30 Jahre Platz des Unsichtbaren Mahnmals in Saarbrücken

12/2023Gedenkstättenrundbrief 112, S. 21-31
Sabine Graf

Am 23. Mai 1993 wurde das Mahnmal »2146 Steine – Mahnmal gegen Rassismus« auf dem Saarbrücker Schlossplatz eingeweiht. Seitdem heißt der Platz auch »Platz des Unsichtbaren Mahnmals«.

Zwischen den 8000 Pflastersteinen der Auffahrt zum Schloss befanden sich 2146 Steine, auf deren Unterseite die Namen der bis 1933 in Deutschland existierenden jüdischen Friedhöfe eingemeißelt waren. Es war und ist ein Denkmal, das man nicht sieht. Dazu war es eines, an dem zuerst heimlich, genauer: illegal gearbeitet wurde und das erst, als es bereits viel Raum eingenommen hatte, durch den politischen Willen bestätigt und zum offiziellen Projekt gemacht worden war. Dieses Mahnmal unterschied sich grundlegend von den damals im Saarland vorhandenen Denkmalen, denn es bezog sich auf das Erinnern als Vorgang. Es war eine Aufforderung, über etwas zu sprechen, das man nicht sieht. Die Frage war und ist jedoch, was darüber erzählt und wie sich des Mahnmals und seiner Entstehung erinnert wird.

Das Projekt: Ein Spiegel der 1990er-Jahre im Saarland

Die Geschichte vom »Platz des Unsichtbaren Mahnmals« beginnt mit dem Antritt des international angesehenen Konzeptkünstlers Jochen Gerz, Teilnehmer der documenta 6 und 8, als Gastprofessor an der im November 1989 eröffneten Hochschule der Bildenden Künste Saar. Das Saarland sollte damit als Standort der Kunst, vorzugsweise der internationalen, wahrgenommen werden. Das wurde in der Öffentlichkeit verstanden und in der Saarbrücker Zeitung vom 4./5. Juli 1987 begrüßt: »Mit der Einrichtung der neuen Hochschule ergibt sich die große Chance, renommierte Künstler an Saarbrücken zu binden, die durch Werk und Lehre zu einer Neubelebung des hiesigen kulturellen Klimas beitragen könnten. […] Nach außen könnte sich Saarbrücken und damit das Saarland in völlig neuer Weise ins Gespräch bringen, im besten Fall als ein Markstein in Sachen Kunst, an dem der Weg nicht mehr vorbeiführt.« Die Bedeutung der Gastprofessur wurde dabei erkannt: »Das heißt Künstlern, die für eine befristete Zeit hier mit Studenten arbeiten und möglichst auch ein Kunstwerk hinterlassen. Da könnten attraktive Namen auf Saarbrücken aufmerksam machen.«[1]

Kurze Wege als »Maxime des politischen und administrativen Handelns«:
Eine neue Imagekampagne für das Saarland

Die Gründung der Hochschule der Bildenden Künste Saar sollte weithin sichtbar machen, dass das Saarland nicht länger nur ein Land von Kohle und Stahl ist, sondern ein modernes Industrieland mit kreativem Potenzial und voller Innovationen, mitten in Europa gelegen. Die Gründung des Historischen Museums Saar, damals noch Regionalgeschichtliches Museum und die Hochschule der Bildenden Künste Saar öffneten fast zeitgleich und verkörperten ideal diesen neuen Ansatz, der sich auch geschichtsbewusst zeigte: »Einerseits bedeutete dieser Kurs eine Geste der Wiedergutmachung und ein Lindern der Verletzungen der Geschichte, zum anderen ging es auch um das Marketing einer Region im vereinten Europa.«[2] Hier kam zusammen, was zusammengehören sollte: Geschichte, Gegenwart und obendrein die Kunst als Marketing- und Imageinstrument.

