Das KZ-Außenlager Barth

10/2011Gedenkstättenrundbrief 163, S. 18-29
Natalja Jeske

Das Lager Barth, ein Außenlager des KZ Ravensbrück, war eines der größten KZ-Außenlager auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern. Weit über 5000 Frauen und Männern mussten dort in einem Zweigwerk des Rostocker Heinkel-Werkes vom November 1943 bis April 1945 Flugzeugteile, Flugzeugkomponenten und ab Anfang 1945 vermutlich komplette Flugzeuge herstellen. Das Ziel dieses Beitrages ist es, einige wesentliche Aspekte der Lagergeschichte und deren Wahrnehmung im öffentlichen Bewusstsein nach 1945 zu skizzieren.[1]

KZ für das Rostocker Heinkel-Werk

Rostock war die Wiege des Heinkel-Konzerns: Das Unternehmen wurde 1922 in Rostock-Warnemünde gegründet und errichtete 1935 in Rostock-Marienehe ein hochmodernes Serienwerk. Als die Stadt 1942 zum Ziel der britischen Luftangriffe wurde, galten diese Bombardements nicht zuletzt den Werkanlagen von Heinkel. Nachdem Ende Juli 1943 auch die US Air Force erstmalig Rostock am Tage anflog, wurde für das Werk die Verlagerung der Produktion in weniger gefährdete Gebiete zwingend. Kleinere Auslagerungsbetriebe sollten auf ganz Mecklenburg und Vorpommern verteilt werden. Das größte von ihnen entstand als KZ-Außenlager auf dem Fliegerhorst in Barth, auf dem das Rostocker Werk seit Dezember 1941 Flugzeuge aus der laufenden Produktion abstellte. Der Fliegerhorst verfügte über die notwendige Infrastruktur: Die Flugzeughallen auf dem Fliegerhorst sollten als Werkhallen und die Kasernen der Luftwaffe als Häftlingsunterkünfte dienen. Barth galt als sicherer Standort, weil sich dort seit Juli 1940 das Stalag Luft I befand, in dem Angehörige der Royal Air Force gefangen gehalten wurden. Seit Oktober 1943 beherbergte das Lager Offiziere der alliierten Luftstreitkräfte. Nicht zuletzt aus diesem Grund blieb der Garnisonsstandort Barth mit seinen militärischen Anlagen und einem Munitionswerk von den Luftangriffen verschont.

Das Barther Werk war von Anfang an als KZ-Werk konzipiert. Der Heinkel-Konzern als Pionier der Beschäftigung von KZ-Häftlingen in der Rüstungsproduktion verfügte zu diesem Zeitpunkt über umfangreiche Erfahrungen auf diesem Gebiet: Seit August 1942 waren Häftlinge des KZ Sachsenhausen in seinem Oranienburger Werk als Facharbeiter, Prüfer, Zeichner und Vorrichtungskonstrukteure beschäftigt. Im April 1943 wurde das Oranienburger Werk weitgehend auf »Häftlingsbetrieb« umgestellt.[2] In den Augen vieler Sachsenhausen-Häftlinge war das Außenlager Heinkel-Werke ein privilegier­tes »Facharbeiterlager«, wo die Behandlung der Lagerinsassen durch das SS-Personal und die Verpflegung besser als im KZ Sachsenhausen waren.[3] Die Werksleitung bewertete die Ergebnisse des Häftlingseinsatzes dort als vollen Erfolg – vor allem, weil sie sich »nur um den Arbeitseinsatz zu kümmern« brauchte. Für alles andere, die Verpflegung, Bekleidung, medizinische Betreuung und die Bewachung kam die SS‑Leitung auf. Die Gebühren an das Reichssicherheitshauptamt für das Verleihen der Häftlinge wurden im Werk auf die Lohnsumme der deutschen Facharbeiter umgelegt. Die jederzeit gesicherte Anzahl der KZ-Häftlinge machte es möglich, eine bessere Abstimmung zwischen den einzelnen Produktionsstufen zu erzielen und die Maschinen und Betriebsflächen in einem Zweischichtsystem mit zehn und elf Stunden Arbeitszeit vollständig auszulasten. Außerdem besaß Heinkel das Privileg, die »besten verfügbaren Arbeitskräfte unter den KZ-Häftlingen auszuwählen« und sie mit einem extrem geringen Kostenaufwand zu verpflichten.[4] Diese Faktoren trugen zur Steigerung des Produktionsausstoßes und zu erheblichen Kostenersparnissen bei.

