Zum Umgang mit NS-Inszenierungen am Reichsparteitagsgelände

03/2023Gedenkstättenrundbrief 209, S. 13-22
Karl-Hermann Rechberg und Anja Prölß-Kammerer

In der Stadt Nürnberg ist die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit als ehemalige »Stadt der Reichsparteitage«, »Stadt der Nürnberger Rassegesetze« und nicht zuletzt der Nürnberger Prozesse eine ständige Aufgabe. Das ehemalige Reichsparteitagsgelände ist der sichtbarste Ausdruck dieses Erbes und der Umgang damit eine stetige Herausforderung für Stadtgesellschaft und Politik. Seit 1973 stehen die Bauten unter Denkmalschutz. Seit 2001 befindet sich in einem Kopfbau der Kongresshalle ein Dokumentationszentrum. 2004 hat die Stadt einstimmig die »Leitlinien/Leitgedanken zum künftigen Umgang der Stadt Nürnberg mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände« beschlossen. Diese bilden die Grundlage für die Entscheidung, Zeppelintribüne und -feld im jetzigen Zustand baulich zu sichern und sie zu einem Lernort zu entwickeln. Eine aktive Beschäftigung heutiger und künftiger Generationen mit der NS-Geschichte soll hier dauerhaft ermöglicht werden.

Nürnberg ist damit auch ein Spiegel der Aufarbeitung nationalsozialistischer Vergangenheit in Deutschland. Durch die besondere Rolle der Stadt im Nationalsozialismus ist Nürnberg mit einer baulichen und historischen Dimension der Vergangenheit konfrontiert, die sie mit kaum einer anderen Stadt oder auch Region teilt.[1] Diese Verantwortung ist auch aktuell gefragt, da neben Veränderungen des sogenannten Zeppelinfelds und seiner Tribüne als auch Arbeiten an der Kongresshalle geplant sind, die Auswirkungen auf die historisch-politische Bildungsarbeit in Nürnberg haben. Diese sollen im Folgenden genauer beleuchtet werden.

 

Geplante Weiterentwicklungen des Lernorts Zeppelintribüne

Die Zeppelintribüne mit dem zugehörigen Zeppelinfeld sind die einzigen heute noch erhaltenen, einst tatsächlich genutzten Orte des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes. Sie sollen als Ensemble erhalten bleiben und noch mehr als bisher als »Lernort« zugänglich gemacht werden.[2] Hier befindet sich auch einer der wenigen heute noch bestehenden Innenräume nationalsozialistischer Repräsentationsarchitektur, der sogenannte »Goldene Saal«, der die Möglichkeit zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Ästhetik des Nationalsozialismus und der Inszenierung durch Architektur als »Beeindruckungsarchitektur« bietet.

Inhaltlich stehen sie in erster Linie für das Konzept der ausgrenzenden »Volksgemeinschaft«, aber auch für Themen wie Militarisierung, »Deutsche Arbeit« oder gesellschaftliche Rollenbilder – repräsentiert durch die Veranstaltungen, die hier im Nationalsozialismus stattfanden. Teilnehmer und Zuschauer waren alle auf die Mitte der Zeppelintribüne, auf die Rednerkanzel und damit den »Führer« ausgerichtet.

Zentrales Thema am Lernort Zeppelinfeld ist die Beschäftigung mit der Inszenierung von »Volksgemeinschaft«. Wie wurde sie während der Veranstaltungen erfahren? Wer gehörte nicht dazu? Wer wurde ausgegrenzt? Ein Innen bedingt immer auch ein Außen. Das Zeppelinfeld schottet sich mit seinen 34 Türmen wie eine Wehranlage ab. Innen wirkt die »Volksgemeinschaft« unter der Führung Adolf Hitlers. Der »Lichtdom« um das Feld ist das Symbol für diese vermeintliche »Gemeinschaft« samt ihres ausgrenzenden Charakters.

