Charta der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken zur Bewahrung historischer Stätten
Durch die Charta der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) zur Bewahrung historischer Stätten[i] wird den Verpflichtungen der IHRA im Rahmen der Erklärung von Stockholm und der Erklärung der Ministerkonferenz der IHRA von 2020 nachgekommen, »die historische Dokumentation des Holocaust,[ii] des Völkermordes an den Sinti und Roma[iii] und der Verfolgung anderer Opfer durch das nationalsozialistische Deutschland sowie durch diejenigen faschistischen und extrem nationalistischen Partner und anderen Mittäter,[iv] die sich an diesen Verbrechen beteiligten« zu sichern (Artikel 9).
Die IHRA-Charta richtet sich in erster Linie an die IHRA-Mitgliedsländer[v] und ist auf einschlägige bedeutende Stätten in den jeweiligen Ländern anzuwenden. Die IHRA ermuntert andere Länder, in denen ähnliche bedeutende Stätten existieren, Verantwortung zu übernehmen und diese Grundsätze und Verfahren anzuwenden.
Die IHRA hat diese Charta, in der Grundsätze, Verpflichtungen und die Empfehlung bewährter Verfahren enthalten sind, verabschiedet, um die Bewahrung von Stätten des Holocaust sowie des Völkermordes an den Sinti und Roma und von Stätten, die mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter in Verbindung stehen, zu fördern.[vi]
Da die letzte Generation der Überlebenden nun von uns geht, zählen die historischen Stätten selbst zu den letzten verbleibenden Zeugen dieser Verbrechen und müssen für die Zukunft erhalten werden.
In Anerkennung der Tatsache, dass die Holocaust-Stätten und Stätten, die mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter in Verbindung stehen, zahlreich und unterschiedlicher Natur sind, liegt der Schwerpunkt der Charta auf historischen Stätten wie Vernichtungslagern, -zentren und -orten, Konzentrationslagern, Internierungslagern, Durchgangslagern, Zwangsarbeitslagern, Kriegsgefangenenlagern, zerstörten Siedlungen, Deportationsorten, Ghettos, Orten, an denen Pogrome stattgefunden haben, Gefängnissen, »Euthanasie«-Tötungsstätten, Orten »medizinischer Experimente«, Massengräbern und Tötungsstätten, Todesmarschrouten und anderen Orten, an denen die Nationalsozialisten und ihre Mittäter Verbrechen begangen haben, sowie auf Verstecken oder Fluchtorten, aber auch auf Häusern und Unterkünften der Täter, die im Zusammenhang mit der Geschichte des Holocaust und des Völkermordes an den Sinti und Roma von Bedeutung sind. Die IHRA-Charta findet ebenso Anwendung auf historische Stätten, die für andere Opfer von Bedeutung sind, die von den Nationalsozialisten und ihren Mittätern verfolgt wurden. Die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz historischer Stätten sind je nach Staat und Gebiet unterschiedlich. Viele dieser Stätten sind jedoch weder in Kulturerbeverzeichnissen aufgeführt noch werden sie durch entsprechende Gesetze geschützt.
Bei einigen dieser historischen Stätten handelt es sich um Gedenkstätten von lokaler, nationaler oder internationaler Bedeutung. Einige von ihnen fallen unter die Kategorie »Museum«, an anderen wurde möglicherweise eine Gedenktafel angebracht. Manche wiederum weisen keinerlei Kennzeichnung auf, werden anderweitig genutzt oder wurden bislang noch nicht wiederentdeckt. Aufgrund dieser Geschichte stehen diese Stätten seit langem vor besonderen Herausforderungen, was oftmals bedeutet, dass ihre Bewahrung im Vergleich zu anderen historischen Stätten mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Dazu gehören die Leugnung und die Verfälschung des Holocaust.
In Anbetracht dessen, dass diese historischen Stätten, die mit dem Holocaust und den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter in Verbindung stehen, Orte der Verfolgung verschiedener Opfergruppen sind, liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Charta auf den historischen Stätten als solche, anstatt Opfergruppen aufzulisten – in der Annahme, dass die IHRA-Charta auch über die hier genannten Opfer und Stätten hinaus Anwendung finden wird.