Das Oranienburger Modell diente offenbar als Grundlage für die Vereinbarung mit dem KZ Ravensbrück bezüglich der Errichtung seines Außenlagers in Barth. Darüber zumindest sprach Otto Köhler, der ehemalige Betriebsführer im Rostocker Heinkel-Werk, als er 1964 im Rahmen der Ermittlungen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) zu den Verbrechen der SS im KZ-Außenlager Barth aussagte. Weitere damals von ihm geschilderte und in der Literatur übernommene Einzelheiten zur Entstehung des KZ-Außenlagers Barth erscheinen dagegen weniger glaubwürdig. Demnach sollte die SS-Kommandantur von Ravensbrück für alles im Lager aufkommen – auch für die Unterkünfte, was bei der Errichtung der Außenlager grundsätzlich nicht üblich war. Köhler stellte den Zugriff auf die Arbeitskraft von KZ-Häftlingen als Ergebnis der sich plötzlich veränderten Auftragslage und somit als eine erzwungene und spontane Entscheidung dar, obwohl die von ihm genannten Aufträge erst kurz vor der Inbetriebnahme des KZ-Werkes eingegangen waren. Als Verantwortliche nannte er aus verständlichen Gründen nicht sich selbst, sondern Karl Hayn, Hauptdirektor der Produktion bei Heinkel und den eigenen Assistenten Eberhard von Faber. Die einzelnen Werke der Ernst Heinkel AG waren selbstständige wirtschaftliche Einheiten und mussten die Zuweisung von Häftlingen selber beim Wirtschaftsverwaltungshauptamt beantragen. Ihre verantwortlichen Leiter reisten eigenständig zwecks Verhandlungen zu den KZ-Standorten. Es ist deshalb davon auszugehen, dass Köhler als höchster Vertreter der Betriebsleitung persönlich das KZ-Ravensbrück besuchte, um dort Gespräche über die Bereitstellung der Häftlinge zu führen – sein Name blieb dem ehemaligen Kommandanten des KZ Ravensbrück Fritz Suhren gut in Erinnerung.[5]

Das Barther KZ-Werk war ein Bestandteil des Heinkel-Werkes in Rostock-Marienehe: Seine Produktions- und Belegschaftszahlen flossen in dessen Statistik mit ein. Die meisten der im neuen Werk beschäftigten deutschen Betriebsangehörigen wurden von Rostock nach Barth versetzt. Die Produktionsbedürfnisse bestimmten die Struktur der Lagerbelegung. Das Außenlager in Barth war von Anfang an als Männer- und Frauenlager konzipiert. Während die Frauen bei der Fertigung von Einzelteilen auf den Fließbändern und im Glühbad arbeiteten, sollten die Männer anspruchsvollere Montagearbeiten an Flugzeugkomponenten durchführen. Überliefert ist, dass die Vertreter des Werkes bei den Frauen vordergründig auf ihren Gesundheitszustand, bei den Männern auf ihre Berufserfahrungen und den Ausbildungsstand achteten. Das Prinzip der Ersetzbarkeit jedes Häftlings war in den betriebswirtschaftlichen Planungen verankert. Die Produktion in Barth beruhte auf den neuesten Fertigungsmethoden sowie auf dem breiten Einsatz von Spezialmaschinen. Dadurch vereinfachten sich die Arbeitsabläufe, so dass das Anlernen nur kurze Zeit erforderte und der eventuelle Ausfall eines Häftlings nur geringe Schäden hinterließ.

Der erste Transport mit 200 männlichen Häftlingen aus dem KZ Buchenwald kam auf dem Fliegerhorst Barth am 9. November 1943 an. Das Baukommando bereitete das Lager auf die Ankunft weiterer Häftlingstransporte vor. Die 15 für das Männerlager überlieferten Transportlisten belegen, dass bis April 1945 2 934 männliche Häftlinge aus Buchenwald, Dachau, Neuengamme, Ravensbrück und Auschwitz (über Sachsenhausen) ins Lager eingeliefert wurden.[6] Von einem kleineren Facharbeitertransport aus dem KZ Sachsenhausen und dem letzten Transport aus Karlshagen I, der unmittelbar vor der Räumung des Lagers in Barth ankam, sind zwar keine Listen überliefert, doch ihre Stärke kann anhand von Zeitzeugenaussagen ungefähr geschätzt werden. Aufgrund dessen kann die Gesamtzahl von etwa 3 300 männlichen Häftlingen als ziemlich zuverlässig gelten.

