Arbeitende Gedenkstätten – Gedenkstätten sind Arbeit

Der Arbeitskreis Räume Öffnen: Eine Intervention
03/2022Gedenkstättenrundbrief 205, S. 34-41
Redaktionskollektiv des Arbeitskreis Räume Öffnen

Redaktionskollektiv AK Räume Öffnen

Wenn die Teilnehmenden kommen, um kurz nach 9 Uhr, sind schon viele Handgriffe getan. Licht an im Flur, der Counter und der Shop sind vorbereitet für den Tag. Die Touch-Screens in der Ausstellung wachen auf. Stuhlkreis, Pinnwand, Skript und Ablaufplan warten auf die Besuchenden, die ein paar Stunden dieses Tages in der Gedenkstätte verbringen werden. Wir kennen die Gruppe, die gleich eintrifft, noch nicht. Im telefonischen Vorgespräch haben wir Erwartungen, Möglichkeiten, und Zeitfenster ausgelotet.

Arbeitende Gedenkstätten sind Orte, die verschiedenen Bedürfnissen gerecht werden müssen: Sie sind Räume für Forschung und Vermittlung, für Sammlung und Archivierung, für den Erhalt von Gebäuden und ihren historischen Überresten, ein Ort der Freizeitgestaltung oder der außerschulischen Bildungssettings. In dieser Funktion weisen Gedenkstätten in voller Absicht auf Erinnerungsspuren hin, die in der Regel unbequem, immer jedoch mindestens sperrig und komplex sind. Es geht um Gewaltherrschaft, Überwachung und Strafen, um Verschleppung, Zwangsarbeit, Ausbeutung und Mord. Dadurch kommt den historischen Orten eine emotionale und symbolische Bedeutung zu - nicht zuletzt für Überlebende, Angehörige und von Gewalt betroffene Menschen.

Zugleich brauchen Gedenkstätten eine Infrastruktur, die sie für Besuchende ansprechend macht und ihre Grundbedürfnisse erfüllt. Wer eine Gedenkstätte besucht, möchte auch einen Platz zum Ausruhen finden, ein Café vielleicht oder einen Getränke-Automaten.

Das allein macht Gedenkstätten bereits zu anspruchsvollen, mitunter widersprüchlichen Orten. An ihnen kommen zugleich aber auch jeden Tag Menschen zusammen, die unterschiedlicher nicht sein könnten in dem, was sie herführt - für einige ihr Beruf, für andere ein Bildungsprogramm, der Durst nach Wissen, ein privates historisches Interesse oder aber einfach ein freies Zeitfenster am Sonntagnachmittag. Für manche ist es die Suche nach Fragmenten einer Familiengeschichte oder die Erinnerung an die Liebsten, die hierher verschleppt und häufig auch ermordet wurden. Wiederum andere folgen dem Imperativ einer empfundenen historischen Verantwortung, des Klassen- oder Gruppenverbundes, der an der Gedenkstätte dem "Authentischen" des Holocaust und der Verbrechen des Nationalsozialismus nachzuspüren sucht.

An Gedenkstätten kommen all diese Motivationen, Erwartungen und Erfahrungen in Räumen zusammen, die im Kleinen wie im Großen sozial und (geschichts-)politisch konstruiert sind und täglich neu geschaffen und angeeignet werden - durch Besuchende, aber nicht zuletzt auch durch die Menschen, die an diesen Orten arbeiten.

Die pädagogisch Tätigen sind dabei nur ein Teil derjenigen, die dafür sorgen, dass Gedenkstätten als arbeitende Orte lebendig und als Räume zugänglich sind. Genauso gehören jene dazu, die sie leiten, die die Heizung warten oder die dafür sorgen, dass in der Garderobe nichts liegenbleibt. Wenn ein Tag in einer Gedenkstätte erfolgreich zu Ende geht, der Seminarraum für die nächste Gruppe, die morgen kommt, vorbereitet ist, dann haben Menschen gearbeitet und damit einen Möglichkeitsraum reflexiver Bildungsarbeit eröffnet.

Alle, die sich in diesem Raum getroffen haben, gehen am Ende mit Gefühlen und Haltungen nach Hause. Nicht zuletzt sind sie an jedem dieser Tage Teil eines Prozesses der Aneignung und Gestaltung.

