Das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide befindet sich am historischen Ort eines ehemaligen Zwangsarbeiterlagers, das als Gesamtensemble noch so gut erhalten ist wie kaum ein anderes Lager.[1] 2006 wurde es nach langjährigem bürgerschaftlichen Engagement als Abteilung der Stiftung Topographie des Terrors auf einem Teil des Lagerareals eröffnet. Die zentralen Aufgaben des neuen Dokumentationszentrums hat ein international besetzter Gründungsbeirat 2005/2006 erarbeitet und empfohlen, hier einen Ausstellungs-, Archiv- und Lernort zu errichten, der einen Schwerpunkt auf das Schicksal der zivilen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen legt. Für diese Gruppe gab es bis dato in der deutschen und europäischen Gedenkstättenlandschaft noch keinen zentralen Erinnerungsort. Die anderen Zwangsarbeitergruppen sollten dabei jedoch ebenfalls berücksichtigt werden. Die europäische Dimension der NS-Zwangsarbeit sollte sich auch in der internationalen Ausrichtung des Dokumentationszentrums zeigen – insbesondere in Ausstellungen, aber auch Veranstaltungen und dem Bildungsprogramm.[2]
Seit 2006 hat das Dokumentationszentrum in einer dafür wieder hergerichteten ehemaligen Unterkunftsbaracke wechselnde Ausstellungen zur Geschichte der NSZwangsarbeit präsentiert. Diese zeigten Zwangsarbeit in einem lokalen bzw. regionalen Kontext (Zwangsarbeit im Großraum Berlin)[3], gingen aber auch darüber hinaus in überregional konzipierten Ausstellungen, die z.T. in Kooperation mit internationalen Partnern erarbeitet wurden.[4] Eine erste kleinere Dauerausstellung (»Bausteine«) informierte von 2006 bis Anfang 2013 über die Geschichte des Zwangsarbeiterlagers in Schöneweide und die Entstehungsgeschichte des Dokumentationszentrums.
2010 kam zu den bislang sechs Baracken des Dokumentationszentrums die »Baracke 13« neu hinzu, die von allen Lagergebäuden in der Nachkriegszeit am wenigsten verändert wurde. Behutsam restauriert und in ihrer Struktur wiederhergerichtet, sparsam musealisiert mit Zitaten von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, veranschaulicht sie die Unterkunftsbedingungen und den Lageralltag.[5]
Parallel dazu sind in den ersten Jahren eine Spezialbibliothek zur NS-Zwangsarbeit sowie ein Archiv aufgebaut worden. Der größte Zuwachs für das Archiv ergab sich durch die Übergabe der umfangreichen Sammlung der Berliner Geschichtswerkstatt an das Dokumentationszentrum 2011.
Einen zentralen Schwerpunkt der Arbeit bildete von Beginn an die Entwicklung verschiedener Bildungsangebote vor allem für Schulklassen. Dabei wurde Wert auf eigenständiges Lernen am und mit dem historischen Ort gelegt. Im Rahmen einer »Geländeselbsterkundung« dienen verschiedene Bildungsmodule dazu, mithilfe von historischen Fotografien oder Biografien ehemaliger Zwangsarbeiter wesentliche Inhalte zu erschließen. Seit 2008 findet zudem jährlich ein internationales Jugendworkcamp auf dem Gelände des Dokumentationszentrums statt.
Das Dokumentationszentrum hat sich in den letzten Jahren zur Anlaufstelle für
viele unterschiedliche Anfragen entwickelt: von Schülern und Studierenden, Hobby- und Fachhistorikern bis hin zu ehemaligen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen und vermehrt deren Nachfahren. Eine beratende Tätigkeit übt das Dokumentationszentrum zudem in den Fällen aus, in denen es um die Arbeit an und den Umgang mit historischen Orten, insbesondere ehemaligen Zwangsarbeiterbaracken geht.
Von Beginn an war die Errichtung einer größeren Dauerausstellung zur Geschichte der NS-Zwangsarbeit geplant. Im Herbst 2010 konnte schließlich – nach den Finanzierungszusagen durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und die Stiftung Deutsche Klassenlotterie – mit den konkreten Vorbereitungen für die Erarbeitung der Dauerausstellung begonnen werden. Zum Ausstellungsteam gehören die Kuratorinnen und Kuratoren Uta Fröhlich (Projektkoordination ab September 2012), Daniela Geppert, Dr. Christine Glauning, Iris Hax, Thomas Irmer, Dr. Silvija Kavčič (Projektkoordination bis August 2012) und Frauke Kerstens, die unter der Projektleitung der Autorin die Ausstellung vorbeiteten und umsetzten.