Wir ermutigen die heutigen und künftigen Regierungen der Mitgliedsländer, Behörden auf allen Ebenen sowie andere Akteure, die jetzt und künftig für die Erhaltung dieser historischen Stätten verantwortlich sind, unabhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit anzuerkennen, wie wichtig es ist, die Bedeutung dieser Stätten zu bewahren und sich mit den Veränderungen auseinanderzusetzen, mit denen diese Stätten in Zukunft konfrontiert sein werden – im Gedenken an die Opfer und Überlebenden und im Interesse der Bildung künftiger Generationen.
Artikel 1 behandelt die wesentlichen Gründe für die Bewahrung historischer Stätten. Er verweist auf die Bedeutung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und die Grundsätze des ICOM.[viii] Daher sollte diese Charta in Verbindung mit der internationalen Gedenkstätten-Chartader IHRA[ix] verwendet werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den ethischen Grundsätzen zur Bewahrung historischer Stätten, die sich an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den ethischen Grundsätzen des ICOM orientieren.
_1.1. Die Mitgliedsländer bekräftigen,[x] dass die Bewahrung [xi] der Bedeutung [xii] der Holocaust-Stätten und Stätten, die mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter in Verbindung stehen, entscheidend ist, um eine verantwortungsbewusste Dokumentation der Geschichte zu fördern und die kulturelle Zusammenarbeit zwischen den mit den historischen Stätten befassten Personen durch Bildungsmaßnahmen und die Nutzung von Wissen im Interesse des Friedens zu stärken. Diese Stätten verfügen über das Potenzial, Informationen über die Vergangenheit so zu vermitteln, dass die historische Dokumentation geschützt wird, gleichzeitig aber enge Verbindungen zur Gegenwart geknüpft werden und auch in Zukunft eine Plattform für Bildungsarbeit und Erinnerung bestehen bleibt.
_1.2. Die Mitgliedsländer weisen darauf hin, dass Holocaust-Stätten und Stätten, die mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter sowie mit Stätten der Verfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialisten und ihre Mittäter in Verbindung stehen, eine große Kategorie umfassen, die nicht auf Tötungsstätten oder Konzentrationslager beschränkt ist. Diese Stätten müssen identifiziert, gekennzeichnet und dokumentiert werden, und den Risiken in Bezug auf ihre Bedeutung muss begegnet werden.
_1.3. Die Bewahrung historischer Stätten sollte für keinerlei Zwecke missbraucht werden, vor allem nicht auf eine Weise, die eine Hierarchie der Opfergruppen entstehen lässt, durch die eine Gruppe auf Kosten einer anderen besonders in den Vordergrund gerückt werden könnte. Durch derartige Vorgehensweisen wird den Opfergruppen Schaden zugefügt, und die korrekte historische Dokumentation wird verfälscht.
_1.4. Historische Stätten sind Orte des Gedenkens, des Dialogs und der Inklusion, die oft verschiedene zutreffende Narrative umfassen und deshalb eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit dem Schutz von Menschenrechten und mit demokratischem Leben spielen.
_1.5. Die Stätten von Massentötungen müssen unbedingt bewahrt werden, insbesondere die Stätten des Holocaust und des Völkermordes an den Sinti und Roma sowie die Stätten anderer Opfer der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter. Zu diesen Orten zählen oftmals auch Grabstätten, und es ist erforderlich, die Würde der Opfer zu wahren.
_1.6. Entscheidend ist, die Dokumentation zu sichern und einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Fakten für Bildungszwecke, zum Gedenken und für die Forschung erhalten bleiben.
_1.7. Bei der Bewahrung historischer Stätten darf die Darstellung eines bestimmten Verbrechens nicht aus politischen Gründen verzerrt oder verfälscht werden. Besonderes Augenmerk sollte darauf gelegt werden, dass die Opfergruppen und die für die Verbrechen verantwortlichen Personen präzise benannt werden.
In Artikel 2 werden die zahlreichen Risiken, Bedrohungen und Herausforderungen aufgeführt, mit denen Holocaust-Stätten und Stätten, die mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter in Verbindung stehen, heutzutage konfrontiert sind, und die mit ihnen befassten Personen zur Wachsamkeit aufgerufen.