Dazu zählten auch die viel beschworenen »kurzen Wege« im kleinen Saarland, in dem jeder jeden kennt und dies zu nutzen versteht. Dieser »kurze Weg« erwies sich in der Vorbereitung des »Platzes des Unsichtbaren Mahnmals« als Erfolgsspur. Dieses Projekt bezeugte eine saarländische Version des Netzwerkens, das nicht nur dessen Erfolg garantierte, sondern auch zeigte, wie sehr dieses Projekt ein Produkt seiner Zeit war. Ohne die enge Verbindung der Kunsthochschule und Jochen Gerz mit dem damaligen Leiter der Stadtgalerie Saarbrücken und vor allem beider mit Dr. Kurt Bohr, zuerst Verwaltungsdezernent der Stadt Saarbrücken, nach dem Regierungswechsel 1985 Bildungsstaatssekretär und ab 1990 Chef der Staatskanzlei, wäre es nie zustande gekommen. Allein der unbedingte politische Wille hat das Projekt möglich gemacht.

Ein »untraditionelles Projekt« –
Ein Konzept vom Pragmatismus geformt

Die Existenz des Projektes verdankt sich jedoch vor allem der Kommunikationsleistungen der Studierenden. Sie schrieben Briefe an die jüdischen Gemeinden, baten um die Namen der Gemeindefriedhöfe, und entnahmen nachts heimlich Steine vom Schlossplatz. Sie gaben deren Beschriftung mit den Friedhofsnamen in Auftrag, legten Listen mit den Namen der Friedhöfe an und übernahmen, nachdem das Projekt offiziell geworden war, gemeinsam mit einer von Gerz als Lehrbeauftragten bestallten Fernsehjournalistin die Öffentlichkeitsarbeit. Auch hier bezeugt das Projekt Pragmatismus. In einer fatalen Version eines »Embedded Journalism« fertigte diese auch gleich den entsprechenden Beitrag für ein regionales Kulturmagazin an, der am 3. Januar 1992 gesendet wurde. Freilich gilt das Projekt, das die Namen aller jüdischen Friedhöfe verzeichnete, die es bis 1933 auf deutschem Boden gab, vor allem als Arbeit von Jochen Gerz.

Das Projekt folgte einem Plan, der jedoch, wie die hinterlassenen Unterlagen zeigen, erst nach und nach seine Form fand. Die Aufgabe, der sich die acht Studierenden der sogenannten »Gruppe Mahnmal« stellten, bestand darin, es auszufüllen und ihm eine Richtung zu geben. Denn Jochen Gerz war über längere Zeiträume nicht in Saarbrücken, sondern hatte zeitgleich weitere Gastprofessuren und war als Künstler in Ausstellungsprojekte eingebunden. Gerz, der die Linie des Projektes festlegte, machte die entscheidenden Vorgaben: »Umdrehen«, erinnert sich Daniel Funke, einer der ehemaligen Studierenden.[3] Damit war gemeint, die mit den Namen jüdischer Friedhöfe versehenen Steine mit der Schriftseite nach unten zu verlegen.

Vor allem galt es, das Vorhaben geheim zu halten. »Die Tür zumachen«, lautete eine weitere Empfehlung von Jochen Gerz. Hinter der Tür stand keine Staffelei, sondern hier standen ein Fax, ein Telefon – Email und Internet gab es noch nicht – und ein Computer, erinnert auch das Mitglied der Studierendengruppe, Martin Blanke: »Der erste Mac stand bei uns.«[4] Denn »das Projekt bestand aus der Arbeit im Geheimen, aus Überzeugungsarbeit und Öffentlichkeitsarbeit, die ich für die Wichtigste halte«, fasste Daniel Funke das Projekt in einem Beitrag im »Kulturspiegel« im SR Fernsehen vom 3. Januar 1992 zusammen. Es ging darum, Briefe zu schreiben und zu telefonieren, Tabellen anzulegen und vor allem den jüdischen Gemeinden ein »untraditionelles Projekt« zu erklären. Der erste erhaltene Brief ging am 25. Mai 1990[5] an den Berliner Kunstwissenschaftler Jochen Spielmann[6], der damals als einer der ersten über Zeitgenössische Kunst in der Gedenkkultur publiziert hatte. Er sollte daher auf Bitten der Studierenden ein »symbolischer Bürge« für das Projekt sein, wenn es darum ging, dafür bei den jüdischen Gemeinden zu werben. Seine gezielten Rückfragen trugen schließlich dazu bei, dass das Projekt sein Thema und seine Form fand.