In einem 2011 durchgeführten Realisierungswettbewerb haben sechs Ausstellungsbüros ihre Entwürfe eingereicht und präsentiert. Nach zweitägiger intensiver Beratung hat die Fachjury einstimmig Julia Neubauer und Ruth Schroers von »büroberlin« als Siegerinnen des Wettbewerbs bestimmt. Der Entwurf der beiden Gestalterinnen überzeugte wegen der kreativen, partizipativen und innovativen Lösungen der im Wettbewerb gestellten Aufgaben, insbesondere wegen des sensiblen Umgangs mit der vorgegebenen räumlichen Situation in der ehemaligen Unterkunftsbaracke im Kontext zum Gesamtgelände sowie der Präsentation von unterschiedlichen Biografien.
Die im Mai 2013 eröffnete neue Dauerausstellung »Alltag Zwangsarbeit 1938–1945« hat sich zum Ziel gesetzt, ausgehend von der Geschichte des historischen Ortes in Schöneweide die Praxis des millionenfachen Zwangsarbeitseinsatzes und die europaweite Dimension der NS-Zwangsarbeit zu dokumentieren. Dabei ist der Titel »Alltag Zwangsarbeit« in doppelter Hinsicht zu verstehen: Die Ausstellung legt einen Schwerpunkt auf den Alltag der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, zeigt aber auch auf, dass diese zum Alltag der deutschen Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges gehörten. Letzteres wird auch heute noch auf den ersten Blick vor Ort deutlich: Das Zwangsarbeiterlager in Schöneweide entstand inmitten eines Wohngebietes, sodass die Anwohner von ihren Fenstern aus direkt auf die Baracken schauen konnten.
Daraus resultieren die drei Leitthesen der Ausstellung: Zwangsarbeit war ein Massenphänomen, Zwangsarbeit war allgegenwärtig, und der Alltag der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen war – trotz aller ökonomisch-rationalen Überlegungen – schlussendlich von der rassistischen Hierarchie der NS-Ideologie geprägt. Im Zentrum der Ausstellung steht die Geschichte der mit rund 8,4 Millionen Menschen größten Gruppe, die im Deutschen Reich eingesetzt war: zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Aber auch das Schicksal der anderen Zwangsarbeitergruppen wird exemplarisch beleuchtet: Dazu gehört der Zwangsarbeitseinsatz von deutschen Juden, Sinti und Roma und der als »asozial« Stigmatisierten vor Kriegsbeginn, ebenso der Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen und KZ-Häftlinge sowie der Zwangsarbeiter in den besetzten Gebieten.
Berlin rückt aus mehreren Gründen in den Fokus der Dauerausstellung: Die »Reichshauptstadt« war nicht nur Rüstungszentrum mit hunderttausenden Zwangsarbeitern, die in rund 3000 Sammelunterkünften untergebracht waren, sondern Berlin war auch Machtzentrum des NS-Regimes und Sitz der für die Planung und Organisation des gesamten NS-Zwangsarbeitseinsatzes zuständigen zentralen Behörden und Institutionen.
Im ersten Raum der Ausstellung (Prolog) werden zum einen die Geschichte des historischen Ortes vorgestellt, zum anderen die drei Leitthesen visualisiert. Im Zentrum steht ein großer Kubus, der den Besucher empfängt: Durch mehrere Öffnungen ermöglicht dieser »Guckkasten« Einblicke ins Innere auf ein großes Lagermodell und verschiedene Projektionen. Dadurch kann der Besucher die Perspektive eines Anwohners und Zuschauers einnehmen. Hier wird zum einen das »GBI-Lager 75/76«[6] in Schöneweide als Typus eines spät errichteten Sammellagers mit heterogener Belegung vorgestellt, zum anderen das Umfeld mit Wohnhäusern in der Nachbarschaft und einer hochindustrialisierten Umgebung veranschaulicht. Schöneweide bildete seit Beginn des 20. Jahrhunderts eines der Berliner Industriezentren und wurde während des Zweiten Weltkrieges zu einem wichtigen Rüstungsstandort mit zahlreichen Zwangsarbeiterlagern und Betrieben, die für den Krieg produzierten. Die Geschichte des Lagers Schöneweide zeigt exemplarisch, was überall im Deutschen Reich die Regel war, heute aber kaum noch sichtbar und an kaum einem Ort noch so eindrücklich wie hier zu sehen ist: Zwangsarbeit fand vor aller Augen statt.
