Auftakt des Terrors – Frühe Konzentrationslager im Nationalsozialismus

Bundesweite Gemeinschaftsausstellung der AG Gedenkstätten an Orten früher KZ Ein Werkstattbericht zu einem besonderen Kooperationsprojekt
12/2022Gedenkstättenrundbrief 208, S. 34-37
Nicola Wenge und Luisa Lehnen

Kurzeinführung

In der deutschen Gedenkstättenlandschaft hat es so ein Projekt vermutlich noch nicht gegeben: Über zwei Jahre haben sich 17 Einrichtungen aus elf Bundesländern – allesamt Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager – zusammengeschlossen, um gemeinsam eine Ausstellung zur Entstehung und Struktur der frühen Konzentrationslager zu realisieren. Diese wird in mehrfacher Ausfertigung produziert und in vielen der beteiligten Gedenkstätten und Lernorte am 28. Februar 2023 zum 90. Jahrestag der Reichstagsbrandverordnung eröffnet – als gemeinsames Signal und Informationsangebot für eine bundesweite Öffentlichkeit. Damit wird die Aufmerksamkeit auf ein Thema gelenkt, das in der allgemeinen Wahrnehmung nach wie vor unterrepräsentiert ist. Umso erfreulicher ist es, dass Staatsministerin Claudia Roth zugesagt hat, die Schirmherrschaft für das Projekt zu übernehmen und ein persönliches Grußwort zur zentralen Eröffnung im Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg in Ulm zu sprechen. Über das ganze Jahr hindurch sind Eröffnungen an weiteren Orten und begleitende Veranstaltungen geplant, die veranschaulichen, dass sich die Zerstörung der Demokratie und die Etablierung von Macht und Terror des Nationalsozialismus schrittweise vollzogen.

 

Ausgangspunkt: Gründung der AG Gedenkstätten an Orten früher KZ

Ausgangspunkt für das Kooperationsprojekt war eine bundesweite Tagung zum Thema »Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager – Bestandsaufnahme, Perspektiven und Vernetzung« im September 2018. Der von den dort vertretenen Einrichtungen gefasste Beschluss, sich fortan regelmäßig zu den Themen Forschung, Vermittlung und Denkmalpflege auszutauschen, mündete schließlich in die Gründung der »AG Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager«. Ziel dieses Zusammenschlusses ist es, die strukturelle Einsamkeit der Erinnerungsorte in ihren jeweiligen Bundesländern durch gegenseitige Unterstützung bei wissenschaftlichen Forschungsvorhaben sowie einen Austausch über die historisch-politische Bildungsarbeit zu überwinden und dadurch auch die öffentliche Sichtbarkeit der frühen Konzentrationslager zu erhöhen.

Beim Gründungstreffen der AG, das im Frühjahr 2019 in der Topographie des Terrors stattfand, äußerten alle Mitglieder den Wunsch, den bundesweiten Wissenstransfer nicht nur abstrakt zu organisieren, sondern in Form eines konkreten Projekts einen Mehrwert für alle zu schaffen. Ausgangspunkt hierfür war die Überlegung, dass zwar jeweils im lokalen Kontext und Landeszusammenhang die Geschichte des eigenen Orts erforscht und präsentiert wird, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der frühen Lager hinsichtlich Trägerschaft, Täterschaft und unterschiedlicher Verfolgtengruppen aber noch nicht für ein breites Publikum vergleichend dargestellt wurden.

Vor diesem Hintergrund entstand die Idee einer gemeinsamen Ausstellung 90 Jahre nach der Errichtung der ersten Lager, die ihre pseudolegale Grundlage in der Reichstagsbrandverordnung hatten. Es sollte eine Ausstellung sein, die an vielen Orten gleichzeitig gezeigt wird, um dadurch sowohl die Dezentralität der politischen Verfolgung in der Anfangszeit des Nationalsozialismus als auch die Dezentralität der heutigen Erinnerungskultur zu veranschaulichen.

 

Der gemeinsame Entwicklungs- und Arbeitsprozess

Nachdem die Ausstellungsidee geboren war, begaben sich die projektbeteiligten Einrichtungen, vertreten durch haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende von großen KZ-Gedenkstätten bis hin zu kleinen Initiativen sowie dem Gedenkstättenreferat der Topographie des Terrors, in das Abenteuer des gemeinsamen Entwicklungsprozesses. Als Ankerorganisationen für Projektanträge sowie als Werkvertragsgeber fungierten dankenswerterweise die Gedenkstätte Esterwegen mit Sebastian Weitkamp und die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten mit Agnes Ohm, was das Projekt überhaupt erst ermöglichte.

