Anette Hettinger

47. bundesweites Gedenkstättenseminar: Schule und Gedenkstätten - Protokoll

Anette Hettinger.Historisches Lernen mit biografischem Material ..„’Täter – Opfer – Zuschauer’: NS-Geschichte in Lebensgeschichten“ war der Titel meines Seminars im Sommersemester 2006, dessen Ziel es war, an verschiedenen Biografien einen Einblick in die Gesellschaft des Holocaust zu geben sowie ihre Relevanz und die Einsatzmöglichkeiten von biografischem Material bei der Vermittlung historischen Wissens auszuloten. Als ich in der Abschlusssitzung den Studierenden die Frage stellte, welche der im Seminar vorgestellten Persönlichkeiten ihnen am eindrücklichsten in Erinnerung geblieben sei, nannte die große Mehrheit Inge Auerbacher. Inge Auerbacher, die als Kind zusammen mit ihren Eltern nach Theresienstadt deportiert worden war und über ihre Erfahrungen und Erlebnisse 1986 in den USA, dann 1990 in Deutschland das heute verbreitete Kinderbuch „Ich bin ein Stern“ veröffentlicht hat , war im Seminar zu Gast gewesen und hatte - in der ihr typischen leidenschaftlichen Art – aus ihrem Leben vor, im und nach dem Konzentrationslager Theresienstadt berichtet. Ebenso leidenschaftlich plädierte sie am Ende ihres Vortrags für ein friedliches Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe und unterstrich damit ihren Einsatz für Toleranz und Friedfertigkeit, für den sie schon mehrfach ausgezeichnet worden ist. Jemanden zu erleben, so die Studierenden, die schlimmste Erfahrungen machen musste, die auch ihr Leben „danach“ beeinflussten, daraus aber keine Anklage formuliert, sondern ihre Zuhörerinnen und Zuhörer zu Verständigung und Toleranz aufruft, hatte sie stark beeindruckt. – Eine Erfahrung, die viele Jugendliche und Erwachsene in der Begegnung mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gemacht haben, die aber nicht mehr allzu häufig sein dürfte. Dass wir am Beispiel von Inge Auerbacher in der nachfolgenden Sitzung die Glaubwürdigkeit von Zeitzeugenberichten quellenkritisch hinterfragten, hat an diesem nachhaltigen Eindruck nichts verändert..Die Arbeit mit und an Lebensgeschichten ist wohl in den allermeisten Gedenkstätten üblich, in der Schule ist sie nicht ganz so häufig. Der Wegfall der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen wird aber eine stärkere Konzentration auf deren schriftliche, in Ton- und Bildaufnahmen überlieferte mündliche und visuelle Hinterlassenschaft erfordern. Es gilt daher, Zielsetzungen und Möglichkeiten des Umgangs mit diesem Quellenfundus und allgemein mit biografischem Material in Gedenkstätten, aber vor allem auch im schulischen Unterricht zum Nationalsozialismus stärker auszuloten. Die folgenden Ausführungen beruhen auf Erfahrungen aus Seminaren im Rahmen der Ausbildung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und besonders aus Seminaren für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die ich zusammen mit Dr. Helmut Rook seit mehreren Jahren in der Gedenkstätte Buchenwald durchführe. Ein wesentlicher Bestandteil der Seminare in Buchenwald, in denen die Erarbeitung von historischem Sachwissen zur NS-Zeit und die Auseinandersetzung mit dieser Epoche in ihrer Bedeutung für die Gegenwart gleichberechtigt neben der Vermittlung von didaktisch-methodischen Aspekten der Gedenkstättenarbeit mit Jugendlichen steht, ist historisches Lernen und Lehren an biografischen Beispielen. Denn konkrete Einzelschicksale stehen hier exemplarisch für das Schicksal bestimmter Opfer-, aber auch Täter- und Zuschauergruppen und verweisen auf thematische Aspekte und historische Zusammenhänge, in die sie eingebunden