Eine Installation von zahlreichen, unterschiedlich hohen »Fotostapeln« veranschaulicht mithilfe der breiten fotografischen Überlieferung aus zahlreichen Archiven visuell die drei Kernthesen der Ausstellung. Jede Kernthese wird zudem von einem Filmausschnitt unterstützt: Zwangsarbeit als Massenphänomen – exemplarisch gezeigt durch Szenen von der Verteilung von Hunderten von sowjetischen Kriegsgefangenen im Hof
des Alten Schlosses in Stuttgart; Allgegenwart der Zwangsarbeit – private Filmaufnahmen in Farbe aus Berlin zeigen Menschen im Ausflugslokal, die auf Zwangsarbeiterbaracken blicken bzw. Deutsche zusammen mit sowjetischen Zwangsarbeiterinnen auf der Straße; Rassismus und Zwangsarbeit – Filmaufnahmen von einer Haar-Scher-Aktion wegen einer verbotenen Liebesbeziehung in Steinsdorf/Schlesien.
Ein eigenes Narrativ verläuft im Mittelgang des Ausstellungsraumes und zeigt exemplarische Biografien der unterschiedlichen »Akteure«. Dieser Begriff wurde gewählt, um die klassische Täter-Opfer-Dichotomie zu durchbrechen, die die Vielschichtigkeit menschlichen Handelns nur unzureichend wiedergibt. Zu den Akteuren zählen zum einen die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen selbst, zum anderen die Deutschen – Täter, Profiteure, Zuschauer, Helfer. Dieser biografische Erzählstrang will die Besucher über einzelne Lebensgeschichten an das Thema NS-Zwangsarbeit heranführen und über die Biografien die Bandbreite und die wesentlichen Aspekte des Themas Zwangsarbeit deutlich machen. Dementsprechend sind die 17 Zwangsarbeiterbiografien nach nationaler Herkunft, Geschlecht, Arbeitseinsatzort, Zugehörigkeit zu einer Zwangsarbeitergruppe sowie dem Themenschwerpunkt, für den die jeweilige Lebensgeschichte exemplarisch steht, ausgewählt: z.B. Ugo Brilli, italienischer Militärinternierter und bislang einzig bekannter Überlebender des Zwangsarbeiterlagers Berlin-Schöneweide; Sinaida Baschlai aus der Ukraine, die als Zwangsarbeiterin in einem Privathaushalt eingesetzt war; Francois Cavanna, französischer Zwangsarbeiter und späterer Karikaturist, der als einer der Ersten nach 1945 über seine Erinnerungen und hier insbesondere über seine Liebe zu einer ukrainischen Zwangsarbeiterin schrieb; Hildegard Simon, deutsche Jüdin im »geschlossenen Arbeitseinsatz«, die mit Hilfe von Deutschen im Untergrund überlebte; Leonid Rjabtschenko, ukrainischer Zwangsarbeiter, der nach der Befreiung wegen Kollaboration zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde; Galina Romanowa, russische Ärztin und Mitglied der Widerstandsbewegung »Europäische Union«, die vom Volksgerichtshof als »Rädelsführerin« zum Tode verurteilt und in Plötzensee hingerichtet wurde; Theo de Jooden, niederländischer Zwangsarbeiter und bislang einzig bekannter Überlebender des Gestapo-Arbeitslagers Berlin-Wuhlheide; Nikolai Galuschkow aus Weißrussland, der als 15-jähriger zur Zwangsarbeit auf einem Berliner Friedhof verschleppt wurde und Gestapohaft, Folter und eine Erschießungsaktion bei Kriegsende überlebte.
Die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen kommen in den Biografievitrinen, wo immer es möglich war, via Interview zu Wort; dafür konnte auf den Interview-Bestand der Freien Universität Berlin (CEDIS) sowie der Berliner Geschichtswerkstatt zurückgegriffen werden. Die Ausstellungskuratoren haben zudem weitere Interviews in Tschechien, Italien, den Niederlanden und der Ukraine geführt.