Auch wenn es gemeinhin heißt, dass viele Köche den Brei verderben, ist dieses Kollaborationsprojekt eine erfreuliche Ausnahme von der Regel: Konstruktiv und produktiv entwickelten die Beteiligten das Ausstellungskonzept im Kollektiv, aufbauend auf der Vorarbeit von Andrea Riedle, die, damals noch als Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung der KZ-Gedenkstätte Dachau, ein erstes Konzept geschrieben hatte. Redaktionelle Kleingruppen aus jeweils zwei bis vier Gedenkstättenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern verfassten die Inhalte für die einzelnen Themenmodule und trugen Fotos, Dokumente, Biografien, Zitate und weitere historische Quellen mithilfe einer digitalen Pinnwand zusammen. Zwei mehrtägige Zusammenkünfte in der Gedenkstätte KZ Osthofen legten die Grundlage für weitere virtuelle Absprachen.

Mithilfe eines »Crowdfundings« aller beteiligten Einrichtungen konnte ein Werkvertrag an den Projektbearbeiter Sebastian Zehetmair vergeben werden für die notwendige Koordination und redaktionelle Arbeiten. Darüber hinaus stellten die AG-Mitglieder einen Antrag bei der Bundeszentrale für politische Bildung, um für die Erarbeitung eines pädagogischen Begleitprogramms sowie eines Social-Media-Konzepts zusätzliche Unterstützung zu erhalten. Für diese Aufgaben wurden Anna-Lena Nachbar und Sonja Klinke gewonnen. Um die Kosten für die grafische Gestaltung zu decken, warb die Arbeitsgemeinschaft Mittel bei der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft ein. Die Produktionskosten tragen die beteiligten Einrichtungen jeweils selbst. Viele haben dafür weitere Drittmittel akquiriert.

 

Ausstellungsinhalte und -konzeption

In elf Themenmodulen erzählt die Ausstellung die Geschichte der frühen Konzentrationslager von den Voraussetzungen in der Weimarer Republik bis zur Auflösung der Lager. Sie zeigt, wie vielfältig Zuständigkeiten, Tätergruppen und Örtlichkeiten waren, und veranschaulicht, worin sich Häftlingsgruppen und Haftalltag ähnelten beziehungsweise unterschieden. Biografien von Verfolgten, Lagerkommandanten und Wachleuten illustrieren die enge Verbindung der Lager untereinander und öffnen die Perspektive auf die Weiterentwicklung des KZ-Systems ab 1936. Ein eigenes Modul widmet sich dem Erinnern und Gedenken nach 1945 im Ost-West-Vergleich.

Die Ausstellung veranschaulicht, mit welcher Brutalität und Geschwindigkeit die erste deutsche Demokratie mit dem zentralen Terrorinstrument der »Schutzhaft« ausgehebelt wurde. Sie erklärt zugleich, wie die frühen Konzentrationslager in all ihrer Heterogenität zu den wichtigsten Instrumentarien für die Machtetablierung der Nationalsozialisten wurden. Zudem wird deutlich, dass viele Charakteristika der »späten« Konzentrationslager (ab 1936) in ihren Ursprüngen bereits in diesen frühen Konzentrationslagern angelegt waren. So wurden beispielsweise bereits in einigen frühen Lagern Häftlinge zur Zwangsarbeit eingesetzt. Darüber hinaus nahmen viele SS-Karrieren von Kommandanten und Wachleuten in den frühen Konzentrationslagern ihren Anfang, sodass hier Verbindungslinien bis in die späteren Vernichtungslager nachzuzeichnen sind.

Das Narrativ mit den wichtigsten Ausstellungsinhalten und die Gliederung in elf Themen wurden relativ schnell einhellig entwickelt. Spannende Diskussionen gab es vor allem hinsichtlich der Frage der Periodisierung (bis wann von frühen KZ zu sprechen ist), der Darstellung von Gewalt in den Lagern und wie stark auf die Unterschiede im Verhältnis zu den Gemeinsamkeiten eingegangen werden sollte. Die Ausstellung spiegelt den aktuellen Forschungsstand der jeweiligen Institutionen wider und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitergehende vergleichende Studien.