Unsere Beschreibung macht deutlich, dass Gedenkstätten nicht servierfertig zur Verfügung stehen, sondern als Räume jedes Mal aufs Neue hergestellt und gestaltet werden - durch diejenigen die dort arbeiten aber auch durch alle, die an die Orte und in die Häuser kommen, sie nutzen und sie sich aneignen. Und doch "eröffnen" Gedenkstätten nicht täglich neu. Sie sind historisch erkämpfte und gewachsene Orte. Die Aneignungen finden im Rahmen gewachsener Strukturen und damit auch in vorgefertigten, teils ausgetretenen Bahnen statt, die einem Eigensinn sogar im Wege stehen können. Während einerseits Besuchende aufgefordert sind, zu reflektieren, was diese Orte für sie bedeuten, sind andererseits Bedeutungszuschreibungen schon längst gegeben.

"Räume Öffnen" - Name, Zielsetzung und Programm

Ein Beispiel dafür ist der Tenor des Jahres 2016 hinsichtlich zielgruppenorientierter und vor allem projektgeförderter Gedenkstättenarbeit: "Machen Sie eigentlich auch was mit Flüchtlingen?" - so der Titel des ersten Artikels einiger Autorinnen und Autoren des vorliegenden Beitrags, der sich mit eben diesem Phänomen beschäftigt.

Damals wurden an vielen Einrichtungen gedenkstättenpädagogische Förderprojekte etabliert, die sich als "Integrationsmaßnahme" explizit an Geflüchtete richteten. Einige der Gedenkstättenmitarbeitenden, die mit diesen Projekten betraut wurden, fanden diese Vereinnahmung und die damit einhergehenden homogenisierenden und rassistischen Implikationen befremdlich und schlossen sich zum "Arbeitskreis Räume Öffnen" zusammen, um ihre eigenen Ideen und Ansätze kritisch zu betrachten. Statt exklusive "Spezialprogramme" für die imaginierte "Zielgruppe" Refugees zu konzipieren, konnten im Austausch miteinander Strategien entwickelt werden, um allgemein diskriminierungs- und machtkritische Perspektiven in die jeweiligen Institutionen einzubringen. Diese erste intensive Auseinandersetzung half uns, unser damals diffuses Unbehagen in und mit unseren Aufgaben in der Institution Gedenkstätte klarer zu fassen und Handlungsoptionen zu diskutieren.

Inzwischen ist "Räume Öffnen" Name, Zielsetzung und Programm zugleich: Die Mitglieder des Arbeitskreises verfolgen das Anliegen, die Diskrepanz zwischen eigenen, professionsbezogenen, institutionellen wie gesellschaftlichen Ansprüchen produktiv zu nutzen und Gedenkstätten als Handlungsräume zu verstehen, in denen Geschichtskultur reflektiert, kritisiert und transformiert werden kann. Nicht zuletzt, um so das kritische Potenzial dieser Orte auszuloten.

Wer wir sind und was wir wollen

Der professionsbezogene Konsens des Netzwerkes ist in Form eines sich stetig weiter entwickelnden Prozesspapieres festgehalten, das im Folgenden vorgestellt wird:

Der Arbeitskreis "Räume Öffnen" besteht seit 2016 und ist ein loser Zusammenschluss unterschiedlicher Personen, die pädagogisch zum Themenfeld "Erinnerungskulturen und Nationalsozialismus" arbeiten.

Wir sind größtenteils pädagogisch und kuratorisch an unterschiedlichen Gedenkstätten und NS-Dokumentationszentren im deutschsprachigen Raum tätig. Der Arbeitskreis ist für uns ein Raum, in dem wir unserer Arbeitspraxen, Selbstverständnisse und Institutionen gemeinsam kritisch reflektieren.

Unser Ziel ist es, eine gemeinsame Grundhaltung zu entwickeln, die konsequent Ausgrenzung, Diskriminierung und Machtstrukturen als Probleme benennt, bekämpft und sie in emanzipatorischer Absicht zu verändern sucht - sowohl in unseren Institutionen als auch in der Gesellschaft als Ganzem.