Bei den deutschen Akteuren werden 16 Lebensläufe auf Paneelen präsentiert: Das Spektrum reicht von Tätern wie dem Hauptorganisator der Zwangsarbeit, dem »Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz«, Fritz Sauckel, über den Aufsteiger Franz Mende, der vom Inspektor der Landesversicherungsanstalt Berlin zum Leiter des Amts für Arbeitseinsatz in der »Deutschen Arbeitsfront« (DAF) avancierte, sowie den SSOffizier Max Frauendorfer, der zunächst die Schulungsämter von DAF und NSDAP leitete und ab 1939 die Zwangsarbeiterrekrutierung in Polen verantwortete, bis hin zum Arzt Karl Weninger, der Abtreibungen an Ostarbeiterinnen vornahm und nach dem Krieg zum Ärztlichen Direktor avancierte oder Paul Elbers, Polizei- und Gestapobeamter und Leiter des Arbeitserziehungslagers Wuhlheide. Hinzu kommen Profiteure unterschiedlichster Art wie Hanns Benkert, Direktor der Siemens-Schuchert-Werke, der sich besonders mit den Methoden der Leistungssteigerung beschäftigte, oder der Musikwissenschaftler Alfred Quellmalz, der Zwangsarbeiterinnen und Kriegsgefangene für seine Volksliedforschung ausnutzte und Tonaufnahmen in verschiedenen Lagern aufzeichnete.
Gezeigt wird auch die Biografie von Rosemarie Erdmann, die als Jugendliche täglich auf dem Weg zur Schule den Häftlingen des Arbeitserziehungslagers Wuhlheide begegnete, sich mit einem italienischen Zwangsarbeiter anfreundete und ihre Erinnerungen nach Kriegsende aufschrieb, sowie der Lebenslauf eines Helfers: Horst Steinert, Mitarbeiter einer Desinfektionsfirma und im Umfeld der Widerstandsgruppe »Rote Kapelle« aktiv, der Lebensmittel, Medikamente und geheime Nachrichten in verschiedene Zwangsarbeiterlager schmuggelte.
Biografievitrinen (Zwangsarbeiter) und Biografiepaneele (Deutsche) stehen nicht getrennt, sondern wechseln sich im Mittelgang ab. Thematisch eng verzahnt und in räumlicher Nähe zu den Biografien stehen die Pultvitrinen in den beiden Seitenflügeln des Ausstellungsraumes: Sie vertiefen die Themen, die in den einzelnen Lebensläufen exemplarisch angeschnitten werden. Einer großen chronologischen Linie folgend, beginnen sie mit den Themen Zwangsarbeit vor 1939, Berlin als Machtzentrale und gehen über zum Thema Rekrutierung der Zwangsarbeiter nach Kriegsbeginn. Im Zentrum steht der Alltag, insbesondere auch die Auswirkungen der NS-Ideologie mit den daraus resultierenden Verordnungen und Gesetzen (wie »Polenerlasse« und »Ostarbeitererlasse«) auf den Alltag der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter: bei der Arbeit an unterschiedlichsten Einsatzorten wie Landwirtschaft, Privathaushalte, Kommunen, Kirchen und Rüstungsindustrie, die oft anstrengend, schmutzig und gefährlich war und ohne Arbeitsschutzmaßnahmen durchgeführt werden musste, und wo in begrenztem Maße widerständiges Verhalten möglich war, das streng bestraft wurde. Gezeigt wird der Alltag im Barackenlager oder anderen Sammelunterkünften wie der zum Lager umfunktionierten Schule; ein Lageralltag, in dem West- und Osteuropäer unter unterschiedlichen Bedingungen lebten und der oft von Hunger, Kälte, der Sehnsucht nach
Zuhause und Luftangriffen ohne ausreichende Schutzräume geprägt war; ein Alltag, in dem Frauen spezifischen Belastungen ausgesetzt waren wie sexuellen Übergriffen, fehlendem Mutterschutz, Zwangsabtreibungen (bei Osteuropäerinnen), deren Kinder auch jenseits der Altersgrenzen zur Arbeit gezwungen wurden, oder die an Unterernährung und Vernachlässigung in »Ausländerkinderpflegestätten« starben. Zum Alltag gehörte auch der Terror sowie die permanente Furcht davor, auch bei kleineren – tatsächlichen oder vermeintlichen – »Vergehen« geschlagen, in betrieblichen Haftstätten, Gefängnissen, »Arbeitserziehungslagern« oder KZ eingesperrt zu werden, durch die Sondergerichte der NS-Justiz zu langjähriger Haft oder zum Tod verurteilt oder infolge der Gestapo-»Sonderbehandlung« ermordet zu werden.