waren und die daran deutlich gemacht werden. Zudem können die zukünftigen Lehrkräfte das besonders üben, was ihnen erfahrungsgemäß anfangs besonders schwer fällt: Historische Zeugnisse jeglicher Art – seien es Text- oder Bildquellen oder historische Stätten – und inhaltliche Einzelaspekte einzubetten in größere thematische und historische Zusammenhänge, die daran exemplarisch und in didaktischer Reduktion aufgezeigt werden..Aber nicht nur für das Lernen mit biografischem Material bieten Gedenkstätten gute Möglichkeiten, sondern, darauf soll hier in aller Kürze hingewiesen werden, auch für historisches Lernen allgemein: In Gedenkstätten lassen sich sämtliche Bereiche thematisieren und üben, die eine moderne Geschichtsvermittlung ausmachen. Der authentische Ort mit seinen Überresten, die Anschauung ermöglichen, steht dabei sicherlich im Vordergrund, denn nicht nur in baden-württembergischen Bildungsplänen und Studienordnungen genießen außerschulische Lernorte einen hohen Stellenwert. Als Erinnerungsorte, als Denkmal, aber auch in ihren Ausstellungen zeigen Gedenkstätten gedeutete, auch inszenierte Geschichte; in ihren Archiven werden Quellen und andere Unterlagen gesammelt, gesichtet und ausgewertet – der Umgang mit Geschichte, mit den Institutionen und Ausprägungen der Geschichtskultur lässt sich hier erfassen und erörtern. Das sind genau die Bereiche, die im Mittelpunkt einer modernen Geschichtsvermittlung stehen, und die „Pfunde“, mit denen Gedenkstätten „wuchern“ können. .Im Folgenden sollen zunächst zwei Beispiele aus den oben genannten Seminaren Möglichkeiten des historischen Lernens mit biografischem Material zeigen. Danach werden die Zielsetzungen kurz vorgestellt, die mir bei der Vermittlung von NS-Geschichte besonders wichtig sind. Schließlich sind die Voraussetzungen, Vorzüge und Schwierigkeiten des biografischen Zugriffs anzusprechen...Beispiele historischen Lernens mit biografischen Zeugnissen.Im Seminar „Nationalsozialistische Vernichtungspolitik“, das der Vorbereitung der Projektwoche und Exkursion nach Buchenwald im Herbst 2006 diente, beschäftigten wir uns mit den beruflichen und persönlichen Lebensstationen einzelner Mitglieder der deutschjüdischen Familie Oppenheimer aus Heidelberg, die dem wirtschaftlich erfolgreichen Großbürgertum der Stadt zuzurechnen war, durch NS-Verfolgung und Vernichtung aber zum großen Teil ausgelöscht wurde. Ein Student berichtete dabei anhand der Sekundärliteratur, die durch die gemeinsame Quellenarbeit an privaten Briefen der Familie ergänzt wurde, vom Schulausschluss der Söhne Hans und Max, vom Verlust der Firma und des Hauses aufgrund von Arisierungsmaßnahmen, von der Verhaftung des Vaters und des ältesten Sohnes Max nach dem Pogrom vom November 1938 und von ihrem Aufenthalt im Konzentrationslager Dachau, dann vom erzwungenen Umzug ins sog. Judenhaus, von ihrer Deportation, schließlich dem Tod des Vaters in Auschwitz, dem von Hans in Buchenwald. Damit waren exemplarisch viele NS-Verfolgungsmaßnahmen gegenüber der jüdischen Bevölkerung am konkreten biografischen Beispiel benannt worden, ihr Einfluss auf das Alltagsleben und die Lebensumstände der Betroffenen war deutlich geworden – diese Einzelerfahrungen mussten nur noch systematisiert und in den Zusammenhang mit der allgemeinen Entwicklung gestellt werden. Zudem hatte der Referent die konkreten Orte vorgestellt, in denen die Familie lebte und die wir bei einem nachfolgenden Stadtrundgang aufsuchten; den Zuhörerinnen und Zuhörern wurde damit eine zusätzliche, im räumlich Bekannten verankerte Vorstellungswelt eröffnet. Ein Nachruf, der im März 2005 zum 