Unser kontinuierlicher Austausch miteinander macht uns dabei immer wieder bewusst, dass wir aufmerksam, hartnäckig und sperrig sein müssen, wenn wir dort herrschende Missstände sowie Ausschlüsse marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen verändern wollen. Wir wollen die Strukturen und die Orte öffnen, in denen wir unterwegs sind, und eine Erinnerungsarbeit für die Gesellschaft der Vielen etablieren.

Das bedeutet für uns, dass Institutionen wie Gedenkstätten oder NS-Dokumentationszentren Räume sein oder werden müssen,

  • die Teilhabe als Mitbestimmung ermöglichen,
  • die gegenhegemoniale Positionen (ein)beziehen
  • die eine inklusive Erinnerungskultur durchsetzen
  • die rassistische (und alle anderen diskriminierenden) Realitäten stören und aktiv für eine solidarische "Gesellschaft der Vielen" eintreten.

Prozesspapier

Im Folgenden zeigen wir Beispiele für unterschiedliche Räume auf, die wir (er)öffnen möchten. Dabei war es uns wichtig voranzustellen, was wir unter bestimmten Begriffen verstehen, die wir darin verwenden:

  • Wir: Die Mitglieder des Arbeitskreises Räume Öffnen
  • Räume: Verstehen wir als hergestellte soziale Realitäten. In unserer Arbeit stoßen wir nicht nur auf bestehende Räume, sondern schaffen auch selbst täglich Räume, die mehr oder weniger offen oder geschlossen sind. Räume werden gemacht, können einschließen und ausschließen, können besetzt und angeeignet werden. Bildungsarbeit findet in unterschiedlichen Räumen statt, die wir aktiv gestalten wollen.
  • Institutionen: Verstehen wir hier als Orte des Gedenkens, der Bildung, Forschung, Begegnung, die sich explizit mit der Geschichte des Nationalsozialismus und seinen Verbrechen sowie deren Folgen für Gegenwart und Zukunft befassen.
  • Alle: Mit alle meinen wir Personen, die sich an historischen Tatsachen orientiert mit den Verbrechen des Nationalsozialismus befassen und diese weder relativieren noch verherrlichen.

Wir bewegen uns alle zwischen verschiedenen Räumen. Die Leerstellen wollen wir besetzen, ausfüllen und immer wieder neu denken. Deshalb sehen wir unsere Positionierung als Prozesspapier, das wir stetig weiterentwickeln. Unsere angedachten Räume sind ein Angebot über die bestehenden Zustände nachzudenken.

Radikal-demokratische Räume

Wir setzen uns für eine Demokratisierung der Gedenk- und Erinnerungskultur ein. Allen Personen sollte - unabhängig von Status und Position - der Zugang zu Mitgestaltung und Teilhabe über die Belange der Institutionen ermöglicht werden, beispielsweise durch Mitarbeit in Gremien, Zugang zu Fortbildungen und Diskussionsräumen. Dabei wollen wir die Grenzen zwischen den "Insidern" sowie "Profis" innerhalb der Institutionen und der "Zivilgesellschaft" außerhalb aufbrechen. (Erfahrungs-)Wissen aus der Praxis muss anerkannt und einbezogen werden.

Selbstbestimmte Räume

Wir setzen uns für mehr Selbstbestimmung in der Bildungsarbeit an unseren Institutionen ein. Wir fordern eine gemeinsame Aushandlung darüber, mit welchen Gruppen oder Kooperationspartner:innen eine Zusammenarbeit stattfindet und mit welchen nicht. Dazu gehört auch, die Rahmenbedingungen gemeinsam zu setzen, wenn etwa uniformierte Gruppen (Bundeswehr, Polizei) Angebote der Institutionen wahrnehmen wollen. Was macht das mit einem Lernraum, in dem auch immer potenziell Betroffene, beispielsweise von Polizeigewalt, sind? Überlegungen wie diese gilt es anzugehen und Konsequenzen zu ziehen. Die Ergebnisse der Aushandlungen müssen nach Außen kommuniziert werden: Was machen wir? Was machen wir nicht? Und warum?