Ursprünglich war ein »Platz der Vereinigung« mit der Vergangenheit vorgesehen. Darauf hätten Teile von Grabsteinen verlegt werden sollen, wie einer der Studierende in die Beratungen einbrachte. Doch im Zuge der Beschäftigung mit dem Thema Jüdischer Friedhof wurde den Studierenden bewusst, dass diese für die Ewigkeit angelegt und nie aufgegeben werden. Daher können von dort auch keine Steine entnommen und verlegt werden. Eine weitere Planänderung betraf die Beschriftung der Steine. Sie sollten entnommen und dann mit der Post den Gemeinden zugesandt werden. Dort sollte ein Steinmetz die Namen der Gemeindefriedhöfe einmeißeln. Von dort wäre die Sendung wieder zurück nach Saarbrücken gegangen. Diesen Plan gab die Gruppe sehr schnell auf. Denn das wäre eine logistische Herausforderung für die meist älteren Gemeindemitglieder gewesen, die darum gebeten wurden. Daher erfragte die Gruppe die Namen der Friedhöfe und bekam sie auch, nachdem die Studierenden ihr Anliegen erklärt hatten. Das Einmeißeln übernahmen in Saarbrücken zwei Steinmetze.

Das auf einem Konzept des Gedenkens als Vorgang im Kopf gründende Projekt hatte zugleich eine handfeste Komponente: Die Steine auf dem Platz mussten ausgehoben, durch einen Stellvertreter ersetzt und dann beschriftet wiedereingesetzt werden. Die Platzhalter wurden mit einem Metallstück markiert, das mit Hilfe eines Metalldetektors identifiziert werden konnte.

Gesagt und gemeint: Vom Umgang mit Titeln und Metaphern

Die dem Saarbrücker Mahnmal eingeschriebene Unsichtbarkeit steht im Zusammenhang mit einem, wenige Jahre zuvor von Jochen Gerz in Hamburg-Harburg realisierten Mahnmal. Das 1986 begonnene »Mahnmal gegen den Faschismus, Krieg, Gewalt – für Frieden und Menschenrechte« war eine zwölf Meter hohe Stahl-Säule, auf der die Einwohner und Gäste der Stadt unterschreiben konnten, um damit ihre Wachsamkeit gegen den Faschismus zu bezeugen. Doch die Aktion des Einschreibens als Ergebnis des Nachdenkens und eines Entschlusses, sich gegen den Faschismus zu stellen, so der ursprüngliche Plan, wurde maßgeblich verändert. Denn die Säule war zum Ziel von Vandalismus geworden. Sie wurde mit Nazi-Parolen oder Vorlieben für damals aktuelle Musikbands beschmiert. Das Konzept der Signatur gegen Faschismus und für Menschenrechte schien damit gescheitert. Doch das Harburger Mahnmal war die erste große Arbeit von Gerz für den öffentlichen Raum, mit der er sich in den Folgejahren aufgrund des Medienechos in der Kunstwelt Renommee erwarb und neue Projekte generierte, so auch das in Saarbrücken. Das Harburger Projekt für gescheitert zu erklären, wäre nichts weniger als eine Blamage für den Künstler sowie für die den Auftrag vergebende Hansestadt gewesen. Daher wurde das Konzept angepasst.[7] Das heißt, es wurde betont, dass die Debatte und die Kontroverse um das Mahnmal von Anfang an dazugehört hatte. Das Konzept des Harburger Mahnmals beinhaltete, die Säule in den Boden zu versenken, sobald sie vollbeschriftet war. Die letzte Absenkung erfolgte im November 1993. Damit war das Mahnmal unsichtbar geworden.