_2.1. Die IHRA-Mitgliedsländer erkennen an, dass historische Stätten, die mit dem Holocaust und den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter sowie mit der Verfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialisten und ihre Mittäter in Verbindung stehen, bestimmten Risiken in Bezug auf ihre Bedeutung ausgesetzt sind. Diese Risiken[xiii] lassen sich wie folgt bestimmen:
_2.1.1. Klimawandel und Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Dürren, Veränderungen der Ökosysteme, extreme Wetterereignisse und Erdbeben;
_2.1.2. Vernachlässigung, die im Laufe der Zeit zu Verfall aufgrund von Feuchtigkeit, Insekten und Ungeziefer führt;
_2.1.3. Vorsätzliche Zerstörung, beispielsweise durch Terroranschläge, Vandalismus und extremistische Handlungen;
_2.1.4. Durch bewaffnete Konflikte vorsätzlich oder versehentlich verursachte Zerstörung;
2.1.5. Vorsätzliche und versehentliche Verfälschung und/oder Leugnung sowie (politische) (widerrechtliche) Aneignung oder landesspezifische Befindlichkeiten, die irreführende Narrative und Verschweigen zum Ergebnis haben;
_2.1.5. Vorsätzliche und versehentliche Verfälschung und/oder Leugnung[xiv] sowie (politische) (widerrechtliche) Aneignung oder landesspezifische Befindlichkeiten, die irreführende Narrative und Verschweigen zum Ergebnis haben;
_2.1.6. Unzureichende finanzielle Unterstützung;
_2.1.7. Zerstörung oder Beschädigung einer historischen Stätte aufgrund neuer Bauprojekte, einschließlich neuer und erweiterter Gedenkstättenprojekte;
_2.1.8. Beeinträchtigungen durch neue Bauprojekte am Rande historischer Stätten, wobei darauf hingewiesen wird, dass es wichtig ist, bedeutende Ausblicke auf die Stätten sowie von den Stätten aus gegebenenfalls zu bewahren;
_2.1.9. Anderweitige (unangemessene) Nutzungsformen historischer Stätten;
_2.1.10. Das Fehlen von Rechtsvorschriften und anderen angemessenen Maßnahmen zum Schutz des kulturellen Erbes, wobei darauf hingewiesen wird, dass in manchen Fällen ganze Erinnerungslandschaften solchen Schutz benötigen;
_2.1.11. Gefährdung der Unversehrtheit einer Stätte oder des ihr innewohnenden Erfahrungswerts durch (a) Erweiterungen der historischen Stätte oder (b) Wegfall eines Teils der historischen Stätte, etwa durch (a) neue Gesetze, die die Erweiterung einer historischen Stätte um moderne Einrichtungen nach sich ziehen, oder durch (b) Plünderung oder Diebstahl;
_2.1.12. Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Privateigentum, wie beispielsweise der drohende Verkauf eines Grundstücks zur anderweitigen unangemessenen Nutzung oder das Verhindern des Zugangs zu einer Stätte;
_2.1.13. Zu wenig Wissen, Forschung, Erinnerungsarbeit, Respekt und Anerkennung oder unzureichende Identifizierung des genauen Standorts und der exakten historischen Gegebenheiten der historischen Stätte, was sich langfristig auf die Bewahrung durch künftige Generationen auswirkt;
_2.1.14. Durch Besucher verursachte Abnutzungserscheinungen;
_2.1.15. Keine umfassende Deutung und Präsentation des Kulturerbes, um Zusammenhänge zwischen historischen Stätten innerhalb einer Landschaft, einer Stadt oder eines Ortes aufzuzeigen;
_2.1.16. Kein Verwaltungsplan, der alle noch vorhandenen Elemente einer historischen Stätte zusammenführt.
In Artikel 3 werden die Aufgaben und Pflichten aller Länder, Institutionen, Organisationen und Personen beschrieben, die diese Charta anwenden.
_3.1. Die Mitgliedsländer erkennen an, dass Holocaust-Stätten und Stätten, die mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter in Verbindung stehen, Orte des Dialogs und der Auseinandersetzung mit verschiedenen Narrativen sein können. Eine solche Arbeit erfordert einen inklusiven Ansatz, der genügend Raum für neue Erkenntnisse lässt, die sich im Laufe der Zeit ergeben können. Gleichwohl sind sich die Mitgliedsländer der Gefahr von Fehlinformationen und Desinformationen, bewusster Verzerrungen, Verfälschungen, Unterschlagungen und widerrechtlicher Aneignungen von Narrativen gewahr. Die Mitgliedsländer sollten darauf achten, dass die an den historischen Stätten präsentierten Informationen korrekt sind.