Derzeit ist der Zustand von Zeppelintribüne und -feld marode. Zuletzt mussten trotz kontinuierlichem Bauunterhalt immer mehr Bereiche aus Sicherheitsgründen abgesperrt werden. Daher soll die Tribüne »trittfest« im Sinne von betretbar gemacht werden, ohne sie in ihrer Ästhetik zu verändern. Dabei gilt der Grundsatz, einen gefahrlosen Aufenthalt am historischen Ort zu ermöglichen, der Raum zur Entmystifizierung und zu mehr Informationen bietet als bislang. So ist eine intensivere Auseinandersetzung auch mit der Rednerkanzel geplant, die Öffnung eines der Treppenhäuser in der Tribüne, sowie das Öffnen des im Inneren der Tribüne angelegten sogenannten »Goldenen Saals« mit einer noch zu konzipierenden kompakten Präsentation. Das zugehörige Zeppelinfeld wird teils frei zugänglich sein, die Dimensionen und Funktionen sollen vermittelt und ein Feldturm der Anlage geöffnet werden. Die Gesamtanlage von Zeppelintribüne und -feld soll so in ihrer Gesamtheit wieder wahrnehmbar werden.

 

Geplante Weiterentwicklungen des Innenhofs der Kongresshalle

Die Kongresshalle auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände ist eine der bundesweit größten baulichen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus. Der 1935 begonnene Bau wurde nie vollendet und nie im geplanten Sinn als Ort für die Reichsparteitage der NSDAP genutzt. Die Nutzungsgeschichte nach 1945 reicht vom profanen Gebrauch als Kfz-Sammelstelle bis hin zur kulturellen Nutzung durch die Nürnberger Symphoniker oder zur historisch-politischen Bildung durch das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände.[3] Seither ist der Innenhof leer und zeigt beeindruckend das Scheitern des Nationalsozialismus. Seit den 80er Jahren gilt er als wichtige Station bei Rundgängen über das Gelände.

Im Dezember 2021 hat der Nürnberger Stadtrat grundsätzlich entschieden, dass die Kongresshalle der Standort für die Ausweichspielstätte des Nürnberger Staatstheaters werden soll.[4] Dieses ist bislang im Opernhaus untergebracht, das nun saniert werden muss. 2025 läuft die Betriebserlaubnis für das Opernhaus aus. Ein Interim mit Bühne, Orchestergraben und Zuschauerraum soll laut konkretisiertem Beschluss im Juli 2022 nach einem Gutachterverfahren im Innenhof an der nordwestlichen Innenseite der Kongresshalle errichtet werden. Die Betriebs- und Produktionsräume sollen dabei in der Halle selbst untergebracht werden.

Man war in Nürnberg mehrheitlich der Meinung, dass damit die Gesamtwirkung des Innenhofs nur unwesentlich beeinträchtigt und auch die Architektur des Dokumentationszentrums von Günter Domenig in ihrer Wirkung nicht geschmälert wird. Die Relevanz der Kongresshalle für die Erinnerungskultur und die historisch-politische Bildung soll damit nicht reduziert werden – obwohl die hier pädagogisch Tätigen das in größten Teilen kritisch sehen. Die Ausführungen im Folgenden belegen die Bedeutung des Innenhofs für die Erinnerungskultur vor Ort.

Neben der Ausweichspielstätte für die Oper sind in der Kongresshalle auch sogenannte Ermöglichungsräume mit Kunst und Kultur, Ateliers und Werkstätten geplant.[5] Im Jahr 2025 sollen in vier Segmenten des Rundbaus ca. 150 Räume für kulturelle Nutzung unterschiedlichster Sparten zur Verfügung stehen. Die Stadt Nürnberg hat erklärt, dass der bestehenden Vermittlung durch bauliche Relikte aus der NS-Zeit neue künstlerische Formen des Umgangs hinzugefügt werden sollen. Hierzu stehen Fördermittel sowohl von Bund und Land Bayern zur Verfügung. Wie genau diese kulturelle Nutzung aussehen wird, soll in einem partizipativen Prozess mit der Künstlerschaft ermittelt werden. Dabei haben sich die Künstler überwiegend sehr interessiert gezeigt, mit dem Dokumentationszentrum zusammenzuarbeiten. Offen ist, wie die Verschränkung konkret von Erinnerungskultur und Dokumentationszentrum aussehen soll, welche baulichen Veränderungen der Kongresshalle zum Innenhof geplant sind und ob auch der Innenhof zumindest zeitlich und räumlich begrenzt künstlerisch genutzt werden soll. Wesentliche inhaltliche Fragen wie beispielsweise die nach der Betriebsstruktur oder Synergien mit anderen Nutzungen der Kongresshalle sind dabei ebenso noch offen.

 

Didaktische Herausforderungen am ehemaligen Reichsparteitagsgelände

Heute besuchen jedes Jahr Hunderttausende das Gelände, um sich mit dessen Vergangenheit und insbesondere dem Thema der NS-Propaganda auseinanderzusetzen. Es stellt sich die Frage, welchen Einfluss die dargestellten Planungen auf die Lernprozesse dieser Personen haben, die sich hier mit der Selbstinszenierung der Täter[6] beschäftigen.