In Saarbrücken war im Mai desselben Jahres das »Mahnmal gegen Rassismus« eingeweiht worden. Auch dieses Projekt trug zuerst den Arbeitstitel »Mahnmal gegen Faschismus« und behielt diesen bei bis November 1991.[8] Bei zwei Denkmälern desselben Titels bestand zweifelsohne Verwechslungsgefahr. Die Änderung des Titels in »Mahnmal gegen Rassismus« ging auf Jochen Gerz zurück: »Unter diesem Namen wird der Holocaust zur Metapher, die auf jeden anderen Rassismus hinweist. Dagegen ist der Faschismus fast ein bequemer Topos. Die Politiker haben dazu immer eine Rede in der Tasche, für alle Fälle. Das Wort Rassismus war in Deutschland weniger bekannt vor allem vor der Wiedervereinigung, es rief keine automatischen Reaktionen hervor, im übrigen (!) auch nicht seitens der jüdischen Gemeinden.«[9]

Die synonyme Verwendung der Begriffe »Rassismus« und »Faschismus« ist aus der Zeit zu verstehen. »Faschismus« wurde seit den 1970er-Jahren inflationär eingesetzt, woraus sich eine Unschärfe des Begriffs ergab. Gerz ersetzte ihn in Saarbrücken gegen einen Begriff, den er allerdings nicht weniger unscharf verwendete. Der Begriff »Rassismus« mochte damals im öffentlichen Gebrauch weniger bekannt sein, aber die Taten, die ihm Anfang der 1990er-Jahre in Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Saarlouis Ausdruck gaben, waren nicht zu leugnen: Rechte Gewalt richtete sich gegen Asylsuchende und gegen Orte, in denen Asylsuchende Unterkunft gefunden hatten. Auch darin bezeugen das Projekt und der ihm gegebene Titel die Zeit. In der von Gerz gewählten Bezeichnung vom »Holocaust als Metapher« blieb »Antisemitismus« unsichtbar. Auch hier zeigt sich eine weitere Schwachstelle des Projekts, in dem permanent Gesagtes und Gemeintes verwechselt wurden.

Sichtbar versus unsichtbar: Gerz und der Stadtverbandstag

Das Saarbrücker Mahnmal war vom Misstrauen gegen die Manifestation von Erinnerung in Gestalt eines Bildes geprägt. Darum rang Gerz ohnehin in seinem Schaffen: »In der Kunst wie auch sonst suche ich nach einem Bild für etwas, das kein Bild sein kann. Bei jeder tatsächlichen Passage zwischen Abwesenheit und Bild findet ein Verrat statt […].«[10] Folgerichtig verbot sich in Saarbrücken, für das, was erinnert werden sollte, ein Bild zu finden. Der Prozess des Erinnerns war allein den Besucherinnen und Besuchern des Platzes überlassen. Die damit verbundene Problematik war Gerz bewusst, wie er in dem in der Dokumentation des Projektes enthaltenen Interview mit ihm bekannte: »Wir selbst sind das Gedächtnis. […]. Das ist eben eine Schwierigkeit in Saarbrücken: Man kann nichts machen. Man kann es nicht einmal sehen. Man kann nichts daraus ziehen. […] Die Arbeit schiebt sich nicht dazwischen. […]. Sie existiert, weil wir hier (Hervorhebung im Original, S.G.) sind. Das Gedächtnis kann keinen Ort außerhalb von uns haben. Die Arbeit handelt nur davon.«[11]