60. Todestag von Hans Oppenheimer in der örtlichen Tageszeitung erschienen war , führte zur Frage der Bedeutung von Erinnerung und Gedenken in unserer Gegenwart und zum Nachdenken über den eigenen Anteil daran. Schließlich bildete sich in Buchenwald eine Gruppe von Studierenden, die dem Leben von Hans weiter folgte. Der archivalische Ertrag war zwar in den Augen der Studierenden zuerst enttäuschend – Hans Oppenheimers Name erschien gerade mal auf einer Transportliste aus Auschwitz und der sog., täglich erstellten „Veränderungsmeldung“, die seinen und den Tod von 121 weiteren Häftlingen am 18. März 1945 dokumentierte. Doch deren genaue Interpretation ergab Hinweise auf die Klassifikation der Häftlinge nach NS-Rassekriterien (also auch der Hans Oppenheimer zugeschriebenen), auf den Ort seiner Unterbringung, auf die Herkunft der Häftlingsgesellschaft aus ganz Europa, auf die Krankheiten im Lager und die möglichen Todesursachen, auf die Überbelegung. Die Recherche in der Ausstellung und in der Literatur lieferte ergänzende Nachrichten zum Leben im Lager, die Besichtigung der Überreste oder vielmehr des Ortes, wo sich das Kleine Lager befand, in dem Hans untergebracht war, brachte die räumliche Vorstellung. Hans Oppenheimer wurde zwar nicht „persönlich“, nicht mehr als Individuum fassbar, aber in den schlimmen Lebensverhältnissen seiner letzten Lebenswochen..Seine Lebensgeschichte stand damit exemplarisch für viele andere und vor allem für die übergeordneten Themen: NS-Verfolgung und NS-Vernichtung insbesondere der letzten Kriegsmonate; sie stand zudem für den konkreten Ort des Kleinen Lagers in Buchenwald mit seinen schrecklichen Lebens- bzw. Todesbedingungen. In der Präsentation der Rechercheergebnisse, die aus einer Kombination von Spielszenen und Vortrag mit Quellenanalyse (der vorgefundenen Listen) bestand, gelang es den Studierenden, das konkrete Einzelschicksal des Hans Oppenheimer, die Zustände im Lager und den allgemeinen Rahmen der NS-Rasseideologie aufeinander zu beziehen..Das Beispiel zeigt eine methodische Möglichkeit des Umgangs mit lebensgeschichtlichem Material, die als „Lebensgeschichte als Leitmotiv“ bezeichnet werden kann: Hierbei begleitet die Lebensgeschichte einer Person oder auch, wie hier, die einer Familie die gesamte Arbeit am Thema und konkretisiert die allgemeine Entwicklung. Wichtig ist dabei der Bezug zum konkreten Ort: Denn dieser hilft, die historische Imagination zu fördern und die zuallererst unanschauliche Geschichte zu verräumlichen. Wichtig ist auch, die Studierenden anzuhalten, wenige, aber für ihr Thema aussagekräftige historische Zeugnisse – wenn möglich sogar nur eines – für die Präsentation im Seminar oder in ihrer Hausarbeit auszuwählen und diese in ihrem Bezug auf die allgemeinen Entwicklungen und Hintergründe vorzustellen. .Ein weiteres Beispiel soll hier angeführt werden, das in methodischer Hinsicht ebenfalls „Lebensgeschichte + Thema + Ort“ verbindet – der „Ort“ fällt weg, sobald das Thema nicht vor Ort, sondern im Seminar oder schulischen Unterricht behandelt wird. Bei den Recherchen und Führungen in Buchenwald stoßen die Studierenden regelmäßig auf das Thema Zwangsprostitution, dessen Bearbeitung und Vertiefung im Rahmen der für alle verpflichtenden Themenarbeit schließlich in einer Kleingruppe geleistet wird. Der Bericht der Margarete W., einer Betroffenen, über ihr Leben als Zwangsprostituierte im Lager und ihre Erfahrungen nach Ende der NS-Zeit, sowie die entsprechende Literatur und Ausstellungsteile liegen der Kleingruppenarbeit zu diesem Thema zugrunde ; Foto und Standort des ehemaligen Lagerbordells