Welchen Orientierungen die Lernprozesse am ehemaligen Reichsparteitagsgelände folgen, wurde vor wenigen Jahren empirisch untersucht: Zunächst wurden 36 Gruppendiskussionen mit insgesamt 206 Schülerinnen und Schülern geführt, die zuvor im Rahmen einer pädagogisch geführten Exkursion das Gelände besucht hatten. Mithilfe der dokumentarischen Methode[7] wurden aus diesem Datenmaterial diejenigen Aspekte rekonstruiert, die ihre Lernprozesse strukturierten. Eine Monografie zur Untersuchung wurde im Jahr 2020 veröffentlicht[8]. Das zentrale Ergebnis dieser Studie ist, dass die nationalsozialistische Inszenierung auf dem Gelände auch heute noch wirksam ist und Besuchende nicht nur zur Distanzierung, sondern auch zur Annäherung an die Täter bewegen kann. Vor dem Hintergrund der besonderen Struktur des Geländes verwundert dieses Ergebnis wenig: In Deutschland ist das historisch-politische Lernen zum Nationalsozialismus normativ angelegt. Die Forderung »Nie wieder!«[9] kann für das Lernen an historischen Orten zum Nationalsozialismus als konsensuale Losung begriffen werden. Sie drückt den Anspruch aus, Distanzierung gegenüber den Tätern und ihrer Ideologie zu fördern. Die Architektur nationalsozialistischer Selbstinszenierung, wie sie an sogenannten »Täterorten«[10] wie dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände zu sehen ist, zielt jedoch darauf ab, die Perspektive der Täter zu transportieren und dabei eine sogenannte »Werbewirkung« zu entfalten, wie es Hans-Ernst Mittig bezeichnet hat[11]. Das Gelände ist also als Lernumgebung antinom angelegt: Die Inszenierung des Geländes folgt einem Anliegen, das dem pädagogischen Ziel historisch-politischer Bildung diametral entgegensteht. Entsprechend zeigen sich im empirischen Befund sowohl Annäherungen an die Täter als auch Distanzierungen.

Eine didaktische Herausforderung besteht darin, mit dieser Antinomie angemessen umzugehen. Aus Sicht historisch-politischer Bildung bedeutet dies einerseits, den dokumentarischen Gehalt des Geländes nicht zu verfälschen, also die Inszenierung zugänglich zu machen. Andererseits bedeutet es jedoch auch, der Forderung »Nie wieder!« zu entsprechen und eine Annäherung an die Täter zu vermeiden, beziehungsweise eine Distanzierung zu ermöglichen. Jelitzki und Wetzel formulieren die Forderung an die Auseinandersetzung mit den Täterinnen und Tätern des Nationalsozialismus so, dass es darum gehe, ihre Perspektive in einer Weise nachvollziehbar zu machen, in der man »den eigenen Standpunkt nicht vergisst«[12].

Auf Basis der Untersuchungsergebnisse wurden für Umgang mit Propaganda im Rahmen historisch-politischer Bildung bereits mehrere didaktische Vorschläge formuliert[13]. Diese beziehen sich nicht nur auf die pädagogische Arbeit in Nürnberg, sondern auch auf die Auseinandersetzung mit Propaganda im Allgemeinen. Immer spielt hierbei jedoch der Umgang mit sinnlich wahrnehmbaren Elementen eine besondere Rolle, wie beispielsweise mit Fotografien oder historischen Orten. Hierauf soll im Folgenden vertiefend eingegangen werden.

 

Berücksichtigung der Wahrnehmungsebene

Die benannte Untersuchung der Lernprozesse auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände zeigt, dass die Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler auf zwei Ebenen verläuft: Auf der Wahrnehmungsebene, auf der die Inszenierung beispielsweise einen visuellen Eindruck hinterlässt, und auf einer kognitiven Ebene, auf der der historische Kontext verarbeitet wird, den die Jugendlichen im Rahmen des pädagogischen Angebots erfahren. Das empirische Material der Studie dokumentiert mehrfach, dass Eindrücke, die auf der Wahrnehmungsebene entstanden sind, einen Einfluss auf die Haltung der Lernenden gegenüber den Tätern ausüben. Dies sind Abschnitte, in denen die jungen Menschen beispielsweise in erster Linie von der Größe der besuchten Bauwerke berichteten und anschließend wertende Zuschreibungen gegenüber den Tätern formulierten. Sie äußerten dann beispielsweise schwärmerisch, dass Adolf Hitler eine »Legende«[14] gewesen sei, oder dass die Nationalsozialisten »viel erreicht«[15] hätten. Die Urteile in diesen Passagen werden von den Befragten nicht relativiert – auch nicht anhand von Kontextwissen, das sie üblicherweise im Unterricht und auch im Rahmen ihrer Exkursion vermittelt bekommen.