_3.2. Die Mitgliedsländer werden ermutigt, die Bedeutung und die Werte dieser historischen Stätten hervorzuheben und an alle Generationen zu vermitteln, indem das historische Bewusstsein für die Stätten gestärkt wird und das gegenseitige Verständnis, der Dialog sowie Bildungsprogramme gefördert werden. Darüber hinaus werden die Mitgliedsländer ermutigt, Bildungs-, Informations- und Forschungsprogramme zu unterstützen, die hohen ethischen, pädagogischen und akademischen Standards entsprechen. Dies schließt auch Hybridformate ein, sofern möglich, umsetzbar und sinnvoll.
_3.3. In Anerkennung der Tatsache, dass ziviles Eigentum, einschließlich der Stätten des Holocaust und der Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter, unter den Schutz des humanitären Völkerrechts wie der Haager Konvention und der Genfer Abkommen fallen kann, werden die Mitgliedsländer ermutigt, die Stätten des Holocaust und der Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter in Friedenszeiten und im Falle von bewaffneten Konflikten zu schützen. Die Mitgliedsländer weisen darauf hin, dass die Vorkehrungen mit den einschlägigen Behörden (einschließlich der nationalen Streitkräfte)[xv] in Friedenszeiten besprochen und dabei alle geeigneten bewahrenden, legislativen und militärischen Maßnahmen umgesetzt werden sollten. Die Beziehungen zu wichtigen Partnern[xvi] sollten auch in Friedenszeiten entwickelt werden. Die Mitgliedsländer sind angewiesen und angehalten, den einschlägigen Richtlinien dieser Partner zu folgen.[xvii]
_3.4. Die Bedeutung der historischen Stätte sowie die Merkmale,[xviii] die diese Bedeutung ausmachen, sollten festgelegt und in regelmäßigen Abständen unter Berücksichtigung neuer Forschungsergebnisse überprüft werden. Die Bedeutung einer Stätte sollte als Richtschnur für die Bewahrung dieses Ortes dienen.
_3.5. Jedes Mitgliedsland wird ermutigt, dafür zu sorgen, dass angemessene und einschlägige nationale sowie kommunale Rechtsvorschriften für die Erhaltung des Kulturerbes entwickelt, auf den neuesten Stand gebracht, in Kraft gesetzt und umgesetzt werden. Hierbei sind die internationalen Übereinkommen, Verträge und Chartas[xix] bezüglich des Kulturerbes sowie die religiösen/kulturellen Leitlinien zur Bewahrung des archäologischen, historischen und immateriellen Erbes[xx] der Holocaust-Stätten und Stätten, die mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter in Verbindung stehen, zu berücksichtigen. Dies sollte auch für Massengräber und menschliche Überreste gelten.[xxi]
_3.6. Als Teil des Länderberichtsverfahrens der IHRA wird jedes Mitgliedsland ermutigt, bedeutende Stätten im Zusammenhang mit dem Holocaust und der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und ihre Mittäter zu identifizieren, die mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert sind. Es empfiehlt sich, Stätten zu erfassen, die von den Bürgern vor Ort oder im Ausland ansässigen Personen sowie von lokalen, regionalen und internationalen Organisationen aufgezeigt wurden.
_3.7. Jedes Mitgliedsland wird ermutigt, finanzielle Unterstützung für die Erhaltung,[xxii] die Anerkennung und den Schutz des Gebiets seiner historischen Stätten und der damit verbundenen materiellen Kultur zu gewährleisten. Mittel sollten für die in Artikel 4 dieser Charta genannten proaktiven, vorbeugenden und nachhaltigen Maßnahmen sowie gegebenenfalls für die Wiederherstellung und den Wiederaufbau nach einer Krisensituation bereitgestellt werden.
_3.8. Für jede historische Stätte sollten alle damit befassten Gruppen ermittelt werden. Gegebenenfalls sind Beiräte oder Gremien dieser Gruppen einzurichten, um die Entscheidungsfindung zu vereinfachen und Konflikte zu vermeiden.