Laut überlieferten Transportlisten stellten die Häftlinge aus der Sowjetunion mit 39,5 % die größte Gruppe unter den Zugängen dar, danach folgten Polen (25,3 %) sowie ungarische und polnische Juden (11,6 %). Darüber hinaus befanden sich im Lager kleinere Gruppen von Italienern, Franzosen, Deutschen, Jugoslawen, Tschechen und Niederländern sowie einige Norweger, Spanier, Belgier, Bulgaren, Rumänen, Litauer, Ungarn, Griechen, ungarische Roma und sogar ein Chinese.

Für das Frauenlager liegen keine durch die zeitgenössischen Quellen gesicherten Angaben vor. Nach der Auswertung von Zeitzeugenaussagen erscheint die Gesamtzahl von über 2000 weiblichen Zugängen als realistisch. Die nationale Struktur des Frauenlagers unterschied sich etwas von der im Männerlager: Die Frauen aus der Sowjetunion, gefolgt von Polinnen und ungarischen Jüdinnen bildeten auch hier die Mehrheit der Insassinnen, doch es gab im Lager ebenfalls relativ große Gruppen von Sloweninnen sowie Sinti- und Roma-Frauen. Es sind auch Informationen über Französinnen und Tschechinnen überliefert.

Die Sterblichkeitsraten im Männer- und Frauenlager des KZ-Außenlagers Barth unterschieden sich stark voneinander: Obwohl bis Januar 1945 in die beiden Lager eine ungefähr gleiche Anzahl von Häftlingen eingeliefert wurde, wies das Männerlager 163 und das Frauenlager neun Opfer auf.[7] Ihre Leichen wurden im Krematorium Rostock eingeäschert und auf dem sogenannten Russenfriedhof, einem Abschnitt des Neuen Friedhofs, beigesetzt. Ab Ende Januar 1945 und bis zur Räumung des Lagers wurden die Verstorbenen an drei verschiedenen Orten in Barth, zuletzt am sogenannten Galgenberg, verscharrt. Laut den durch den tschechischen Häftlingsarzt Dr. Rudolf Stejskal geretteten Totenlisten waren es insgesamt 291 Personen – darunter eine Frau, Sinaida Aridowa. Sie litt unter schweren Depressionen und nahm sich das Leben, indem sie sich auf die unter Starkstrom stehende Lagerumzäunung stürzte.

Bekannt ist, dass die Frauen, die in Barth ernsthaft erkrankten, zurück in das Stammlager Ravensbrück geschickt wurden – das Revier des Frauenlagers war für eine längere Unterbringung viel zu klein. Die kranken Männer dagegen blieben im Lager, so dass nach Ravensbrück lediglich Todesmeldungen gesandt wurden. Doch dieser Umstand wie auch die Feststellung, dass die Frauen den Hunger leichter ertrugen, erklären nicht allein die auffällige Differenz der Totenzahlen. Versucht man, den Ursachen der hohen Sterblichkeit im Männerlager auf die Spur zu kommen, so liegt der Schluss nahe, dass eine der Ursachen die ausgeprägte Gewaltbereitschaft des SS‑Personals gewesen sein muss. Die Lagerführer – zunächst SS-Hauptscharführer Metzler und ab Frühjahr 1944 SS-Obersturmführer Heussler – traten in dieser Hinsicht offenbar nicht groß in Erscheinung, dafür der Rapportführer Billau und der Kommandoführer Zay.[8] Diese beiden SS-Männer, von Anfang bis zum Ende dabei, blieben in den Erinnerungen der Überlebenden die Hauptvollstrecker des massiven Terrors, dem die Lagerinsassen tagtäglich ausgesetzt waren. Wie der ehemalige Häftling Robert Rentmeister berichtet, wurden die beiden SS-Männer aus irgendeinem Grund nach Barth »strafversetzt«.[9] Den Schilderungen Überlebender zufolge waren sowohl Billau als auch Zay ausgesprochene Sadisten, denen das Drangsalieren, Quälen und Töten Befriedigung brachte. Obwohl die Fähigkeit, hart gegen die Feinde der »Volksgemeinschaft« vorzugehen, beim KZ-Personal als eine wichtige Berufseigenschaft gefordert und gefördert wurde, nahm diese bei Billau und Zay offenbar extreme Ausmaße an. Vieles deutet darauf hin, dass bei den beiden in dieser Hinsicht psychische Abnormitäten vorlagen, wobei Billau auch durch seinen Alkoholkonsum auffiel. Dem sadistischen Drang von Billau und Zay von morgens bis abends ausgesetzt, gab es für die männlichen Häftlinge in einem relativ kleinen Lager wie Barth kein Entkommen. Die Gewaltexzesse begannen bereits am frühen Morgen, wenn die Häftlinge von Zay zum Appell aus den Blöcken geprügelt wurden. Zay schlug auf die Häftlinge ein, während er sie zur Arbeit begleitete und Kontrollgänge im Betrieb machte. Von Häftlingen wurde er meistens als »Boxer« bezeichnet, weil er Lagerinsassen unvermittelt »mit der linken Hand in den Kiefer und mit der rechten Hand in die Magengrube schlug«, woraufhin der Häftling im Regelfall zu Boden ging.[10] Ernsthafte Verletzungen waren daher nichts Ungewöhnliches. Der als »Knochenbrecher« bekannter Billau war sowohl für das Verhängen der Strafen als auch für die Folter verantwortlich. Überliefert ist, dass er einige Häftlinge zu Fluchtversuchen zwang, um sie daraufhin töten zu können und dass er sie teilweise in den Selbstmord trieb. Auf dem Appellplatz befahl er den Häftlingen sich hinzuknien und den Schleimauswurf tuberkulosekranker Mithäftlinge vom Boden aufzulecken. Falls der Häftling nur so tat, als ob er ihn auflecke, trat Billau ihm mit seinen Stiefeln auf den Kopf.[11] Einigen Zeugenaussagen zufolge fanden im Lager auch Hinrichtungen statt.

