk, Lutz/Zinn, Alexander: Von Schwulen und Nazis – Zwischen Opfermythos und historischer Präzision (Streitgespräch moderiert von Hanno Hauenstein), in: Berliner Zeitung vom 29. 3. 2021: Von Schwulen und Nazis: Zwischen Opfermythos und historischer Präzision (berliner-zeitung.de); Zinn, Alexander: Eine Neigung, die Geschichte zu verbiegen (Interview), Die Welt vom 25. 1. 2023, S. 5; van Dijk, Lutz: Queere NS-Opfer – »Die Verfolgung ging nach 1945 weiter« (interview), in: Die Zeit vom 27. 1. 2023: Queere NS-Opfer: »Die Verfolgung ging nach 1945 weiter«; ZEIT ONLINE

 

[4]    Hier seien zumindest als Pionierarbeiten genannt: Herrn, Rainer: Schnittmuster des Geschlechts. Transvestitismus und Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft, Giessen 2005; Pretzel, Andreas (Kurator der Ausstellung): »Ich bin so! So bin ich! – Verfolgung von Trans* und Lesben während der NS-Zeit«, Berlin 2019; Wolfert, Raimund: Charlotte Charlaque – Transfrau, Laienschauspielerin, »Königin der Brooklyn Heights Promenade«, Leipzig 2021.

 

[5]    Ewert, Felicia: Verhetzt, verfolgt, verschwiegen; in: Missy Magazine vom 13. 2. 2023

 

[6]    Warnecke, Tilmann: Bundestag erinnert an queere NS-Opfer. Eine Gedenkstunde, die nachhallt, in: Tagesspiegel vom 27. 1. 2023. Bundestag erinnert an queere NS-Opfer: Eine Gedenkstunde, die nachhallt (tagesspiegel.de)