_3.9. Die mit den einzelnen historischen Stätten befassten Personen sollten ermutigt werden, Erhebungen über bestehende und künftige Risiken bezüglich der materiellen Erhaltung der Stätten zu erarbeiten und durchzuführen. Diese Erhebungen werden es den mit der historischen Stätte befassten Personen ermöglichen, Lösungsansätze zu identifizieren und die Finanzierung auf konkrete Bedürfnisse auszurichten.
_3.10. Jedes Mitgliedsland und/oder jeder Verwalter einer Stätte sollte in Übereinstimmung mit der nationalen und internationalen Gesetzgebung konkrete Maßnahmen prüfen, um menschliche Überreste auf dem Gelände vor unangemessenen Beeinträchtigungen oder einer Exhumierung durch Personen zu schützen, die diesbezüglich keine Fachkenntnis besitzen.
_3.11. Ferner werden alle Parteien ermutigt, die Angemessenheit von Veranstaltungen und Aktivitäten in der Nähe derartiger historischer Stätten sorgfältig zu prüfen.
_3.12. Die Mitgliedsländer oder die mit den historischen Stätten befassten Personen werden ermutigt, eine angemessene Verwendung für verlassene, vernachlässigte, anderweitig verwendete oder unsachgemäß genutzte historische Stätten zu finden, die aufgrund ihrer Geschichte von Bedeutung sind, mit dem Ziel, eine respektvolle Würdigung ihrer Geschichte zu gewährleisten.
In Artikel 4 werden die empfohlenen Maßnahmen für alle Länder, Institutionen, Organisationen und Personen beschrieben, die diese Charta anwenden, um bewährte Verfahren einzuhalten und die ermittelten Risiken anzugehen.
_4.1. Angesichts der vielfältigen Herausforderungen, mit denen sämtliche Stätten des Holocaust und Stätten, die mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter in Verbindung stehen, konfrontiert sind, sollte das Hauptaugenmerk auf Forschungsarbeiten, Aufzeichnungen, der Erstellung und Pflege eines Bestandsverzeichnisses und die Digitalisierung aller Daten im Zusammenhang mit den historischen Stätten (wie z. B. materielle Kultur, Archivdokumente, Gebäude sowie alle vorhandenen Spuren ober- oder unterhalb der Erde) gelegt werden. Dies sollte in einen Verwaltungsplan für die Zukunft der jeweiligen historischen Stätte aufgenommen werden.
_4.1.1. Jedes Mitgliedsland sollte darauf hinarbeiten, dass diese Aktivitäten von entsprechend qualifizierten und ausgestatteten Fachleuten geleitet werden, die gegebenenfalls mit (nationalen) Kulturerbe-Institutionen und nach Möglichkeit in Absprache mit Organisationen der Zivilgesellschaft und örtlichen Gemeinden zusammenarbeiten, wobei an jeder Stätte Pläne zur Bewahrung und Entwicklung zu prüfen und zu genehmigen sind.
_4.1.2. Da sich in einigen Mitgliedsländern viele historische Stätten befinden, in anderen hingegen nur wenige oder gar keine, und da sich die IHRA der internationalen Zusammenarbeit verschrieben hat, sollten die Mitgliedsländer versuchen, einander zu unterstützen und auf jede erdenkliche Weise dazu beizutragen, dass sowohl Aufzeichnungen als auch historische Stätten erhalten bleiben. Die IHRA-Delegationen haben auch die Möglichkeit, auf die Fachkenntnis innerhalb der IHRA zurückzugreifen.
_4.1.3. Die Mitgliedsländer sollten darauf hinarbeiten, den Informationsaustausch zwischen den entsprechenden Fachleuten zu erleichtern, damit bewährte Verfahren zur Bewahrung, zur Datenerfassung an den historischen Stätten und zu ihrer Verwaltung sowohl innerhalb der Mitgliedsländer als auch zwischen ihnen effizient weitergegeben werden können.
_4.1.4. Nach Möglichkeit sollten die Mitgliedsländer sicherstellen, dass für jede historische Stätte ein öffentlich zugänglicher Verwaltungsplan zur Bewahrung der Stätte vorliegt. Darin sollte erläutert werden, warum die Stätte von Bedeutung ist, es sollten die Risiken in Bezug auf ihre Bedeutung aufgezeigt werden, einschlägige Gesetze zum Schutz des kulturellen Erbes und andere Rechtsvorschriften aufgenommen werden und standortspezifische Erhaltungsmaßnahmen sowie ein Maßnahmenplan für zukünftige Vorhaben enthalten sein.