Anhand der nur zum Teil überlieferten Totenscheine lassen sich bis Ende Januar 1945 mindestens zwölf männliche Häftlinge nachweisen, die erschossen wurden, und weitere sechs, die eines unnatürlichen Todes – in der Interpretation der SS »durch Freitod« – starben. Die Zahl der Opfer von direkter Gewalt der SS war offensichtlich noch höher, denn es ist mindestens ein Fall überliefert: Als ein jugoslawischer Häftling infolge der Misshandlungen von Billau verstarb,[12] wurde dessen Tod als eine Folge von »Herzschwäche« vermerkt. Ständige Lebensgefahr schwächte die geistigen und körperlichen Kräfte der Häftlinge und machte sie anfälliger für Krankheiten. Ein weiterer Faktor, der die Überlebenschancen im Männerlager verringerte, war offenbar das Verhalten der vom SS-Personal eingesetzten Funktionshäftlinge. Im Barther Männerlager übten »politische« Deutsche die Funktionen des Lagerältesten, des Revierkapos und der Blockältesten aus. Viele ehemalige Häftlinge bezeugen unabhängig voneinander, die Funktionshäftlinge Kurt Rauch, Fritz Stender und Franz Mewald, ehemalige KPD-Mitglieder, hätten sich an »den Untaten der SS mitschuldig gemacht.«[13] Direkte Gewaltanwendung, Denunziationen und das Bestehlen der Mithäftlinge um den Inhalt der Pakete und Essensrationen gehörten allem Anschein nach zu den üblichen Mitteln ihrer Machtausübung.

Die Situation im Frauenlager sah etwas anders aus. Die Gewalt der SS-Aufseherinnen im Außenlager drückte sich zwar in Schlägen, Ohrfeigen und im Beschimpfen der weiblichen Häftlinge aus, doch es sind keine Fälle überliefert, bei denen Frauen im Lager infolge der Gewaltanwendung verstarben. Auch einzelne brutale Strafaktionen – wie etwa nach der Arbeitsverweigerung einer Gruppe weiblicher Häftlinge aus der Sowjetunion oder nach zwei misslungenen Fluchtversuchen – blieben ohne tödliche Folgen. Es wird sogar von SS-Aufseherinnen berichtet, die Mitleid mit weiblichen Häftlingen zum Ausdruck brachten, indem sie die Zählappelle schnell abhielten oder für die bestraften Frauen Decken und etwas Essen in den Bunker schmuggelten.[14]

Auch über die Funktionshäftlinge im Frauenlager liegen differenzierte Schilderungen vor. Demnach gab es Frauen, die ihre Macht den Mithäftlingen gegenüber zeitweilig missbrauchten, aber auch solche, die bemüht waren, deren Leben zu erleichtern, sei es durch gerechtes Verteilen des knappen Essens oder durch Warnung vor Filzaktionen in den Blocks.