Reflexionsräume

Wir verstehen unsere Institutionen als lernende Organisationen, in denen interne sowie gesamtgesellschaftliche Machtstrukturen und Hierarchien fortlaufend reflektiert werden müssen, damit diese langfristig reduziert werden können. Hierfür müssen die erforderlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dazu gehören Optionen kritischer (Selbst-)Reflexion, kollegialer Austausch, Supervisionen sowie solidarische Netzwerke. Wir wollen uns nicht auf dem Bestehenden ausruhen, sondern unser eigenes Handeln im Sinne einer emanzipatorischen erinnerungskulturellen (Bildungs-) Praxis in Frage stellen und weiterentwickeln. Hierzu bedarf es der Offenlegung eigener Wissenslücken, Zweifel und Neugier sowie einer Arbeitsatmosphäre, die Konflikte als Lernchancen begreift und annimmt. Widersprüche sind in unserer Arbeit unvermeidbar und Fehler passieren. Um diese produktiv nutzen zu können, wollen wir eine offene, wertschätzende und lernende Gesprächs- und Organisationskultur stärken.

Gesicherte Arbeitsräume

An Gedenkstätten finden ganz unterschiedliche Aktivitäten und Arbeiten statt, die von ehrenamtlich Tätigen über freie Mitarbeitende bis hin zu Festangestellten geleistet werden. Diese erfordern ein hohes Maß an Fachwissen, Praxiserfahrung und Flexibilität. Hierzu bedarf es finanzieller Sicherheit. Im Bereich der historisch-politischen Bildungsarbeit überwiegt allerdings prekäre Beschäftigung, sei es von freien Mitarbeitenden oder Festangestellten, bei denen sich bestenfalls eine befristete Projektstelle an die nächste reiht. Emanzipatorische und diskriminierungskritische Ansätze in unseren Institutionen zu etablieren ist jedoch nur möglich, wenn ausreichend Ressourcen sowie genügend Zeit zur Verfügung stehen.

Wir fordern, dass sofort politische und rechtliche Grundlagen geschaffen werden, die eine kontinuierliche Bildungsarbeit jenseits zeitlich begrenzter Modellprojekte und unsicherer Folgefinanzierung gewährleisten. Wir fordern faire Arbeitsbedingungen und Lohngerechtigkeit. Wir fordern, dass die Entscheidungstragenden der jeweiligen Institutionen solidarisch mit ihren freien und festangestellten Mitarbeitenden sind und in deren Sinne agieren.

Gemeinsame Räume

Wir wünschen uns eine gleichberechtigte Zusammenarbeit und die Wertschätzung der Vielfältigkeit aller in der Institution. Häufig nehmen wir jedoch ein Ungleichgewicht im Stellenwert zwischen der als wissenschaftlich verstandenen und der "nur" pädagogischen Arbeit wahr. Zudem führen starre Hierarchien dazu, dass Kenntnisse, Erfahrungen und Kompetenzen, insbesondere von freien Mitarbeitenden und ehrenamtlich Tätigen häufig nicht als Ressourcen gesehen und somit unsichtbar gemacht werden. Schwere, akademische Sprache, Vorgaben bezüglich Bildungsgrades oder Berufserfahrung behindern das Abbilden von Vielfalt als gesellschaftlicher Realität im Team.

Die meisten Gedenkstätten sind aus radikaldemokratischen Initiativen entstanden. Vor diesem Hintergrund setzen wir uns für eine barrierearme Zusammenarbeit und institutionelle Struktur ein, die die jeweiligen professionellen Kenntnisse und Erfahrungen in diesem Sinne anerkennt und wertschätzt.

Solidarische und sichere Räume

Gedenkstätten und NS-Dokumentationen verstehen wir als politische Institutionen und als gesellschaftliche Akteurinnen. Wir stellen uns klar gegen die Idee einer vermeintlichen politischen Neutralität dieser Institutionen.

Stattdessen fordern wir (Bildungs-) Räume so zu gestalten, wie wir uns eine Gesellschaft der Vielen vorstellen: solidarisch, machtkritisch und sicher. Dabei agieren wir aus der parteiischen Positionierung für und mit Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind. Dies bedeutet, dass rechte Positionen keinesfalls ausgehalten werden müssen. Jeder Form von Ungleichwertigkeitsvorstellungen wie bspw. Rassismus, Antisemitismus, Anti-Feminismus gilt es entschlossen entgegen zu treten.