Dem Misstrauen von Jochen Gerz gegenüber dem Sichtbaren entsprach unter den Mitgliedern des Stadtverbandstages das Misstrauen gegenüber dem Unsichtbaren. Dabei prallten zwei gegensätzliche Vorstellungen aufeinander über das, was ein Denkmal ist, und was es zu repräsentieren hat. So nachvollziehbar und schlüssig der Ansatz von Jochen Gerz in dessen Schaffen und für die Erinnerungskultur der 1990er-Jahre auch war, so wenig konnte dieser von den meisten für die Annahme des Projektes im damaligen Stadtverbandstag Verantwortlichen nachvollzogen werden. Beide Seiten konnten sich nicht verstehen und reagierten mit Empörung, Polemik und Unverständnis. Hier versagte eindeutig die Kommunikation. So war es auch bei dem zuvor in Hamburg-Harburg realisierten Mahnmal gewesen: Vor Ort kontrovers aufgenommen, vom nationalen wie internationalen Feuilleton gefeiert.[12] Der »Platz des Unsichtbaren Mahnmals« war für lange Zeit das einzige Projekt, das es in die nationale wie internationale Wahrnehmung schaffte. Darüber berichteten nationalen Leitmedien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche, Welt und DER SPIEGEL – bis hin zur New York Herald Tribune.[13] Zudem konnte zu dieser Zeit von einer Gedenkstättenlandschaft und einer Erinnerungskultur, wie wir sie heute kennen, noch keine Rede sein. Ein Stein oder eine Tafel war, abgesehen von wenigen Ausnahmen, weitgehend der Ausdruck der damaligen Denkmal- und Gedenkkultur im Saarland und andernorts.

Gesagt und getan: Von Zivilgesellschaft und Staatsmacht

Als das Projekt nach einem Jahr eine Dimension angenommen hatte, die mit dem heimlichen Arbeiten nicht mehr vereinbar war, wandte sich Jochen Gerz im April 1991 an den Ministerpräsidenten, genauer an den Chef der Staatskanzlei und ehemaligen Bildungsstaatssekretär, Dr. Kurt Bohr. Von diesem Moment an war nicht nur die Finanzierung des Projektes gesichert. Dessen Gesamtkosten beliefen sich am Ende mit der Ausstellung in Form einer Präsentation der 2146 fotografierten Steine im Historischen Museum Saar, der Publikation und den Verlegearbeiten auf 145 000 D-Mark. Entscheidend war jedoch, dass der politische Wille bei der Landesregierung gegeben war. Hier verwickelte sich das Projekt in einen Widerspruch. Die Zivilgesellschaft hatte Gerz bei dem Hamburger Mahnmal zum Hauptakteur erklärt und dazu folgenden Begleitsatz überliefert: »Denn nichts kann auf Dauer an unserer Stelle sich gegen das Unrecht erheben.« Das sollte auch in Saarbrücken gelten. Die Realität war in Harburg wie in Saarbrücken freilich eine andere. Schon in Harburg war das Mahnmal nicht durch die Zivilgesellschaft, sondern durch die Hamburger Kulturbehörde initiiert worden.[14] Die Arbeit in Saarbrücken bewies auch darin Kontinuität, entgegen der von Gerz behaupteten Distanz zur Staatsmacht und seinem Verdikt: »Man kann keine Arbeit gegen Rassismus im Auftrag der Gesellschaft machten, da man so der Gesellschaft nur eine Entschuldigung für ihren Rassismus zur Verfügung stellte.«[15] In Saarbrücken ging das offenbar sehr gut, denn Gerz umging die Zivilgesellschaft weiträumig, indem er den kurzen Weg von der Kunsthochschule zur benachbarten Staatskanzlei am Saarbrücker Ludwigsplatz nahm. Da der Platz, auf dem das Unsichtbare Mahnmal errichtet werden sollte, zum Stadtverband (heute: Regionalverband) Saarbrücken gehörte, musste das Regionalparlament und damit der Stadtverbandstag darüber abstimmen. Da die SPD zu diesem Zeitpunkt sowohl im Land wie auch im Stadtverband die absolute Mehrheit besaß, stand der Durchsetzung des Mahnmals von Oben nach Unten nichts im Weg, abgesehen von den Oppositionsparteien im Stadtverbandstag. Deren Kritik richtete sich gegen das Verfahren, ein bislang inoffizielles, geheimes und damit illegales Projekt nachträglich zu einem offiziellen Projekt im Auftrag des Stadtverbands Saarbrücken umzuwidmen.