Die letzten beiden Vitrinen widmen sich den Themen Kriegsende, Befreiung, Repatriierung und der unterschiedlichen Situation in den jeweiligen Heimatländern sowie dem Umgang mit der NS-Zwangsarbeit bzw. mit den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in der Nachkriegszeit am Beispiel der juristischen, weitgehend nicht erfolgten Strafverfolgung, der Erinnerung sowie der späten »Entschädigung«.
Zentrale und auch besonders komplexe Inhalte werden durch Projektionen veranschaulicht: die Rekrutierung von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen aus fast ganz Europa parallel zum Kriegsverlauf, die Bandbreite der Profiteure sowie wesentliche Aspekte zum Arbeitsalltag (Zahlen und Fakten z.B. zu Arbeitseinsatzbereichen, Löhnen etc.), ein Fallbeispiel zum verbotenen Umgang zwischen deutschen Frauen und Zwangsarbeitern sowie die verschiedenen Etappen auf dem Weg zu einer Entschädigungsregelung.
Zahlreiche Fotografien bilden den Grundstock der Ausstellung: Dafür hat das Ausstellungsteam in vielen in- und ausländischen Archiven recherchiert. In Deutschland wurden sämtliche Kommunal-, Staats-, Wirtschafts- und Unternehmensarchive angeschrieben, die einen enormen Fundus an historischen Aufnahmen zutage brachten. In der Dauerausstellung ist zudem eine Reihe von Objekten zu sehen, die von privaten
wie öffentlichen Leihgebern stammen.[7]
Historische Fotografien spiegeln lediglich eine bestimmte Wahrheit wider – das ist bekannt: Ihre Bildaussage ist abhängig vom Entstehungskontext, dem Motiv und den Beziehungen der abgebildeten Personen zueinander, dem Fotografen und seiner Funktion, dem Zweck der Aufnahme und der späteren Verwendung in einem bestimmten Zusammenhang – vom Propagandafoto aus der Dienststelle von Fritz Sauckel, das den Arbeitsalltag beschönigte und die Meldung von Freiwilligen erhöhen sollte, über die Propagandafotos einer Firma, die dokumentieren wollte, dass es »ihren« Zwangsarbeitern im Betrieb besser ging als bei der Ankunft oder von den zahlreichen überlieferten, von privaten Fotografen aufgenommenen Bildern der Haar-Scher-Aktionen an deutschen Frauen bis hin zu den zahlreichen »Knipserbildern«, die die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen im und außerhalb des Lagers aufnehmen ließen und als Lebenszeichen nach Hause schickten.[8]
Wegen dieser Mehrdeutigkeit historischer Bilddokumente bietet die Ausstellung in einer weiteren Medienstation die Möglichkeit, sich der vielschichtigen Wirklichkeit von Fotografien anzunähern. Grundlage dafür ist die von Prof. Dr. Roswitha Breckner entwickelte »segmentelle Bildanalyse«. Mit dieser Methode können die Besucher ein Bild zunächst in seine einzelnen Segmente zerlegen, um diese dann separat betrachten zu können. Über verschiedene Leitfragen werden sie dazu animiert, ihre Beobachtungen festzuhalten. Anschließend werden die Bildteile wieder zu einem Ganzen zusammengefügt. Diese prozessorientierte Methode der Bildinterpretation ermöglicht ein genaueres Hinsehen und einen anderen Blick auf vermeintlich offensichtliche Darstellungen.[9]
Die Dauerausstellung richtet sich an ein breites Publikum, das oftmals ohne spezifische Kenntnisse über die Geschichte der NS-Zwangsarbeit das Dokumentationszentrum besucht. Dementsprechend ist auch die Form der Ausstellungstexte gewählt. Diese bilden ein eigenes Medium, eine eigene Textgattung und sollen den Besuchern ermöglichen, komplexe Inhalte – in der Regel im Stehen – wahrzunehmen und zu verstehen. Daraus – und aus den Erfahrungen in der Besucherforschung – resultieren formale Ansprüche an die Ausstellungstexte: Sie sollen die ausgestellten Exponate kontextualisieren, sie sollen kurz und schnell erfassbar sein, jede Zeile mit maximal 55 Zeichen umfasst eine Sinneinheit, die Sprache ist einfach und klar. Diese Anforderungen sind in Zusammenarbeit mit den Textern von »Die Wortstatt« umgesetzt worden, die die Ausstellungstexte nach den inhaltlichen Vorgaben der Kuratoren und Kuratorinnen in die entsprechende Form brachten.[10]
Im letzten Raum der Ausstellung (Epilog) gibt es für die Besucher die Möglichkeit zur Vertiefung: mit ausführlichen Sequenzen aus Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen, einer Datenbank mit Lagerstandorten in Berlin und Hamburg, die je nach Forschungsstand erweiterbar ist sowie einer Datenbank mit einer exemplarischen Auswahl von Erinnerungsorten.