auf dem Gelände der Gedenkstätte geben die räumliche Vorstellung. Der persönliche Bericht der Betroffenen dient so der emotionalen Annäherung und liefert erste Kenntnisse zum Thema Zwangsprostitution aus der späteren Perspektive der Betroffenen, doch erst die Beschäftigung mit den Hintergründen und der SS-Perspektive auf der Grundlage weiterer Literatur und zusätzlichem Quellenmaterial ermöglicht die Einordnung derartiger Vorgänge in ihren historischen Kontext. Zwangsprostitution wurde eben nicht nur persönlich als Missbrauch erfahren, sondern diente als ein Mosaikstein des SS-Systems, als Ausdruck einer perfiden, menschenverachtenden Ideologie. Der Einzelfall der Margarete W. verweist damit auf eine umfassendere Thematik, er steht exemplarisch für SS-Terror und Menschenverachtung; Zwangsprostitution war nur ein Teil davon. Dies zu verdeutlichen gelang einer Gruppe von Studentinnen, die am Seminar im Herbst 2006 teilnahmen, in einer eindrücklichen Präsentation, indem sie in einer szenischen Lesung Passagen der Erinnerungen der Margarete W. und einer weiteren Frau, die im SS-Bordell außerhalb des eigentlichen Lagers in Buchenwald arbeiten musste, mit Texten zur NS-Ideologie und mit SS-Anweisungen kontrastierten. Sie hatten ihr Thema dadurch umfassend und gleichzeitig anschaulich-konkret vorgestellt; gleichzeitig war ihnen am Beispiel die Umsetzung einer der grundsätzlichen Forderungen historischen Lernens, dem nach Multiperspektivität, gelungen. ..Zielsetzungen der Arbeit an biografischem Material.Die Arbeit mit biografischem Material ist vor dem Hintergrund des anstehenden Paradigmenwechsels (Wegfall der Zeitzeuginnen und -zeugen, zeitliche Distanz der Schülerinnen und Schüler wie der jungen Lehrkräfte zur NS-Zeit, heterogene, vor allem multiethische Gruppen, zunehmende Historisierung bzw. Enthistorisierung des Holocaust) und in Zusammenhang mit den Zielsetzungen zu sehen, die ich als besonders wichtig für die schulische wie außerschulische Vermittlung des Themas Nationalsozialismus und insbesondere des Holocaust erachte. Es sind Ziele einer historisch-politischen Bildung, die sich als Erziehung zur Demokratie versteht. Sie sollen hier allerdings nur angeführt, nicht vertiefend diskutiert werden:.1. Historisches Lernen zu Nationalsozialismus und Holocaust sollte auf die Wiederherstellung der individuellen Identität der Opfer zielen: Denn die Opfer waren Individuen – wer sie beispielsweise in Schulbüchern und Dokumentationen nur als Unbekannte unter Millionen anderen Opfern nennt, entwürdigt sie ein weiteres Mal...2. geht es um die Mechanismen des Mitmachens oder nicht Mitmachens auch in alltäglichen Situationen, um die Mechanismen, die die Durchsetzung und den Aufbau der nationalsozialistischen Diktatur und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft bewirkten, die die „Formierung der Gesellschaft“ nach Peter Longerich begünstigten und zum Holocaust führten. Damit werden der Weg zum Holocaust und die Bedingungen, die ihn ermöglichten, in den Mittelpunkt der Vermittlungsarbeit gerückt, nicht seine schrecklichen Resultate – denn aus der Kenntnis des Leidens und Grauens, durch Erschrecken allein hat man noch nichts gelernt...3. Geschichtsvermittlung zu Nationalsozialismus und Holocaust sollte die Reaktionen und die Mitwirkung der sogenannten Täter und Zuschauer stärker beachten und die Aussagen zu angeblichem Befehlsnotstand und solche Sätze wie „Das haben wir nicht gewusst!