Dieser Befund lässt sich mit Weidenmanns lernpsychologischen Ansatz zum Bildverstehen[16] erklären: Weidenmann zeigt, dass Kontextwissen der kognitiven Ebene zuzuordnen ist. Ihrer Verarbeitung ist jedoch die Aufnahme von Eindrücken auf der Wahrnehmungsebene vorgeschaltet. Eindrücke durch sinnliche Wahrnehmung, wie beispielsweise beim Betrachten von Gebäuden, entstehen unmittelbar und spontan. Kognitive Inhalte jedoch müssen aufwendiger verarbeitet werden.

Das Ergebnis dieses letzteren Prozesses ist der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung daher nachgeordnet. Weidenmanns Ansatz wurde inzwischen auch in der Geschichtsdidaktik rezipiert und gezeigt, dass die unterschiedlichen Verarbeitungswege der kognitiven und wahrnehmungsbezogenen Ebene Auswirkungen auf das Geschichtslernen haben: Markus Bernhardt[17] hat in einer empirischen Untersuchung zum historischen Bildverstehen gezeigt, dass Schülerinnen und Schüler bis in die neunte Jahrgangsstufe häufig damit überfordert sind, die Inszenierung in visuellen historischen Darstellungen mithilfe kognitiv verabreichter Informationen zu brechen, beziehungsweise zu dekonstruieren.

Entsprechend zeigt sich im empirischen Material über das Lernen am ehemaligen Reichsparteitagsgelände, dass die historische Kontextualisierung des besuchten Ortes beispielsweise durch Kommentare der Guides nicht immer ausreicht, den Eindruck auf der Wahrnehmungsebene zu brechen, beziehungsweise zu dekonstruieren.

Im empirischen Material der Untersuchung zum Lernen am ehemaligen Reichsparteitagsgelände wurden jedoch Möglichkeiten sichtbar, wie Lernende unterstützt werden können, die dortige Inszenierung als solche zu begreifen. Diese halfen ihnen, sie zu dekonstruieren und sich infolgedessen auch von den Tätern zu distanzieren. Die Befragten zeigten, dass ein zunächst positiv empfundener Eindruck der Architektur gebrochen wurde, wenn sie anschließend mit alternativen Ansichten der Gebäude konfrontiert wurden. Sie berichteten beispielsweise, dass sie die Kongresshalle zunächst von außen betrachtet als »voll schön«[18] empfunden hätten. Anschließend hätten sie sich in das Innere der Halle begeben, wo sich ihnen ein völlig anderer Anblick geboten habe, den sie als »baufällig« und »nicht zu Ende gebaut« [19] beschrieben. Dieser Eindruck mündete schließlich in einer wertenden Rückführung auf die Erbauer, deren Vorgehensweise schließlich auch dazu geführt habe, dass die Halle am Ende »kaputt«[20] gewesen sei. Es zeigte sich also, dass ein gezielter Blick »hinter die Kulissen« die Betrachtenden darin unterstützte, die Inszenierung als solche zu begreifen und sich von den Tätern zu distanzieren.

Die Untersuchung zeigte auch die Bedeutung der kognitiven Auseinandersetzung, die vor allem durch die Kommentare von Guides angeregt wurde, welche die Lernenden über das Gelände führten. Auch diese trugen zur Dekonstruktion der Inszenierung bei. Jedoch wurde die Brechung des auf der Wahrnehmungsebene entstandenen Eindrucks entscheidend didaktisch unterstützt, indem die Wahrnehmungsebene auch für die Dekonstruktion eingesetzt wurde. Dieser Befund wird in Gesprächen unterschiedlicher Gruppen wiederholt sichtbar.

In Bezug auf diesen Nürnberger Erinnerungsort zeigt sich hier ein besonderer didaktischer Vorteil: Die Baufälligkeit der Bauwerke sowie die Sichtbarkeit des Kontrastes zwischen Außen- und Innenansicht, respektive zwischen Planung und Realisierung bieten ein großes didaktisches Potenzial für die Auseinandersetzung mit Propaganda und das Lernen über den Nationalsozialismus.