_4.2. Befinden sich historische Stätten auf Privatgrundstücken, so wird den Mitgliedsländern empfohlen, die Grundeigentümer zu bestärken, die Stätten zu bewahren und auf Anfrage Zugang zu ihnen zu gewähren, und sie dabei zu unterstützen. Bei einem Eigentümerwechsel werden die Mitgliedsländer dazu ermutigt sicherzustellen, dass die Bewahrung der Stätten und der Zugang zu diesen in den entsprechenden Kaufverträgen verankert werden.
_4.3. Es empfiehlt sich, mit allen mit den historischen Stätten befassten Personen über den Schutz der Umgebung der historischen Stätte zu sprechen, um die Bedeutung der Stätte zu bewahren.
_4.4. Die Plünderung oder der Diebstahl von Teilen der Substanz oder Sammlung einer historischen Stätte, einschließlich menschlicher Überreste, wirkt sich auf die Bewahrung der Bedeutung der Stätte in höchstem Maße schädlich aus. Die Mitgliedsländer sollten sich bemühen, solche Plünderungen und Diebstähle durch geeignete rechtliche Mittel zu unterbinden, und gemeinsam mit den für die Stätte Verantwortlichen dafür sorgen, dass Pläne für die Sicherheit der Stätte sowie Pläne zur Risikovorbeugung ausgearbeitet und umgesetzt werden.
_4.5. In den Mitgliedsländern wurden verschiedene Gesetze hinsichtlich Barrierefreiheit und Arbeitsschutz an öffentlichen Orten, darunter auch Kulturerbestätten, erlassen. In Anerkennung der Tatsache, dass der sichere Zugang zu den Stätten für alle ausgeweitet werden muss, können Maßnahmen zur Barrierefreiheit zugleich auch ein Risiko für die Bedeutung einer historischen Stätte darstellen. Daher sollten die Kosten und Nutzen dieses Risikos gegen das Risiko abgewogen werden, das mit der Einschränkung des Zugangs für Besucher verbunden ist.
_4.5.1. Bei allen derartigen Veränderungen der Substanz einer historischen Stätte muss ihre Bedeutung bewahrt werden, wobei die Beschädigung historischer materieller Überreste nach Möglichkeit zu vermeiden ist.
_4.5.2. Da das Betreten von Stätten zu einer Abnutzung der Substanz führen kann, wird empfohlen, dass die Mitgliedsländer und die Verwalter der Stätten geeignete Maßnahmen ergreifen, um derartige Schäden auf ein Minimum zu reduzieren.
_4.6. Die Mitgliedsländer erkennen an, dass die Interessengruppen der Stätten des Holocaust und der Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter Gemeinschaften auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene umfassen. Daher werden die Mitgliedsländer und die Verwalter der Stätten ermutigt, so viele einschlägige Gruppen wie möglich offiziell zu Rate zu ziehen und deren Ansichten zu berücksichtigen, bevor sie Entscheidungen treffen, die sich auf die Substanz der Stätte, die damit in Verbindung stehenden Sammlungen und ihre Nutzung (als Gedenkstätte, Bildungseinrichtung etc.) auswirken werden.
_4.7. Die Mitgliedsländer werden ermutigt, einen guten Umgang mit Online-Übersetzungen und damit zusammenhängenden digitalen Technologien zu entwickeln, um die historische Stätte unterschiedlichen Zielgruppen in verschiedenen Sprachen zugänglich zu machen.
_4.8. Gegebenenfalls sollten die Besucher der historischen Stätten unmissverständlich darüber informiert werden, dass während ihres Besuchs angemessenes Verhalten erwartet wird.
_4.9. Die Mitarbeiter der Stätten, darunter auch Besucherführer und Sicherheitspersonal, sollten speziell darin geschult werden, wie sie in Fällen von Verfälschungen historischer Ereignisse, politischem Extremismus oder Vandalismus an den Stätten die Verantwortlichen zur Rede stellen und mit diesen Vorfällen umgehen, damit die Sicherheit aller Mitarbeiter und Besucher gewährleistet ist.