Zu den weiteren Ursachen des hohen Krankenstandes und der hohen Sterblichkeit im Männerlager zählte zweifelsohne die starke Überbelegung der Häftlingsunterkünfte. Die Kapazität des gesamten Lagers bezifferte der Heinkel-Konzern mit 2 000 Personen, doch befanden sich dort Anfang November 1944 etwa 3 000 Frauen und Männer. Wobei im Männer- und Frauenlager ungefähr gleichviele Häftlinge untergebracht waren. Während die Belegung des Frauenlagers seit Herbst 1944 wegen Verlegungen in andere Außenlager kontinuierlich sank, stieg die Belegung des Männerlagers dramatisch an: Zwischen Dezember 1944 und Ende April 1945 wurden dorthin mehr als 1 200 Häftlinge transportiert. Die Überbelegung zog weitere Probleme, wie mangelnde Hygiene und die Zunahme der Tuberkulose, nach sich.

Die Überbelegung des Männerlagers wurde eindeutig von der Heinkel-Werkleitung herbeigeführt, die – möglicherweise im Zusammenhang mit dem Beginn der Produktion des »Volksjägers« He 162 im Barther Werk – immer neue Häftlinge nach Barth transportieren ließ, ohne sich um ihre Existenzbedingungen zu kümmern. Die Überführung von KZ-Häftlingen in ein Außenlager und ihre Beschäftigung in der Produktion bedeutete oftmals eine Verbesserung ihrer Situation und die Erhöhung ihrer Überlebenschancen. Diese Tendenz war allerdings kein Selbstläufer, sondern es hing von der Leitung des jeweiligen Betriebes ab, inwiefern sie bereit war, Einfluss auf die Lebensbedingungen der Häftlinge zu nehmen und sich dieser Verantwortung zu stellen.

Manchmal wird in Bezug auf den Heinkel-Konzern die Meinung geäußert, dass sich der fürsorgliche Umgang des Unternehmens mit den eigenen Mitarbeitern – vom ausgeprägten Pragmatismus geleitet – sowohl auf Zwangsarbeiter als auch auf die KZ-Häftlinge ausdehnte. Es heißt, sie wären in den Genuss von Prämienscheinen gekommen, seien in das »Vorschlagswesensystem« integriert gewesen und hätten Sonderzuwendungen »in Form von Geld, Rauchwaren und Lebensmitteln« bekommen. Bei Heinkel wurde stets versucht – so etwa Volker Koos – »den Einfluss der SS und deren Lagersystems aus dem Betrieb herauszuhalten«.[15]

In Bezug auf das KZ-Außenlager Barth lässt die Strategie des Betreibers dagegen viel Pragmatismus, aber wenig Fürsorge erkennen. Nicht nur die extrem enge Unterbringung der Häftlinge stellte ein schwerwiegendes Problem dar. Der Arbeitsschutz in den Werkhallen war mangelhaft, was unter anderem tödliche Unfälle und Verletzungen zur Folge hatte. Als Schutzkleidung dienten den Häftlingen einfache Arbeitsschürzen, die nur einmal am Anfang ausgegeben wurden. Zusätzliche Medikamentenversorgung und Zusatzverpflegung gab es nicht und die »Prämienscheine« konnten nicht nennenswert zur Verbesserung der Verpflegung beitragen, weil man dafür nur Gemüsekonserven bekam. Ehemalige Häftlinge sprechen davon, dass Prämienscheine durch Funktionshäftlinge unterschlagen und die Prämienscheine selbst von Lagerinsassen nicht selten aus Überzeugung abgelehnt wurden.

Jahre später betonte Otto Köhler, die Werksleitung hätte die SS aufgefordert, »bessere Verpflegung an Häftlinge auszugeben«, um ihre Leistung dadurch zu erhöhen.[16] Auch wenn es der SS gegenüber eine solche Vorderung gegeben haben sollte, sind keine Aussagen von Zeitzeugen überliefert, die darauf hinweisen könnten, dass die SS diesem Wunsch nachging. Von sich aus hat die Werksleitung zur Verbesserung der Überlebenschancen der Häftlinge und zum Schutz ihrer Leben vor der Gewalt der SS offenbar nichts unternommen, forderte jedoch die Erfüllung eines hohen Arbeitspensums.

Solange die Werksleitung in Rostock als Ersatz für die Kranken und Toten neue Arbeitskräfte anfordern konnte, gab es für sie wohl keinen Anlass, in das Leben der Häftlinge zu investieren und ihnen durch zusätzliche Versorgung bessere Lebensbedingungen zu ermöglichen. Der als Markenzeichen des Unternehmens hervorgehobene Pragmatismus und die Zweckorientiertheit endeten letztendlich in einem aktiven Mitwirken am Verbrechen.