 

Nutzung des Potenzials auf Rundgängen von DoKuPäd auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände

Im Folgenden soll am Beispiel von DoKuPäd dargestellt werden, wie die beschriebenen didaktischen Besonderheiten in der Praxis wahrgenommen und berücksichtigt werden. Die Einrichtung DoKuPäd – »Pädagogik rund um das Dokumentationszentrum« gehört zum Kreisjugendring Nürnberg-Stadt. Sie ist einer von mehreren Anbietern historisch-politischer Bildung im Dokumentationszentrum sowie auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände. Die Angebote richten sich an Schulklassen, Jugendgruppen sowie Multiplikatoren aus ganz Deutschland. Einige Gruppen, auf dessen Aussagen die bereits benannte 2020 veröffentlichte Studie basiert, wurden von DoKuPäd zuvor über das Gelände geführt. Neben Themen historisch-politischer Bildung bietet die Einrichtung auch Programme zu Themen aktueller politischer Bildung an wie Demokratieerziehung, Menschenrechtsbildung sowie das Eintreten gegen Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Rechtsextremismus und Verschwörungserzählungen.[21] Mit Ausnahme der Jahre während der Pandemie werden jährlich von DoKuPäd etwa 320 Gruppen in drei- bis sechsstündigen Veranstaltungen betreut.

Übergeordnetes Ziel von DoKuPäd ist es, einen differenzierten Zugang zur NS-Zeit zu ermöglichen und auch aktuelle Bezüge nicht zu ignorieren. Historisch-politische Bildung in Nürnberg muss die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte beinhalten, mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und deren Folgen. Grundlage der Arbeit ist ein »Nie wieder!« Gegenstand ist also nicht nur die Vergangenheit als solche, sondern die zu schaffende Zivilgesellschaft der Zukunft.[22] Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus kann und soll das Nachdenken über den Gebrauch und Missbrauch von Macht anregen, über die Folgen, die es hat, wenn eine Gesellschaft die Menschenrechte verletzt und welche Bedeutung das Verhalten des Einzelnen hat. All diese Fragen können und sollen gerade in Nürnberg eine Rolle spielen, da die Stadt sowohl »Täterort« als auch Mitläuferort war. Das Ziel, anhand von NS-Propaganda wie dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände junge Menschen anzuregen, kritisch mit aktuellen Selbstinszenierungen umzugehen und sich nicht verführen zu lassen, ist äußerst herausfordernd, wie in der besagten Studie eingehend eruiert wird.[23] Daher kommt der Distanzierung von den Tätern und dem »Brechen« der Inszenierung eine besondere Bedeutung zu, die alle, die vor Ort historisch-politische Bildung betreiben, ständig bewegt. Im Folgenden soll erläutert werden, wie bei den Rundgängen von DoKuPäd versucht wird, diesem hehren Anspruch gerecht zu werden und welche Bestandteile des Geländes hier von immenser Bedeutung sind.

Der auf ungefähr vier Stunden angelegte Rundgang über das ehemalige Reichsparteitagsgelände ist eines der Standardangebote von DoKuPäd, das häufig von Jugendgruppen und Schulen aller Schularten gebucht wird. Andere Einrichtungen, wie beispielsweise Geschichte für Alle e.V., richten sich mit ihren Angeboten auch an Erwachsene.

Nach mehreren Stationen auf dem Gelände führt der Rundgang schließlich auch über die Zeppelintribüne und die Große Straße zur Kongresshalle, die erst außen umrundet wird, um dann in deren Innenhof zu enden.

Die Jugendlichen sollen durch den Rundgang unter anderem ein Gefühl für die Größe des Geländes bekommen. Sie sollen das ehemalige Reichsparteitagsgelände selbst begehen und kennenlernen und sie sollen Informationen über die noch stehenden und geplanten Gebäude erhalten. Sie sollen verstehen, was einen Reichsparteitag von Parteitagen in der Demokratie unterscheidet. Sie sollen erfahren, was HJ und BDM waren, warum die Jugendlichen von deren Aktivitäten vielfach begeistert waren, aber auch, dass die Reichsparteitage in Nürnberg zugleich eine große Übung zur systematischen Kriegsvorbereitung waren. Die große Herausforderung besteht jedoch darin, dass die Jugendlichen nicht bei der »Faszination«, der Inszenierung, stehen bleiben, die das Gelände heute immer noch mit seinen Monumentalbauten ausstrahlt. Die Rundgangsleitung muss diese Faszination jeweils an den passenden Stellen »brechen«.