_4.10. Unabhängig davon, ob eine historische Stätte heute ausschließlich ein Ort der Erinnerung und des Gedenkens ist oder nicht, werden die Mitgliedsländer darin bestärkt, der Stätte gegebenenfalls einen rechtlichen Status zu verleihen.
_4.11. Die für Stätten Verantwortlichen werden ermutigt, jede Stätte, die mit dem Holocaust und den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter in Verbindung steht, vor Ort zu kennzeichnen, sei es durch ein offizielles Denkmal oder ein Museum, eine Gedenktafel, eine Informationstafel oder andere physische oder digitale Kennzeichnungen. Auch digitale Darstellungen und Markierungen der Umrisse historischer Stätten werden angeregt, insbesondere dann, wenn es sich um ein zusammengehöriges Netz historischer Stätten handelt.
_4.12. Ob in Form von angegliederten Museen, Informationstafeln oder digitalen Kennzeichnungen der Stätten oder an diesen Stätten, selbst wenn diese nun anderweitig genutzt werden: Die Mitgliedsländer erkennen an, dass zu den bewährten Verfahren nicht nur gehört, dass die Geschichte von Holocaust-Stätten und Stätten, die mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter in Verbindung stehen, aufgearbeitet wird, sondern auch, dass die Geschichte der historischen Stätten vor und nach dem Holocaust beziehungsweise nach dem Krieg dokumentiert wird, einschließlich der manchmal unumkehrbaren Veränderungen im Laufe der Zeit.
_4.12.1. Wie Gedenken an den historischen Stätten gestaltet und ausgelegt wird, auch in Ausstellungen, verändert sich im Laufe der Zeit aufgrund von neuen Forschungsergebnissen und veränderten politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen. Dies ist unvermeidlich und angemessen, darf jedoch nicht zu einer Verfälschung der Tatsachen führen. Diese Veränderungen sind wichtig für das Verständnis der Geschichte der Stätte und sollten dokumentiert und angemessen archiviert werden.
_4.13. Befinden sich im städtischen oder ländlichen Umfeld verwandte historische Stätten, werden die für Stätten Verantwortlichen ermutigt, Wege zu finden, wie durch Deutung und Präsentation des gemeinsamen kulturellen Erbes eine Verbindung zwischen diesen historischen Stätten geschaffen werden kann.
www.holocaustremembrance.com/resources/ihra-char
[i] Die »Charta der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken zur Bewahrung historischer Stätten« wird im Folgenden auch als »IHRA-Charta« bezeichnet
[ii] Laut den IHRA-Empfehlungen für das Lehren und Lernen über den Holocaust lässt sich der Begriff »Holocaust« als »staatlich organisierte systematische Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden durch NS-Deutschland und seine Kollaborateure zwischen 1933 und 1945« definieren.
[iii] Der Begriff »Sinti und Roma« wird als Oberbegriff für verschiedene verwandte sesshafte oder nicht sesshafte Gruppen verwendet, etwa Roma, Travellers, Gens du voyage, resandefolket/de resande, Sinti, Camminanti, Manouches, Kalé, Romanichels, Boyash/Rudari, Aschkali, Ägypter, Jenische, Dom, Lom und Abdal, die sich in Kultur und Lebensweise unterscheiden können. Es handelt sich hierbei um eine erklärende Endnote, nicht um eine Definition des Begriffs »Sinti und Roma«.
[iv] Die Formulierung »das nationalsozialistische Deutschland sowie diejenigen faschistischen und extrem nationalistischen Partner und anderen Mittäter« kann im Folgenden in einschlägigen Sätzen in der verkürzten Form »Nationalsozialisten und ihre Mittäter« wiedergegeben werden.
[v] Im Folgenden kann ein »IHRA-Mitgliedsland« auch als »Mitgliedsland« bezeichnet werden.
[vi] Die Formulierung »Stätten des Holocaust sowie des Völkermordes an den Sinti und Roma und Stätten, die mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter in Verbindung stehen«, oder vergleichbare Formulierungen können im Folgenden auch als »Holocaust-Stätten und Stätten, die mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Mittäter in Verbindung stehen« wiedergegeben werden.