Angesichts des Heranrückens der Roten Armee räumte die SS am 30. April 1945 das Lager. Die marschfähigen Häftlinge wurden in Richtung Rostock getrieben, die Kranken, Geschwächten und Sterbenden schloss die SS in den Blocks ein. Wie viele Häftlinge während des Todesmarsches verstarben oder erschossen wurden, ist nicht genau bekannt. Die meisten Männer erlangten nach der Flucht der SS-Bewachung wenige Kilometer vor Rostock und die Frauen in der Stadt Ribnitz an der Grenze zwischen Mecklenburg und Vorpommern am 1. Mai 1945 die Freiheit. Die im Lager verbliebenen Häftlinge, die sich noch bewegen konnten, brachen am nächsten Morgen die Türen der Blocks auf und stürmten die SS-Küche. Das reichhaltige Essen, das sie verschlangen, brachte vielen von ihnen den Tod. Als die befreiten alliierten Flieger aus dem Stalag Luft I das Lagergelände wenige Stunden später betraten, erlebten sie einen tiefen Schock. »Das Lagergelände war mit menschlichen Exkrementen, Müll, zerlumpten Kleidungsstücken und sonstigem Abfall bedeckt«, berichtet Lowell Bennett, ein Gefangener im Stalag Luft I. »Tote Körper, viele von ihnen in grotesken Posen, lagen zerstreut zwischen den Steinbaracken. In vielen Räumen war der Gestank des Todes so unerträglich, dass wir nicht hineingehen konnten. Männer, die vor fünf Stunden oder fünf Tagen gestorben waren, hingen von ihren Betten herunter. Ihre ausgestreckten Arme waren steif, ihre Gesichter durch die Qualen der Agonie entstellt und ihre spindeldürren Körper vom langsamen Hungertod gezeichnet. Zwischen ihnen lagen noch lebende Skelette, die kurze Zeit darauf verstarben.«[17] Wie viele Personen auf dem Lagergelände und Tage später in den Lazaretten der Stadt starben lässt sich nicht genau ermitteln. Die meisten Leichen wurden auf dem Gelände des ehemaligen Lagers beerdigt und zweimal – 1955 und 1963 – umgebettet. Bei der letzten Umbettung sollten es 56 Gebeine gewesen sein. Mit diesen letzten namenlosen Toten kann die Gesamtzahl der Toten des Lagers auf mehr als 500 geschätzt werden.

Erinnerung an das Lager nach 1945

Mit der Beisetzung der letzten Opfer begann die Geschichte der Erinnerung an das Lager. Die neue Stadtverwaltung von Barth ließ am Begräbnisort ein schlichtes Kreuz mit der Inschrift »Hier ruhen unbekannte Opfer des Faschismus« aufstellen. Das KZ-Außenlager fand in dieser Inschrift keine Erwähnung und so kam indirekt der Wunsch vieler Barther zum Ausdruck, das Lager schnell zu vergessen. Nicht nur, weil der Anblick von Leichen auf dem Gelände des Lagers den einen oder anderen Einwohner traumatisiert hat. Die Barther sahen zu, wie 1945 der Pferdewagen mit Leichen aus dem Lager durch die Hauptstraße zum Galgenberg fuhr. Sie wussten, wo die Leichen verscharrt werden, sie bewachten die Arbeitseinsätze der Häftlinge in der Stadt, sie belieferten das Lager mit Lebensmitteln und profitierten von neuen Kunden in ihren Geschäften. Unter diese unangenehmen Erinnerungen sollte ein Schlussstrich gezogen werden.

Andererseits gab es Bemühungen der mecklenburgischen Landesforschungsstelle der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), die Überreste des Lagers als Mahnung für nachfolgende Generationen zu erhalten und die Erinnerung an die Opfer des Lagers in Form eines Denkmals zu bewahren. Doch diese Bemühungen waren letztendlich die Bemühungen einer Einzelperson – der Leiterin der Landesforschungsstelle Fanny Mütze-Specht. Nachdem sie 1950 diesen Posten verlor und aus der SED ausgeschlossen wurde, fragte niemand mehr danach, ob in Barth die Erinnerung an das Lager aufrechterhalten werden sollte. Der Tischlermeister Wilhelm Durow, der am 9. Mai 1945 bei der Veranstaltung auf dem Barther Marktplatz anlässlich des Kriegsendes als einziger zu der Aufarbeitung der Geschichte des Lagers und zur Bestrafung der Verantwortlichen aufrief, wurde denunziert und verstarb 1947 im sowjetischen Speziallager Jamlitz.