Zwei Punkte sollen im Folgenden herausgegriffen werden, weil hier besonders deutlich über die Faszination durch den äußeren Schein gesprochen werden kann, aber dieser Faszination augenscheinlich auch entgegengewirkt werden kann. Der eine Ort ist die Zeppelintribüne, der andere der Innenhof der Kongresshalle.

Während einer bestimmten Rundgangsetappe stehen die Gruppen in der Mitte der Zeppelintribüne und blicken auf das Zeppelinfeld. Neben der Baugeschichte der Tribüne, sowie der Erläuterung der Veranstaltungen, die hier stattfanden, spielt auch der derzeitige bauliche Zustand eine Rolle. Er steht augenscheinlich gegen das Argument des »1000jährigen Reiches«: Die Tribüne verfällt, die Stufen sind marode, Gras sprießt zwischen den Stufen. Die jungen Menschen verstehen, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit ein großer Unterschied besteht. Dies belegen auch Befunde der erwähnten Studie, in denen Befragte auf diesen Kontrast hinweisen[24]. Das didaktische Potenzial dieses Ortes besteht auch in seinem baulichen Verfall, der den Besuchenden dazu verhilft, die wahrgenommene Inszenierung zu brechen und zu dekonstruieren.

Während des weiteren Rundgangs auf dem Weg von der Zeppelintribüne zur Kongresshalle ist deren Außenansicht mit der Granitfassade immer im Blick. Umso größer ist das Erstaunen, wenn man den Innenhof des unfertigen Gebäudes betritt, die rohen Ziegelsteinmauern sieht und begreift, dass sich der »schöne Schein« hier nicht fortsetzt. Es wird ein Blickwechsel ermöglicht, der die Inszenierung entlarvt. Man sieht im direkten Sinn hinter die Kulissen.[25] Der Kriegsbeginn hat die Fertigstellung vereitelt – die Kongresshalle wurde damit zum Symbol des Scheiterns des Nationalsozialismus, zum Symbol von Krieg und Massenmord. Dieser Blick hinter die Kulissen taucht auch im empirischen Befund der benannten Studie wiederholt auf, wie bereits dargestellt wurde.

Wesentlich ist es bei jedem Rundgang, auf die Eindrücke und Fragen der Gruppen einzugehen. Dabei gilt es, sie nicht nur auf die riesigen Dimensionen des ehemaligen Reichsparteitagsgelände aufmerksam zu machen, auf Faszination und Selbstinszenierung, sondern auch den Blick hinter die Kulissen immer zu lenken, um den Gruppen auch das Motto »Nie wieder!« deutlich zu machen.

 

Erhalt des didaktischen Potenzials

Es wurden eingangs die aktuellen Planungen zum ehemaligen Reichsparteitagsgelände vorgestellt. Welchen Einfluss können die beabsichtigten Veränderungen nun auf die Lernprozesse an diesem historischen Lernort haben?

Zunächst zur Weiterentwicklung des Zeppelinfeldes und seiner Tribüne: Einerseits erscheint es sinnvoll, diese wie geplant »trittfest« zu machen, um weiterhin zu gewährleisten, sich am historischen Ort aufhalten zu können. Nur so kann deren Potenzial für historisch-politische Bildung auch genutzt werden. Hierbei sollte andererseits aber darauf geachtet werden, die augenscheinliche Zeitlichkeit der Tribüne weiterhin wahrnehmbar zu machen, bestenfalls in einer Art und Weise, in der weiterhin sichtbar wird, dass der Ort bereits einsturzgefährdet war. Auf diese Weise kann weiterhin der Kontrast zwischen inszenatorischem Anspruch und baulicher Realität genutzt werden, um eine Distanzierung von den Tätern anzuregen.