[vii]www.holocaustremembrance.com/resources/internationale-gedenkstatten-charta
[viii] Internationaler Museumsrat (International Council of Museums, ICOM), www.icom.museum/en/
[ix] Ergänzend zu den in Artikel 1 dieser Charta dargelegten Grundsätzen sollten auch die Artikel der Internationalen Gedenkstätten-Charta zur Kenntnis genommen und berücksichtigt werden. Diese können auf der Website der IHRA eingesehen werden: www.holocaustremembrance.com/resources/internationale-gedenkstatten-charta
[x] Unter »mit den historischen Stätten befasste Personen« (stakeholders) fassen wir alle Einzelpersonen oder Gruppen von Menschen zusammen, die in materieller oder immaterieller Hinsicht die Aktivitäten, Entwicklungen oder Veränderungen an einer bestimmten Stätte beeinflussen oder davon betroffen sein können.
[xi] Der Begriff »bewahren« bezieht sich auf verschiedene Maßnahmen, die darauf abzielen, die materielle und immaterielle Unversehrtheit historischer Stätten zu erhalten, indem Risiken identifiziert und gegebenenfalls entsprechende Schutz- oder Präventionsmaßnahmen ergriffen werden. Weitere Informationen finden sich in der EU-Veröffentlichung »Safeguarding cultural heritage from natural and man-made disasters«: www.op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/8fe9ea60-4cea-11e8-be1d-01aa75ed71a1
[xii] Der Begriff »Bedeutung« bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die »kulturelle Bedeutung«: den ästhetischen, historischen, wissenschaftlichen, sozialen oder spirituellen Wert für vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Generationen. Die kulturelle Bedeutung ergibt sich aus dem Ort an sich, seiner Beschaffenheit, seiner Umgebung, seiner Nutzung sowie den mit dem Ort verbundenen Assoziationen, den Bedeutungen, Aufzeichnungen und damit in Zusammenhang stehenden Stätten und Objekten. [Diese] können für verschiedene Personen oder Gruppen mit einer Reihe unterschiedlicher Werte verbunden sein. (Charta von Burra 2013, Artikel 1.2).
[xiii] Diese Risiken gelten nicht ausschließlich für die in dieser Charta aufgeführten historischen Stätten.
[xiv]www.holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-leugnung-verfalschung-des-holocaust
[xv] Zu den einschlägigen Übereinkommen zählen die Genfer Abkommen von 1949 und deren Zusatzprotokolle von 1977 sowie die Haager Konvention von 1954 zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten und deren beiden Protokolle von 1954 und 1999, das internationale Strafrecht, wie beispielsweise das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998, und internationale Menschenrechtsnormen, wie beispielsweise die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948.
[xvi] Wie zum Beispiel die UNESCO, Blue Shield International, ICOMOS und ICOM
[xvii] UNESCO: www.unesco.org/; Blue Shield International: www.theblueshield.org/; ICOMOS: www.icomos.org/en; ICOM: www.icom.museum/
[xviii] Eine Erläuterung des Begriffs »Bedeutung« findet sich in Endnote 12. Unter »Merkmale« werden die besonderen Eigenschaften, der Kontext, das Erscheinungsbild, die Nutzungsformen und die kulturellen Assoziationen oder Bedeutungen verstanden, die zum kulturhistorischen Wert einer historischen Stätte beitragen und die bewahrt werden sollten, um den Wert des Kulturerbes zu erhalten.
[xix] Dazu zählen die Haager Konvention (1954), die Florenz-Konvention (2000), das Pariser Übereinkommen (1970), das Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes (2003) und die Faro-Konvention (2005).
[xx] Siehe Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes: www.ich.unesco.org/en/convention
[xxi] Siehe Ethikkodex und Vermillion Accord des Archäologischen Weltkongresses; UNESCO-Übereinkommen von 1970 über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut; und UNESCO-Empfehlung von 2015 zum Schutz und zur Förderung von Museen und Sammlungen, ihrer Vielfalt sowie ihrer Rolle in der Gesellschaft.
[xxii] »Erhaltung« bedeutet, den gegenwärtigen Zustand eines Ortes zu bewahren und dessen Verfall aufzuhalten (Charta von Burra, Artikel 1.6), wobei darauf hingewiesen wird, dass das Hauptaugenmerk auf der Bewahrung der Bedeutung der Stätte liegt.