“ stärker hinterfragen. Gerade in dem Land, von dem die nationalsozialistischen Verbrechen ausgingen, ist das wichtig. Pauschalisierungen und Schwarzweißmalerei sind dabei zu vermeiden. ..4. ist es von Bedeutung, die „gewöhnlichen“ Männer und Frauen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu stellen. Nur dann, wenn Schicksale „lebbar“ sind, wenn Jugendliche und auch Erwachsene mit diesen „ins Gespräch kommen“ können, ist demokratisches Lernen möglich; denn erst dann kann man Handlungsspielräume erfassen und über individuelle Verantwortung, die auch dem damaligen „Normalbürger“ und der damaligen „Normalbürgerin“ zugeschrieben werden kann, nachdenken. .Schon gar nicht sollten die Entscheidungsträger des Dritten Reiches und vor allem Hitler selbst in den Vordergrund gerückt werden. Einer „Hitlerzentriertheit“, wie sie in Fernsehdokumentationen, in Schulbüchern und Sachtexten, aber auch in der wissenschaftlichen Literatur noch immer zu finden ist, sollte nicht weiter Vorschub geleistet werden. Dies dient dazu, den Normalbürger und die Normalbürgerin von einer Verantwortung frei zu sprechen, und unterschätzt die Handlungsmöglichkeiten selbst in einer Diktatur. ..5. ist die Auseinandersetzung mit den Weiter- und Nachwirkungen der NS-Zeit nach 1945 bis heute wichtig, auch weil diese Zeit die geschichtspolitische Diskussion in der Bundesrepublik bestimmt. ..6. Wichtig ist das Wissen um den konstruierten Charakter von Geschichte, die auf der Perspektivität von Text- und Bildquellen wie der wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Erzählung über die Vergangenheit beruht. Geschichte wird gemacht, sie entsteht im Kopf durch Verarbeitung von Vergangenheit – und das lässt sich ganz besonders gut an autobiografischen Darstellungen zeigen. ..Voraussetzungen, Vorzüge und Schwierigkeiten des biografischen Zugriffs.Aus den bisher gemachten Erfahrungen zum historischen Lernen an Lebensgeschichten und mit biografischem Material lassen sich die folgenden Voraussetzungen ableiten: .- Das lebensgeschichtliche Beispiel sollte aus dem Kreis der „gewöhnlichen“ Männer und Frauen genommen werden. Ihr Schicksal lässt sich an allen nur erdenklichen Quellenzeugnissen aufzeigen; .- eine aussagekräftige Quelle, die in den Mittelpunkt der Bearbeitung durch Lernende/Studierende gestellt wird, unterstützt das exemplarische Vorgehen;.- Lebensgeschichte wie Quelle müssen auf einen inhaltlichen Komplex verweisen; im Schicksal der Einzelperson soll sich dieses übergeordnete Thema spiegeln. .- Der damit verbundene Ort erfüllt die Funktion zusätzlicher Konkretisierung und Veranschaulichung...Vorzüge und Schwierigkeiten dieses Zugriffs sind in den folgenden Aspekten zu sehen: .1. Veranschaulichung und Konkretisierung .Biografische Unterlagen veranschaulichen und konkretisieren die historischen Bedingungen: Dem unermesslichen Leid, dem Grauen, das der Holocaust hervorrief, werden Gesichter gegeben, die Opfer, aber auch die sog. Täter und Zuschauer zeigen sich (wieder) als Individuen. Indem konkrete menschliche Schicksale im Vordergrund stehen, wird die historische Situation leichter nachvollziehbar, aber auch spannender. ..2. Der emotionale Zugang, Empathie.Insbesondere autobiografische Lebensberichte ermöglichen aufgrund ihrer Eindringlichkeit Empathie: Leser und Leserinnen bzw. Zuhörerinnen und Zuhörer können sich ein- und mitfühlen. Zudem können sie zu Wut, Kopfschütteln und Empörung führen – und dies ist der Antrieb für die Beschäftigung mit dem „System“, mit den allgemeinen Entwicklungen und mit den Mechanismen, die das damalige Handeln hervorrief. .Die Auswahl der Personen, die von den Studierenden in den Seminaren in den Mittelpunkt ihrer Recherche gestellt werden, erfolgt zum Teil aufgrund eines besonderen emotionalen Bezugs: Alter, Geschlecht, aber auch das Äußere und das Tun der ausgewählten Menschen spielen offensichtlich eine Rolle. Zum einen sind es die Schicksale von Kindern im Konzentrationslager, deren Schutzbedürftigkeit und Ausgeliefertsein besonders ansprechen. Junge Erwachsene wie Hans Oppenheimer, dessen Lebensweg bereits angesprochen wurde, oder Otto Schmidt, einem Sinto, der 1942 als nur 24jähriger in Buchenwald ermordet wurde, erscheinen ebenso attraktiv – in einem wörtlichen Sinn: denn nicht nur das Alter, auch das Aussehen – das überlieferte Foto von Otto Schmidt zeigt einen sehr attraktiven jungen Mann – scheint eine Rolle bei der Wahl des biografischen Beispiels zu spielen. Das Thema Zwangsprostitution am biografischen Beispiel wird regelmäßig von Studentinnen gewählt; die Empörung über sexuelle Nötigung und Gewalt, die Geschlechtsgenossinnen angetan wurden, ist in diesem Fall wohl ausschlaggebend...3. Sekundäre Lebenserfahrung.Die Subjektivität der (auto)biografischen Zeugnisse, ihre doch eingeschränkte Sicht auf die Welt ermöglicht sekundäre Lebenserfahrung: Das Denken und Tun anderer Menschen, deren vergangene Erfahrungen lassen sich auf die eigene Lebensgeschichte beziehen, da es sich in beiden Fällen grundsätzlich um menschliches Tun handelt. Voraussetzung für das Erfassen der historischen Situation ist allerdings, dass ausreichend Material zur Verfügung steht, das die Zeit wie die Person der Vergangenheit beleuchtet. Denn eine Beurteilung der vergangenen Situation und ihrer Handlungsmomente erfolgt sonst vor dem Hintergrund der Gegenwart, der Mentalität der heute Lebenden und ihrer Handlungsmöglichkeiten. ..4. Exemplarität und Kontextualisierung.Bei der Kontextualisierung der subjektiven Erfahrung und der Einbettung des individuellen Lebens in den gesamtgeschichtlichen allgemeinen Zusammenhang, in sein soziales, politisches, familiäres oder wirtschaftliches Umfeld zeigen sich, wie bereits erwähnt, erfahrungsgemäß die größten Schwierigkeiten für die Studierenden; für Lehrende ist die Arbeit mit biografischem Material unter Umständen ein Zeitproblem. Eine Lebensgeschichte muss daher die folgenden Voraussetzungen erfüllen, wenn an ihr exemplarisch allgemeine Lebensbedingungen und Entwicklungen aufgezeigt werden sollen; erst dann ist ihr ein „Verweischarakter“ zuzuschreiben, so dass sie sich in der historischen Vermittlungsarbeit eignet:.- Unabdingbare Voraussetzung ist zum einen, dass genügend Quellen- und sonstiges Material vorliegt, das dieses Leben beschreibt. Eine Person, von der es nur wenige Zeugnisse gibt, eignet sich (im Normalfall) nicht..- Die allgemeine Entwicklung sollte sich als Erfahrungsgeschichte in den Selbstzeugnissen spiegeln. Den Lernenden muss es möglich sein, z.B. die generellen Schritte der Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung am konkreten Beispiel abzuleiten (um sie später auf andere lebensgeschichtliche Beispiele übertragen zu können). Doch müssen daran auch die konkreten Auswirkungen für den Alltag des Individuums nachvollziehbar werden. Die allgemeine gesellschaftliche Perspektive muss sich im Individuellen spiegeln. Hierzu gehören auch generationelle Erfahrungen, die am konkreten Beispiel aufgezeigt werden können..