Otto Köhler, von 1946 bis 1950 in den sowjetischen Speziallagern Fünfeichen und Sachsenhausen wegen seiner hohen Stellung bei Heinkel interniert und 1950 durch ein DDR-Gericht pauschal verurteilt, konnte später in der DDR eine neue Karriere starten. Seiner Entlassung aus der Haft 1953 folgten erste Kontakte zum MfS. Zwei Jahre später wurde er als Geheiminformant »Kröger« »zur Aufklärung von Personen aus der westdeutschen Flugzeugindustrie« angeworben. Mit Hilfe des MfS wurde er 1956 Professor an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock und konnte sein 1946 beschlagnahmtes Haus in Warnemünde zurückkaufen. Seine Rolle bei der Errichtung und beim Betreiben des KZ-Außenlagers Barth wurde nie hinterfragt.

Das KZ-Außenlager Barth wurde in der DDR erst dann »wiederentdeckt«, als seine Geschichte für die ideologische Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik interessant wurde. Der Wunsch, die DDR als einen Staat darzustellen, in dem im Gegensatz zur Bundesrepublik konsequent und hart gegen die NS-Verbrecher vorgegangen wird, lag vielen Aktivitäten zur Aufarbeitung der Geschichte des KZ-Außenlagers Barth zugrunde. 1960 leitete die DDR eine ideologische Offensive mit dem Ziel ein, die Regierung der Bundesrepublik wegen der Deckung von NS-Tätern zu diskreditieren. Ein wichtiger Bestandteil dieser Kampagne war der Schauprozess gegen Adenauers Staatssekretär Hans Globke, der sich während der NS-Zeit an der Ausarbeitung der Ausführungsbestimmungen für die Nürnberger Rassengesetze beteiligte. Zu Beginn des Prozesses gegen Globke, der in seiner Abwesenheit am 8. Juli 1963 in Ost-Berlin eröffnet wurde, veröffentlichte die »Ostsee-Zeitung«, Organ der SED-Bezirksleitung Rostock, einen Artikel mit der reißerischen Überschrift »Globkes Blutspur im Ostseebezirk«. Darin wurde über die »Verbrennungsakten« des Krematoriums Rostock mit den Einträgen zu 200 Opfern des KZ-Außenlagers Barth berichtet. Am 11. Juli 1963 informierte der Rostocker Journalist Alfred Weber, ein ehemaliger Häftling im KZ Buchenwald, in der »Ostsee-Zeitung« über die Entdeckung einer Liste von über 500 Opfer des Lagers, »für deren grauenvollen Tod der Bonner Staatssekretär Globke als juristischer Wegbegleiter der Hitlerdiktatur die ›juristischen‹ Grundlagen schuf«. Die gerade »gefundene« Liste war in Wirklichkeit ein allgemein zugängliches Friedhofregister, in dem neben den Häftlingen des KZ-Außenlagers Barth auch sowjetische und polnische Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene sowie Juden aufgeführt wurden. Von insgesamt 497 Einträgen aus den Jahren 1940 bis 1947 handelte es sich nur bei 172 Personen um Häftlinge aus Barth. Die Zahl »500« eignete sich offenbar besser dazu, den »Massenmörder« Globke zu »überführen«. In dem oben genannten Artikel Alfred Webers in der »Ostsee-Zeitung« wurde auch von den Massengräbern am Galgenberg berichtet. Der bereits 1955 in der Festschrift zur 700-Jahrfeier der Stadt Barth erwähnte Fakt wurde dort zu einem gerade gelüfteten schaurigen Geheimnis stilisiert.

Die Öffnung der Massengräber am Galgenberg erfolgte im Oktober 1963, woraufhin die Staatsanwaltschaft Rostock ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt eröffnete. Gleichzeitig legte das MfS Rostock den operativen Vorgang »Galgenberg« an.

Zwischen 1963 und 1966 führte das Ministerium für Staatssicherheit der DDR in Rostock Ermittlungen über die im KZ-Außenlager Barth verübten Verbrechen durch. Das atemberaubende Tempo, mit dem in diesem Zeitraum Materialien zur Geschichte des KZ-Außenlagers gesammelt wurden, hing mit diesen Ermittlungen zusammen. Alfred Weber wirkte aktiv daran mit und konsultierte die Mitarbeiter des MfS Rostock über die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager.[18] Schon bald nach Beginn der Ermittlungen erfolgten die Festnahmen ehemaliger SS-Angehöriger des KZ-Außenlagers Barth – des ehemaligen SS-Unterscharführers Arnold Zöllner sowie der ehemaligen SS-Aufseherinnen Frida Wötzel und Ilse Göritz.