Daran entzündete sich in der Hauptsache der Konflikt. Exemplarisch dafür war die Kritik eines Vertreters der CDU-Fraktion im Stadtverbandstag. Diese richtete sich auf den Vorgang der nachträglichen Anerkennung eines inoffiziellen und illegalen Projektes: »Nun sehen Sie aber bitte mit dem notwendigen Verständnis auch uns alle hier in diesem Gremium an, die wir einen Anspruch darauf haben in Dingen, für die wir dem Bürger geradezustehen haben, beraten zu dürfen und beschließen sollen, bevor ein Anfang der Ausführung gemacht ist. Das ist gute Sitte im demokratischen Staat und im Rechtsstaat und es ist in unseren Kommunalverfassungen so festgeschrieben.«[16]

Ein wohlwollender und notwendig kritischer Beitrag in der Saarbrücker Kulturzeitschrift Saarbrücker Hefte brachte auf den Punkt, woran es dem Projekt mangelte: das Fehlen der Zivilgesellschaft. Das wurde von beiden Seiten billigend in Kauf genommen. Wiederum spiegelt sich darin, wie im Saarland der frühen 1990er-Jahre Politik gemacht wurde, und welche Bedeutung man für das Image des Landes der Kultur beimaß: »Gerz hat es der Staatskanzlei überlassen, sein Projekt politisch durchzusetzen. Diese, begierig vom Renommee des international angesehenen Künstlers zu profitieren, agierte in gewohnt autokratischer Weise. Das Unsichtbare Mahnmal wurde der Stadt Saarbrücken kurzerhand verordnet. […] Wer die Öffentlichkeit mahnen will, muss sich darauf verlassen, dass diese bereit und fähig ist, sich mit der Mahnung auseinanderzusetzen und sie – nach Prüfung, mit Wenn und Aber – anzunehmen. […] Nur wenn es in einem kritischen und diskursiven, selbstaufklärerischen Prozess durchgesetzt wird, wird ein Mahnmal auch wirklich angeeignet.«[17]

Das Projekt wurde schließlich am 29. August 1991 mit Zustimmung der SPD-Mehrheitsfraktion mit 22 Stimmen und 17 Gegenstimmen von CDU, FDP und Teilen der Grünen zur Umsetzung angenommen. Dass die Oppositionsparteien diese Praxis des Durchsetzens kritisierten, ist nachvollziehbar. Diesen Konflikt, wie von Gerz und der nationalen wie internationalen Berichterstattung in den Medien beschrieben, als Reaktion im Wortsinn ewig Gestriger darzustellen und als Stimmungsmache zu erklären, entsprach nicht den Tatsachen. Auch verkennt diese Haltung, was die Demokratie und die Zivilgesellschaft ausmachen: Es ist der Konflikt und die Kontroverse. Entscheidend ist, wie man beides austrägt.