Es muss anerkannt werden, dass rechte Akteurinnen und Akteure sowie Positionen in letzter Konsequenz immer eine Gefahr für Leib und Leben bedeuten. Deshalb fordern wir von den Leitungen von Gedenkstätten und NS-Dokumentationen, ihrer Fürsorgepflicht für ihre Mitarbeitenden wie Besuchenden nachzukommen, diesen den Rücken zu stärken sowie ihre Sicherheit zu garantieren. Hierfür ist die konkrete Ausformulierung und Umsetzung von Leitbildern und Hausordnungen unerlässlich. Alle an der Institution Tätigen müssen bei bedrohlichen Situationen informiert und in die Entwicklung langfristig wirksamer Handlungsstrategien einbezogen werden. Wir fordern darüber hinaus eine praktische und materielle Solidarität mit Menschen, die sich gegen rechte Akteur*innen und Positionen zur Wehr setzen, beispielsweise durch Übernahme von Anwaltskosten.

Verunsichernde Räume

Wir lehnen die Auslagerung gesellschaftlicher Probleme und Herausforderungen an unsere Institutionen ab.

Erneut werden Forderungen nach Pflichtbesuchen in Gedenkstätten für Schulklassen oder Polizeischüler*innen laut. Die darin zum Ausdruck gebrachte gängige Erwartungshaltung, Gedenkstättenpädagogik könne gesellschaftliche Probleme und Missstände lösen, weisen wir zurück. Strukturelle Diskriminierung, rechte Positionen und die daraus resultierende Gewalt lassen sich nicht durch Gedenkstättenbesuche beheben, sondern nur durch konsequente und hartnäckige Ächtung und Bekämpfung auf institutioneller, gesellschaftlicher, juristischer und individueller Ebene. Wir wehren uns daher gegen Förderlogiken, die "Demokratie lernen" als das vorrangige Ziel von Gedenkstättenpädagogik ansehen.

Wir prangern zudem die politische Funktionalisierung von Gedenkstättenarbeit als Ausdruck einer nationalen Erfolgsgeschichte an. Zum einen, weil sie nahelegt, dass Antisemitismus und Rassismus im Großen und Ganzen längst überwunden seien. Zum Anderen, weil der hegemoniale Erinnerungsdiskurs viele strukturell Benachteiligte, ihre Geschichten und Geschichtsbilder ausschließt.

Dem entgegen setzen wir den Anspruch, dass Bildungsarbeit an Gedenkstätten und NS-Dokumentationszentren kritische Fragen an die Gesellschaft, an Akteurinnen sowie Akteure und Strukturen stellt und in diese hineinwirkt. Dabei gilt es, Diskriminierung als gesellschaftliche Realität anzuerkennen, in die unsere Institutionen verstrickt sind, und es bedarf eines (selbst)kritischen Blickes, der Ausschlüsse sichtbar macht und bekämpft. Hierzu braucht es eine strukturelle und inhaltliche Öffnung hinsichtlich marginalisierter und ignorierter Perspektiven.

Antifaschistische Räume

Erinnerungskultur war und ist niemals unpolitisch oder neutral. Ausgehend von den Orten, an denen wir arbeiten, steht die kritische Auseinandersetzung mit dem NS und der Verhandlung seiner Bedeutung für die postnazistische Migrationsgesellschaft heute im Zentrum unserer Bildungsarbeit. Dabei kann es nicht darum gehen, den NS zu historisieren. Vielmehr ergeben sich aus seiner Geschichte vielfache Kontinuitäten und er wirkt auch weiter fort. Dies zeigt sich unter anderem

  • im Fortbestehen von Ungleichwertigkeitsideologien
  • in der organisierten extremen Rechten
  • im Fehlen der Menschen, die ermordet wurden.

Der deutsche Faschismus war kein "Extremismus", sondern das Resultat gesellschaftlich verankerter völkischer und somit rassistischer und antisemitischer Haltungen. In diesem Sinne müssen Gedenkstätten antifaschistische Räume sein, also Orte der Rückversicherung und der Bestärkung für Menschen, die antifaschistisch eingestellt sind. Der konsequente Ausschluss rechter Positionen und Akteurinnen sowie Akteure gehört daher zum Selbstverständnis und zur Außendarstellung der Institutionen.