Die Klammer zum Beginn der Ausstellung – der Geschichte des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers Schöneweide – bildet eine Arbeit der Berliner Künstlerin Susanne Kriemann. Sie begab sich 2012/2013 auf Spurensuche nach noch existierenden Zwangsarbeiterbaracken in Deutschland und näherte sich diesen Überresten fotografisch an. Gleichzeitig ging sie der Frage nach, welche Produkte des täglichen Gebrauchs heute im Kontext mit der Geschichte der NS-Zwangsarbeit stehen und schlug so einen Bogen zu den damaligen Profiteuren der NS-Zwangsarbeit.
Dr. Christine Glauning ist Leiterin des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide.
Ausstellungskatalog
Alltag Zwangsarbeit 1938–1945. Katalog zur gleichnamigen Dauerausstellung
Hrsg. vom Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide der Stiftung Topographie des Terrors, Berlin 2013
271 S., zahlr. Ill., ISBN 978-3-941772-15-1, 15,– €
[1] Größere Barackenensembles befinden sich in Berlin-Reinickendorf, Billerbecker Weg/Krumpuhler Weg (heute Gartenarbeitsschule und Gedenkort); noch bis vor Kurzem gab es mehrere erhaltene Baracken in Marzahn-Hellersdorf, Kaulsdorfer Straße 90, die meisten wurden abgerissen; in München, Ehrenbergstraße befindet sich noch ein vergleichsweise gut erhaltenes ehemaliges Lagerareal (heute Künstlerkolonie; ein Erinnerungsort ist geplant).
[2] Andreas Nachama, Christine Glauning, Katharina Sophie Rürup (Hrsg.): Das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide. Zur Konzeption eines Ausstellungs-, Archiv- und Lernortes, Berlin 2007, S. 50 f; vgl. Förderverein für ein Dokumentations- und Begegnungszentrum zur NS‑Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide e.V. (Hrsg.): »NS-Lager entdeckt«. Zwangsarbeiterlager Schöneweide wird historischer Lernort, Berlin 2006.
[3] »Zwangsarbeit in Berlin 1938-1945« (Ausstellung der Berliner Regionalmuseen); »z.B. Bosch. Zwangsarbeit in Kleinmachnow« (Ausstellung von Angela Martin und Hanna Sjöberg).
[4] »Erinnerung bewahren. Sklaven- und Zwangsarbeiter des Dritten Reiches aus Polen 1939–1945«; »Im Totaleinsatz. Zwangsarbeit der tschechischen Bevölkerung für das Dritte Reich«.
[5] Vgl. Christine Glauning: »Baracke 13« und das Thema »Lageralltag«. Die Wiederherrichtung einer Zwangsarbeiterunterkunftsbaracke, in: GedenkstättenRundbrief Nr. 164/2011, S. 21–30.
[6] GBI = Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt (Leitung: Albert Speer).
[7] E inige Exponate werden als Nachbildung präsentiert.
[8] Vgl. Cord Pagenstecher: Erfassung, Propaganda und Erinnerung. Eine Typologie fotografischer Quellen zur Zwangsarbeit, in: Wilfried Reininghaus, Norbert Reimann (Hrsg.): Zwangsarbeit in Deutschland 1939–1945. Archiv- und Sammlungsgut, Topographie und Erschließungsstrategien, Bielefeld/Gütersloh 2001, S. 254–266.
[9] Roswitha Breckner: Sozialtheorie des Bildes. Zur interpretativen Analyse von Bildern und Fotografien,
Bielefeld 2010.
[10] Vgl. Evelyn Dawid, Robert Schlesinger (Hrsg.): Texte in Museen und Ausstellungen. Ein Praxisleitfaden,
Bielefeld 2002; zu Besucherforschung und Ausstellungstexten vgl. Annette Noschka-Roos: Besucherforschung
und Didaktik. Ein museumspädagogisches Plädoyer, Opladen 1994.