Eine Aussage über die Erinnerungskultur: Die Leerstelle bleibt

Politischer Geltungsdrang kennzeichnen die Geschichte des Projektes. Die offenkundigen Schwachstellen und Fehlleistungen wurden mit einer Melange aus Ehrfurcht vor einem international anerkannten Künstler und mit einer großen Unsicherheit im Hinblick auf damals neue Formate des Gedenkens übertüncht. Dennoch überzeugt das Ergebnis, denn das Mahnmal setzt bis heute einen Standard für die Erinnerungsarbeit. Daher sind Entstehungsgeschichte und Ergebnis notwendig voneinander zu trennen. Das Mahnmal formuliert – eher unfreiwillig – eine Haltung zur Vergangenheit. Man kann es als Mahnung der Selbstgewissheit der Erinnerungskultur lesen. Das Mahnmal beschreibt einen permanent aktuellen Zustand, indem es eine Distanz sichtbar macht. Es bleibt immer eine Leerstelle. Sie vermag nicht durch Vervollständigungsautomatismen von Tafeln, Denkmalen, Erinnerungsorten, Gedenkstätten markiert und überbaut zu werden. Die von den NS-Verbrechen bestimmte Vergangenheit kann nicht bewältigt werden. Das bezweifelt niemand ernsthaft. Zugleich manifestieren die 2146 Steine mit den eingemeißelten Friedhofsnamen, dass die Vergangenheit immer gegenwärtig ist. Hier ist die Gleichzeitigkeit der Dauerzustand. Das Mahnmal dokumentiert die Zahl der bis 1933 in Deutschland existierenden jüdischen Friedhöfe. Der Friedhof als Ort des Todes bezeugt zugleich das Leben, weil hier der Beweis des Lebens von Generationen jüdischer Menschen in Stein gemeißelt wurde.

Der »Platz des Unsichtbaren Mahnmals« stellt die Verweigerung des Aktes des Erinnerns als Ritual in Gestalt einer Kranzabwurfstelle dar. Erinnern ist hier kein Akt der Versöhnung, sondern wird hier als Aufforderung zur Auseinandersetzung verstanden. Der Ort verweigert sich durch die inszenierte Abwesenheit dem, was der Soziologe Y. Michal Bodemann als »Gedächtnistheater« bezeichnet. Hier werden keine Rollen verteilt, da die Inszenierung ausfällt. Die Toten bleiben tot und reichen den Tätern, Beobachterinnen und Beobachtern sowie den Profiteurinnen und Profiteuren nicht zur Versöhnung die Hand. Der Platz und das Mahnmal weisen permanent darauf hin. Erinnern als Ritual kann nicht die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ersetzen. Beides gehört zusammen. Das gilt auch für das Verhältnis von Gedenken und Alltag. Auch darauf richtete sich dereinst die Kritik. Man könne, wenn der Ort auch ein Mahnmal sei, hier nicht mehr feiern. Doch das geht, denn das Leben geht weiter. Gedenken muss darin seinen Platz haben. Es auszulagern, bedeutet auch, es an den Rand zu schieben.

»Auch nach der Übergabe wird das Mahnmal nicht beendet sein.«[18] Zweifelsfrei hatte Gerz mit diesem Satz recht. Das heißt, Gerz beim Wort und das Projekt zu übernehmen, über zeitgemäße Formen der Erinnerungsarbeit nachzudenken und sie zu erproben. Aus Anlass des 30-jährigen Bestehens des Platzes entstand im Auftrag des Historischen Museums Saar eine Dokumentation zur Entstehung des Mahnmals anhand von Interviews mit den daran Beteiligten und der Auswertung der Medienberichterstattung. Eine gezeichnete Mindmap übersetzt die Ereignisse in Bildzeichen und legt sich damit über den Text. Sie findet Platz auf der Internetseite und auf der Fassade des Historischen Museums Saar. Das grenzt direkt an den Platz und bildet mit ihm und dem Schlossgebäude ein Ensemble. Bislang verwiesen nur die an der Fassade des Schlosses angebrachten Schilder darauf, dass hier der »Platz des Unsichtbaren Mahnmals« ist. Im Gebäude hängen seit 1995 vier Tafeln, die über das Projekt informieren. Die Mindmap, ein digitales Memoryspiel und ein zur Mitnahme bereitliegendes Faltblatt laden dazu ein, Fragen zu stellen: Nach dem Projekt, dem darin behandelten Thema, und warum es unsichtbar ist. Beides fordert Teilhabe und Aktivität ein, nicht nur von einer jungen Generation. Immer wieder jetzt.