- Das biografische Beispiel bzw. die biografischen Materialien sollten auf ein „Thema“, zusätzlich wenn möglich auch auf einen Ort, verweisen; sie sind Fallbeispiele, an denen allgemeine Entwicklungen und Verhältnisse aufgezeigt werden: das Leben des Hans Oppenheimer steht für die Stationen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik, im engeren Sinn aber auch für die Lebensverhältnisse im Kleinen Lager in Buchenwald kurz vor der Befreiung. ..Die Beschäftigung mit einer Lebensgeschichte und deren Kontextualisierung setzt zwei Dinge voraus: Lehrende und Lernende müssen sich viel Wissen erarbeiten, um die individuelle Geschichte in der Gesamtgeschichte zu verorten. Dafür braucht man viel Zeit: Dies bedeutet, dass auf projektorientierte Methoden zurückzugreifen ist, im schulischen Unterricht, in Seminaren an der Hochschule und in der Gedenkstättenarbeit. .Mit einem solchen Vorgehen wird die konkrete Lebensgeschichte zu einem Instrument , an der man – bezogen auf die NS-Zeit – Zielsetzungen und Stationen von Verfolgung und Vernichtung der Opfergruppen und besonders die Mechanismen dieser Verfolgung konkret aufzeigen kann, an der man aber auch die möglichen Reaktionen der Opfer, ihren Aktionsradius und ihre Handlungsspielräume nachvollziehen kann. – Dies gilt selbstverständlich auch für die Lebensgeschichten von sogenannten Tätern wie Zuschauern; in ihrem Fall muss, wie bei der historiografischen Beschreibung eines individuellen Lebens, deren „notwendige Einordnung ... in das Gefüge des totalitären Verbrecherstaates und die Bestimmung der individuellen Verantwortlichkeiten“ (Michael Kißener) gewährleistet sein....5. Multiperspektivität .Die Forderung nach Multiperspektivität bei der Arbeit mit biografischem Material leitet sich ab aus der vorgestellten Forderung nach Exemplarität. Denn Charakteristikum insbesondere von autobiografischen Berichten ist ihre Monoperspektivität: Geschichte wird hier erzählt aus der Perspektive eines einzelnen, mit seiner inhärenten ausschnitthaften Sicht auf die Vorgänge und Entwicklungen, mit seinen Interpretationen. Es ist deshalb nötig, auch die „andere Seite“ mitzubedenken, die der Gesellschaft, des sozialen Umfeldes einschließlich der sogenannten Täter in der entsprechenden Zeit; diese „andere Seite“, die eine weitere Perspektive auf einen Sachverhalt eröffnet, indem z.B. die Reaktionen der Mitmenschen beschrieben werden, muss sich daher in den verwendeten Materialien niedergeschlagen haben. Auch zusätzliches Material dient diesem Zweck. So wir der Stellenwert des ausgewählten, aus einer bestimmten Perspektive geschilderten Sachverhaltes im Gesamtzusammenhang relativiert. Das oben angeführte Beispiel der Zwangsprostitution in Buchenwald kann hier als Beispiel dienen...6. Handlungsspielräume und individuelle Verantwortung .Nicht nur, weil wir – Studierende wie Lehrende – Nachfahren der Gesellschaft sind, aus der heraus Verfolgung und Vernichtung geplant und ausgeführt wurden, ist es ein unbedingtes Muss, sich auch mit den Tätern und mit den Gaffern, den bystanders auseinanderzusetzen: Dies ist auch im Sinne einer historisch-politischen Bildung nötig, die sich demokratisches Lernen und Lernen für die Demokratie auf die Fahnen geschrieben hat. Dazu ist es wichtig, den möglichen individuellen Beitrag eines jeden für das Funktionieren eines Systems – der Diktatur und natürlich auch der Demokratie – auszuloten. Möglichkeiten sind aufzuzeigen, sich in die Gesellschaft einzubringen, insbesondere Handlungsspielräume und Entscheidungszusammenhänge müssen aufgezeigt werden. Geschichte sollte nicht als eindeutiger Weg und als Einbahnstraße betrachtet werden; vielmehr als Weg mit vielen Wegkreuzungen und –gabelungen. Dann ist es auch möglich, Rückschlüsse auf das eigene Leben und die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu ziehen. .Dazu eignet sich die Auseinandersetzung mit Entscheidungssituationen, die einzelne und Gruppen bzw. einzelne in der Gruppe mit der Entscheidung des Mitmachens