Schließlich zum geplanten Umbau des Innenhofs der Kongresshalle: Wenn dieser umgebaut wird, um ihn einige Jahre lang für Opernaufführungen zu nutzen, ist davon auszugehen, dass der visuelle Eindruck des Innenhofs sich hierdurch verändern wird. Dies kann ebenso für weitere Maßnahmen gelten, die Kongresshalle vor allem künstlerisch weiter zu gestalten. Sämtliche im Innenhof der Halle entstehenden Bauwerke werden vermutlich von der Kulisse ablenken. Im schlechtesten Fall werden die Baufälligkeit, Unfertigkeit und der Kontrast zur Außenansicht nicht mehr ausreichend wahrnehmbar sein, um den ersten Eindruck der Außenansicht zu brechen und Besuchende des Lernorts anzuregen, die architektonische Inszenierung zu dekonstruieren. Dies würde bedeuten, dass der »Werbewirkung« der Kongresshalle für den NS auf der Wahrnehmungsebene nichts mehr entgegenstünde.

Es wäre für das didaktische Potenzial des Ortes wichtig, dass bei der Errichtung des vorübergehenden Opernspielortes darauf geachtet wird, den bisherigen Eindruck des Innenhofs nicht zu sehr zu stören. Zudem erscheint es wünschenswert, nach dem Wiedereinzug des Betriebs in das Opernhaus die Innenkulisse erneut didaktisch in idealer Weise nutzen zu können.

Es bleibt sehr zu hoffen, dass die Stadt Nürnberg die besonderen didaktischen Möglichkeiten, für die Auseinandersetzung mit Propaganda und das Lernen über den Nationalsozialismus, die sich ihr durch den historischen Ort bieten, nicht verspielt, sondern weiß, sie im Sinne der Verantwortung eines »Nie wieder!« zu nutzen.

 

 

Dr. Karl-Hermann Rechberg ist seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Praxisforschung und Evaluation an der Evangelischen Hochschule Nürnberg. Seine Dissertation, in der er sich mit empirischen Befunden zu Orientierungen von Lernprozessen am ehemaligen Reichsparteitagsgelände befasst hat, stellt die empirische Grundlage für den vorliegenden Artikel dar.

 

Dr. Anja Prölß-Kammerer ist seit 2001 Leiterin der Einrichtung DoKuPäd – Pädagogik rund um das Dokumentationszentrum beim Kreisjugendring Nürnberg-Stadt. Ihre Erfahrungen bezieht sie aus der täglichen Arbeit von DoKuPäd mit Jugendlichen in der historisch-politischen Bildung auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg.

 

[1]    Vgl. Schmidt, Alexander: »Nürnberg« – vom Stigma der besonders belasteten Stadt zum Imagefaktor Erinnerungskultur, in: Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium. Brechtken, Magnus (Hg.). Göttingen 2021. S. 282

 

[2]    Vgl. hierzu und im Folgenden unter anderem die öffentlichen Stadtrats und Kulturausschussunterlagen im Ratsinformationssystem der Stadt Nürnberg (https://online-service2.nuernberg.de/buergerinfo/info.asp): Stadtrat vom 6. 7. 2016: Nutzungs- und Vermittlungskonzept mit Schwerpunkt Zeppelintribüne/-feld als Bestandteil der Gesamtkostenberechnung einer baulichen Sicherung; Kulturausschuss vom 13. 3. 2020: Entwicklung Zeppelintribüne und Zeppelinfeld zum Lern- und Begegnungsort. Sachstandsbericht zum Projektstand und zu den Details des Vermittlungskonzepts; Kulturausschuss 9. 7. 2021: Bericht zum Projektstand Lern- und Begegnungsort Zeppelintribüne und Zeppelinfeld.

 

[3]    Zu weiteren Plänen der Nutzung der Kongresshalle vgl. Schmidt, Alexander, a.a.O., S. 273

 

[4]    Vgl. www.nuernberg.de/internet/nuernbergkultur/standort_ausweichspielstaette.html

 

[5]    Vgl. www.nuernberg.de/presse/mitteilungen/presse_81 471.html

 

[6]    Die stereotype Zuschreibung »Täter« (in Abgrenzung zu anderen Zuschreibungen wie »Opfer« oder »Zuschauer«) wurde gewählt, um die Personengruppe, die sich hier inszeniert, einprägsam zu beschreiben. Gemeint sind diejenigen Personen, die bewusst und gezielt an der Inszenierung und der damit verbundenen Indoktrination der Masse arbeiteten und damit die Verbrechen der Nationalsozialisten förderten. Differenziertere Darstellungen der Rollen von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus sind unter anderem zu finden bei Wolf Ritscher, Bildungsarbeit an den Orten nationalsozialistischen Terrors, Weinheim u.a. 2017.

 

[7]    Ralph Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung, Leverkusen 2014.