Mehr dazu: www.historisches-museum.org/platz-des-unsichtbaren-mahnmals

Sabine Graf veröffentlicht seit den 1990er-Jahren zu Themen der Kultur- und Kunstgeschichte des Saarlandes. Im Auftrag des Historischen Museums Saar erstellte sie aus Anlass des 30. Jahrestags der Einweihung des Platzes des Unsichtbaren Mahnmals eine Dokumentation zu dessen Entstehungsgeschichte. Bei der Landeszentrale für politische Bildung des Saarlandes ist sie für den Bereich Historisch-Politische Bildung und Erinnerungsarbeit zuständig.

 

[1]    Ursula Giessler: Neubeginn – auch mit Fotografie, in: Saarbrücker Zeitung 9. 7. 1987.

[2]    Hans-Christian Herrmann: Das Saarland als Bundesland – Trotz Dauerkrise auch eine Geschichte der Erfolge, in: Das Saarland. Geschichte einer Region, herausgegeben vom Historischen Verein für die Saargegend e.V. durch Hans-Christian Herrmann und Johannes Schmitt, St. Ingbert 2012, S. 339–398, S. 387.

[3]    Gespräch mit Daniel Funke 20. 8. 2022.

[4]    Gespräch mit Martin Blanke, 18. 7. 2022.

[5]    Sofern nicht anders vermerkt, stammen diese Schreiben aus dem Dossier »Jochen Gerz«, Institut für aktuelle Kunst im Saarland.

[6]    Zum Beispiel: Jochen Spielmann: Steine des Anstoßes, in: Kritische Berichte, Marburg, 16/3 (1983), S. 5–16.

[7]    Corinna Tomberger: Das Gegendenkmal. Avantgardekunst, Geschichtspolitik und Geschlecht in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, Bielefeld 2007, S. 23, 72, insbesondere S. 83ff.

[8]    Archiv Regionalverband Saarbrücken, ohne Bestandsnummer, Bauamt, Akte »Denkmal/Gedenkstätte Schlossplatz«, Vermerk Direktorin des Regionalgeschichtlichen Museums Saar, Lieselotte Kugler vom 16. 10. 1991.

[9]    Jacqueline Lichtenstein und Gérard Wajcman: Interview mit Jochen Gerz, in: 2146 Steine. Mahnmal gegen Rassismus Saarbrücken, Stuttgart 1993, S. 6–14 und S. 10.

[10]  »Dem Zugriff des Wissens widerstehen«. Interview mit Jochen Gerz. Paris, 25. 4. 1993, in: Neue Bildende Kunst – Zeitschrift für Kunst und Politik 3 (1993), S. 33ff. zitiert in: Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung, a.a.O., S. 122.

[11]  Lichtenstein/Wajcman: Interview mit Jochen Gerz, a.a.O., S. 11 und 13.

[12]  Corinna Tomberger: Das Gegendenkmal, a.a.O., S. 91.

[13]  Siehe dazu das Dossier Jochen Gerz im Institut für aktuelle Kunst im Saarland, Saarlouis.

[14]  Siehe dazu Corinna Tomberger: Das Gegendenkmal, a.a.O., S. 91.

[15]  Zitat von Jochen Gerz vom 13. Mai 2011 und Erläuterung in: Marija Basic: »Das verborgene Denkmal«. Unterirdische Denkmäler in der Gegenwartskunst, Graz 2013, S. 49.

[16]  Ebd.

[17]  Hans Horch: Ein unsichtbares und deshalb unübersehbares Mahnmal: Jochen Gerz‘ Mahnmal gegen Faschismus, in: Saarbrücker Hefte 66 (1991), S. 71–74 und S. 74

[18]  Lichtenstein/Wajcman: Interview mit Jochen Gerz, a.a.O., S. 9