konfrontiert, vor allem auch die Konfrontation mit Moraldilemmata. Daran lassen sich die Mechanismen, die zum Mitmachen, Abseitsstehen oder auch Widerstehen in alltäglichen Situationen geführt haben, diskutieren. Beispiele finden sich hierfür in der Literatur und in biografischen Zeugnissen genug: so die Beteiligung am Boykott jüdischer Geschäfte 1933; die Pflege des sozialen Umgangs mit den jüdischen Nachbarn oder den separierten Zwangsarbeitern. .Nur exemplarisch genannt werden sollen hier die Ingenieure von Topf & Söhne, den Konstrukteuren der Krematoriumsöfen in Buchenwald und Auschwitz, deren Tun die Frage nach der Verantwortung der „Rädchen im Getriebe“ stellt und zur Diskussion über die Bedeutung wirtschaftlichen Profitdenkens und wissenschaftlich-technischen Ehrgeizes auffordert. ..7. Geschichte als Konstrukt .Als eine besonders wichtige Zielsetzung historischen Lernens ist das Wissen um den konstruierten Charakter von Geschichte zu sehen, die auf der Perspektivität von Text- und Bildquellen wie der wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Erzählung über die Vergangenheit beruht. Geschichte wird gemacht, sie entsteht im Kopf durch Verarbeitung von Vergangenheit – und das lässt sich ganz besonders gut an autobiografischen Darstellungen und den Berichten von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zeigen. Denn obwohl diese als „natürliche Feinde der Historiker“ (Harald Welzer) gelten können, sind sie doch Verbündete in der Geschichtsvermittlung..Die unbedingte Notwendigkeit quellenkritischen Arbeitens bei autobiografischen Berichten, Zeitzeugenberichten und anderen Selbstzeugnissen ist ein mit Schülerinnen und Schülern (und mit Studierenden) aufwändiger Prozess – doch ist dies durchaus auch als Chance für das historische Lernen anzusehen: Denn vor allem Kinder, viele Jugendliche und wohl auch Erwachsene nehmen das, was ihnen von den Bürgen der Vergangenheit erzählt wird, gerne als bare Münze. Danach zu fragen, was die Erzählung eines Zeitgenossen bestimmt hat, welche Einflüsse gerade auf diese Rekonstruktion der Vergangenheit eingewirkt haben könnte, ist höchst spannend und fördert den reflektierten Umgang mit Geschichtsbildern und die Erkenntnis, dass historische wie auch gegenwärtige Situationen höchst komplex und ihre Wahrnehmung subjektiv geprägt sind. Die Subjektivität, die insbesondere der autobiografischen Darstellung und jedem individuellen Erinnerungsdokument zugrunde liegt, sollte auch als Chance historischen Lernens begriffen werden. ..8. Immer wenn und wo möglich: die konkrete Verortung des Einzelschicksals.Der historische Ort, der Ort, wo die Einzelperson gelebt, gearbeitet oder auch gelitten hat, wird bei der Beschäftigung mit Lebensgeschichten zur Quelle: Zur Quelle für die damaligen Lebensumstände, für die Rekonstruktion vergangenen Geschehens. Auch wenn wir meist davon ausgehen müssen, dass dieser Ort seither verändert wurde, fördert seine Anschaulichkeit und Konkretheit die historische Imagination – und die Motivation, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen. Am konkreten Ort treffen Vergangenheit und Gegenwart aufeinander: nicht nur weil dieser durch Menschenhand oder natürliche Entwicklung in Aussehen und/oder Zweck verändert wurde, sondern auch durch Berichte der Personen, die an diesem Ort einst gelitten haben oder handelten. Vor Ort gelesen und gehört machen sie „Geschichte“ vorstellbarer, vergangene Vorgänge rücken denjenigen, die sie erforschen, nahe. Die viel beschriebene „Aura“ des Ortes wirkt noch deutlicher mit den Zeugnissen der konkreten Menschen, die hier vor Ort waren...