 

[8]    Karl-Hermann Rechberg, Täterschaft in der Gedenkstättenpädagogik, Wiesbaden 2020.

 

[9]    Vergleiche hierzu: Gottfried Kößler, Aura und Ordnung. In: Elke Gryglewski, Verena Haug, Gottfried Kößler, Thomas Lutz und Christian Schikorra (Hg.), Gedenkstättenpädagogik, Berlin 2015, S. 67–81. Sowie: Gedenkstättenrundbrief 103. Darin: Jörg Skriebeleit, Neue Unübersichtlichkeit? S. 3–10.

 

[10]  Der Begriff »Täterort« ist kontrovers diskutiert worden. Ein Überblick über den Diskurs ist in der oben genannten Untersuchung der Orientierungen am ehemaligen Reichsparteitagsgelände zu finden. Eine ideale Bezeichnung wurde bislang nicht gefunden. Daher wird im vorliegenden Artikel im Wissen um die für berechtigt erachtete Kritik der Begriff »Täterort« in Anführungszeichen verwendet.

 

[11]  Hans-Ernst Mittig, NS-Architektur für uns. In: Bernd Ogan und Wolfgang W. Weiß (Hg.), Faszination und Gewalt, Nürnberg 1992, S. 245–266. Mittig zeigt, dass insbesondere durch die Größe der NS-Bauwerke bei den Betrachtenden eine einschüchternde Wirkung entsteht. Diese sei ein Resultat aus dem Vergleich zwischen dem Bauwerk und der eigenen Körpergröße, den Besuchende intuitiv vornähmen.

 

[12]  Jana Jelitzki & Mirko Wetzel, Mirko, Über Täter und Täterinnen sprechen, Berlin 2010, S. 263.

 

[13]  Dazu: Geschichte für heute 15/2. Darin: Karl-Hermann Rechberg, Anhand von NS-Propaganda einen kritischen Umgang mit politischer Inszenierung einüben, S. 65–80. Sowie: Journal für politische Bildung 12/1. Darin: Karl-Hermann Rechberg, Politische Inszenierungen analysieren – am Beispiel der NS-Propaganda, S. 52–54.

 

[14]  Zitat der Gruppe Kresse aus dem Transkript »Ergebnis der Manipulation« (Zeile 26) im empirischen Material

 

[15]  Zitat der Gruppe Kümmel aus dem Transkript »Eingangspassage« (Zeile 60) im empirischen Material

 

[16]  Bernd Weidenmann, Psychische Prozesse beim Verstehen von Bildern, Bern u.a. 1988. Sowie: Bernd Weidenmann, Lernen mit Medien. In: Andreas Krapp und Bernd Weidenmann (Hg.), Pädagogische Psychologie, Weinheim u.a. 2006, S. 423–476.

 

[17]  Bernhardt, Markus, »Ich sehe was, was Du nicht siehst!«. In: Saskia Handro und Bernd Schönemann (Hg.), Visualität und Geschichte, Berlin 2011, S. 37–53. Sowie: Kristina Lange, Historisches Bildverstehen oder Wie lernen Schüler mit Bildquellen? Berlin, 2011.

 

[18]  Zitat der Gruppe Safran aus dem Transkript »Kolosseum« (Zeile 38) im empirischen Material

 

[19]  Zitate der Gruppe Safran aus dem Transkript »Kolosseum« (Zeilen 45 und 46) im empirischen Material

 

[20]  Zitate der Gruppe Safran aus dem Transkript »Kolosseum« (Zeile 51) im empirischen Material

 

[21]  Vgl. www.dokupaed.de

 

[22]  Konzeption »Pädagogik rund um das Dokumentationszentrum« vom 29. 4. 2011. Unveröffentlicht. Vgl. dazu auch Knigge, Volkhard: Zur Zukunft der Erinnerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. 25 – 26/2010. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.). Bonn 2010. S. 10 – 16

 

[23]  Vgl. auch Rechberg, Karl Hermann: Anhand von NS-Propaganda einen kritischen Umgang mit politischen Inszenierungen einüben, in: Geschichte für heute. Zeitschrift für historisch-politische Bildung. 15.Jg. 2/2022. Frankfurt a.M. 2022, S. 65

 

[24]  Vgl. Karl-Hermann Rechberg, Täterschaft in der Gedenkstättenpädagogik, Wiesbaden 2020, S. 126ff. und hier insbesondere das Transkript »Besonderer Moment« der Gruppe Muskat«

 

[25]  Vgl. ebd. S. 71