Die Ausstellung ist als Wanderausstellung konzipiert. Die Themenmodule sind auf Papp-Elemente gedruckt, die leicht transportiert und zusammengesteckt werden können. Das ist relativ kostengünstig, erleichtert den Auf- und Abbau und sieht trotzdem attraktiv aus. Damit besteht auch die Möglichkeit, dass die Ausstellung nach der Eröffnung verliehen wird, zum Beispiel an Schulen, Jugendhäuser und kommunale Einrichtungen. Einige AG-Mitglieder haben keine eigenen Räumlichkeiten, treten aber als Leihgeber in Erscheinung und bieten als solche auch die Möglichkeit, pädagogisch/didaktisch mit den Inhalten und externen Partnerinnen und Partnern zu arbeiten. Für die große Mehrheit der beteiligten Gedenkstätten, die die Ausstellung ergänzend zu ihren Dauerausstellungen am historischen Ort präsentieren, ist sie eine ideale Ergänzung, um den Blick vergleichend zu öffnen.

 

Pädagogisches Begleitprogramm

Um den genuinen didaktischen Mehrwert der Beschäftigung mit frühen Konzentrationslagern im Allgemeinen und mit den Inhalten der Ausstellung im Speziellen herauszuarbeiten, fanden sich mehrere Mitglieder der AG in einer eigenen Untergruppe »Pädagogik« zusammen. Gemeinsam entwickeln sie ein Begleitprogramm, das aus interaktiven Rundgängen, Workshops und digitalen Vermittlungsangeboten besteht. Eine besondere Herausforderung liegt dabei unter anderem darin, mit den verbreiteten Assoziationen zum Begriff »Konzentrationslager« – Baracken, Gaskammern, Leichenberge – umzugehen und angemessen auf »enttäuschte« Erwartungen zu reagieren. Gerade die Beschäftigung mit den Anfängen des nationalsozialistischen Terrorsystems kann einen Anknüpfungspunkt zur heutigen Zeit darstellen und für die Fragilität der Demokratie sensibilisieren.

Durch die BpB-Förderung erhält die AG hierbei Unterstützung: zum einen bei der Organisation, Moderation und Dokumentation von Multiplikatoren-Workshops, zum anderen bei der Koordination der Social-Media-Kampagne. Geplant ist unter anderem ein »Kalendarium« auf den Social-Media-Kanälen der jeweiligen Einrichtungen. Mit Beiträgen zu markanten Ereignissen im Jahr 1933 oder damit in Zusammenhang stehenden Personen, die jeweils am 90. Jahrestag veröffentlicht werden sollen, können gerade für jugendliche Besucherinnen und Besucher niederschwellige Zugänge geschaffen werden. Über die Eröffnungsveranstaltungen im gesamten Bundesgebiet, den Verleih der Ausstellung, die Social Media-Kampagne, gezielte Pressearbeit sowie ein vielfältiges, von den Kooperationspartnerinnen und -partnern vor Ort gestaltetes pädagogisches Begleitprogramm wird das Thema »frühe Konzentrationslager« im Erinnerungsjahr 2023 weiter vertieft und einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt.

 

Die Mitglieder der AG Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager

Baden-Württemberg: Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg (Ulm), Lernort Kislau (Karlsruhe)
Bayern: KZ-Gedenkstätte Dachau
Berlin: Gedenkort SA-Gefängnis Papestraße, Gedenkstätte Köpenicker Blutwoche, Stiftung Topographie des Terrors
Brandenburg: Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen (Oranienburg)
Hamburg: Gedenkstätte Konzentrationslager und Strafanstalten Fuhlsbüttel
Hessen: Gedenkstätte Breitenau (Guxhagen)
Niedersachsen: Gedenkstätte Esterwegen, KZ-Gedenkstätte Moringen

Rheinland-Pfalz: Gedenkstätte für NS-Opfer in Neustadt/W., Gedenkstätte KZ Osthofen

Sachsen: Geschichtswerkstatt Sachsenburg (Frankenberg), Gedenkstätte Konzentrationslager Sachsenburg (Frankenberg)
Sachsen-Anhalt: Gedenkstätte KZ Lichtenburg Prettin
Schleswig-Holstein: Gedenkstätte Ahrensbök

 

Dr. Nicola Wenge ist wissenschaftliche Leiterin des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg Ulm und im Sprecherrat der LAGG Baden-Württemberg. Ausstellungen und Veröffentlichungen zu NS-Verfolgungsgeschichte, Struktur der Konzentrationslager, Widerstand, Antisemitismus und jüdische Geschichte, Erinnerungskultur.

Luisa Lehnen ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Lernort Kislau e. V. und forscht und vermittelt zum frühen badischen Konzentrationslager Kislau bei Bruchsal.