Läuft doch alles? Reden wir darüber

Den hier dargelegten Schilderungen und Forderungen können wahrscheinlich viele ohne mit der Wimper zu zucken zustimmen. Aber gehen wir noch mal einen Schritt zurück:

Der eingangs beschriebene Tag ist - falls Sie selbst pädagogisch arbeiten, werden Sie es sich beim Lesen vermutlich bereits gedacht haben - ein Tag, an dem alles einigermaßen rund gelaufen ist. Ein Tag, an dessen Ende wir uns denken "Puuh, das hat richtig gut geklappt."

Natürlich ist das nicht immer so. Nicht immer stehen wir mit allen Menschen, die daran beteiligt sind, die Gedenkstätte zu einem Begegnungsraum zu machen, in engem oder gutem Kontakt. Vieles fordert uns in unserem Alltag heraus: Der Seminarraum ist doppelt belegt, das Material unvollständig. Die Absprache mit den anderen Guides war konfliktreich oder fand erst gar nicht statt. Ist das nur ein Problem unter den Guides und vielleicht noch bei der Buchung? Teilnehmende mussten gegen ihren Willen am Programm teilnehmen und waren dementsprechend unzufrieden. Liegt das nicht eher am System Schule? Teilnehmende aus Sicherheitsbehörden tauchen entgegen vorheriger Absprache in Uniform und mit Dienstwaffen auf. Ist das nur eine Ausnahme? Ein Neonazi wird als Bewährungsauflage in unseren Rundgang geschickt. Ausnahme Nr. 2? Ganze Integrationskurse werden unter einem allgemeinen Antisemitismus-Verdacht in Gedenkstätten gebracht. Haben nur die Begleitpersonen dieses Vorurteil?

Das Narrativ der Dauerausstellung reproduziert NS-Verfolgungslogiken. Das wird später sowieso dekonstruiert?

Entwürdigende Bilder aus Regime-Perspektive werden großformatig präsentiert. Haben wir über "Würde vs. Beweis" nicht schon genug diskutiert? Im Ankündigungstext für die nächste Veranstaltung werden rassistische Fremdbezeichnungen benutzt. Reicht es zu sagen: "Das sind Quellenbegriffe!"?

Dies alles ist Alltag, und zwar während wir uns alle einig sind. Darüber müssen wir reden. Arbeiten in Gedenkstätten bedeutet, sich tagtäglich in gewachsenen Strukturen zu bewegen. Die Dauerausstellung ist auf Dauer angelegt. Gesellschaftliche Anforderungen sind nicht bloß eine wahrgenommene Erwartungshaltung, sondern sind ganz konkret in Fördermittelbescheiden festgeschrieben. Zu diesen Strukturen müssen wir uns verhalten und dazu braucht es Austausch und Reflexion.

Leider wird hierfür nur selten Zeit und Raum eingeräumt. Teilweise wird Kritik an der etablierten, geförderten und prestigeträchtigen Gedenkstättenarbeit als vernichtend, "zu hart" und unangemessen abgetan. Läuft doch schließlich eigentlich alles. Kritik zu hören, zu durchdringen und ggf. anzunehmen oder wieder wegzulegen verlangsamt den Betriebsablauf, verzögert Entscheidungen und ist anstrengend.

Oder um es anders zu sagen: In etablierten Strukturen wird die "Störung" der gewohnten Abläufe schnell als Aktivismus abgetan. Kritik wird gedeutet als Unangepasstsein gegenüber professionellen Strukturen oder als mangelnde Loyalität gegenüber der Gedenkstätte selbst. Aber Kritik stellt nicht zwangsläufig alles in Frage. Vielmehr möchten wir Räume schaffen und Impulse setzen, um angemessen und ehrlich über die Gedenkstättenpraxis als Ganzes reden zu können.

Mit dem AK Räume Öffnen haben wir uns einen solchen Raum des Austauschs außerhalb etablierter Institutionen geschaffen. Dabei wollen wir keine kurzfristigen Lösungen anbieten. Das Netzwerk stellt vielmehr einen Ort der Selbstreflexion, aber auch eine Intervention in bestehende erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Diskurse und Praxen dar. Arbeitende Gedenkstätten heißt für uns: An uns selber und an unseren Institutionen zu arbeiten. Die besten Gedanken entstehen