Doch für die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit besaß der Fall des KZ-Außenlagers Barth schon sehr bald offensichtlich kein Entwicklungspotenzial mehr, denn ihr Hauptanliegen war es, einen Fall zu präsentieren, der ein Gegenstück zum Auschwitz-Prozess in der Bundesrepublik darstellen könnte. Deshalb lenkten die MfS-Ermittler ihre Aufmerksamkeit auf das Stammlager Ravensbrück, um nachzuweisen, dass dort bereits zu Beginn 1943 weibliche Häftlinge massenweise vergast wurden. Dies entsprach jedoch nicht der Realität, denn es war bereits 1959 bekannt, dass die Vergasungsanlage in Ravensbrück erst Anfang 1945 in Betrieb genommen wurde. Da die Beweislage zu dünn war, fand der Prozess im Sommer 1966 hinter verschlossenen Türen statt. Drei ehemalige Aufseherinnen, zwei von ihnen ursprünglich wegen ihres Einsatzes im KZ-Außenlager Barth festgenommen, wurden darin zu lebenslanger Haft verurteilt – vor allem für die Verbrechen im Stammlager Ravensbrück, die sie nicht begangen haben konnten. Arnold Zöllner, der nicht als einer der Mörder von Barth überführt werden konnte, wurde letztendlich wegen Ermordung von Häftlingen im KZ Sachsenhausen separat angeklagt und ebenfalls zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.[19]

Für die Aufarbeitung und Erforschung der Geschichte des KZ-Außenlagers Barth hatte der Rostocker Prozess negative Folgen. Das Thema galt nun als aufgearbeitet und abgeschlossen, und jeder Versuch, neue Dokumente zu finden oder neue Zeugen zu ermitteln, hätte als das Infragestellen der Fachkompetenz der Sicherheitsorgane interpretiert werden können. Die Materialien des Prozesses blieben in der DDR unter Verschluss. Nur Alfred Weber durfte in seiner 1970 erschienen Broschüre »Stärker als der Tod« einige während der Ermittlungen getätigten Zeugenaussagen als »Berichte« zitieren. Ende der 1980er Jahre erlaubte das MfS Ines Birth, einer Geschichtsstudentin aus Rostock, die Unterlagen einzusehen und für ihre Diplomarbeit zu verwenden, da ihr Vater selbst an den MfS-Ermittlungen mitgewirkt hatte.[20]

1966, im gleichen Jahr, in dem der Rostocker Prozess stattfand, wurde in Barth das Mahnmal für die Opfer des KZ-Außenlagers Barth eingeweiht. Die bis dahin gefundenen menschlichen Überreste der Häftlinge fanden dort ihre letzte Ruhestätte. Die am Mahnmal angebrachte Inschrift lautete: »Hier ruhen 180 von den im KZ für die Profitinteressen des Heinkel-Konzernes zu Tode gequälten 2000 Antifaschisten aus 18 europäischen Nationen. 1943 bis 1945. Ihr Tod ist uns Verpflichtung«. Wir können heute nur ahnen, wie diese willkürliche Zahl der Toten – »2000« – zustande kam. Sie bezog sich offensichtlich auf die weithergezogenen Berechnungen Alfred Webers, die er 1966 in seinem Artikel »Die Hölle am Erlengrund« veröffentlichte. Er addierte einfach die Zahl der Verstorbenen, die als solche auf den Transportlisten ausgewiesen waren sowie die Zahl der Personen, deren Namen ohne jeglichen Vermerk durchgestrichen worden waren. Obwohl es keine Anhaltspunkte dafür gab, dass sie als Tote einzuordnen sind, suggerierte er, die (seinen Berechnungen nach 283) Überstellungen in andere KZ müssten als Todesfälle berücksichtigt werden, weil nur entkräftete Häftlinge in ihre Stammlager zurückgeschickt worden seien. Obwohl auch diese Annahme nicht zu belegen war, wurde sie als feststehende Tatsache präsentiert. Der Logik dieser Darstellung zufolge hätte das Männerlager 897 Tote verbuchen müssen.[21] In der 1966 verfassten »Urkunde der Mahn- und Gedenkstätte Barth« ist deshalb von 900 männlichen Opfern die Rede.[22] Zu vermuten ist, dass die Zahl »2000« durch die Verdoppelung von »900« und die Aufrundung des Ergebnisses 1800 entstanden war. Die Urheber des Textes hatten möglicherweise gedacht, dass es »gerecht« wäre, im Frauenlager genauso viele Tote wie im Männerlager zu vermuten. Der Wunsch, die Grausamkeit des Naziregimes durch möglichst hohe Zahlen zu belegen, war stärker als die Verpflichtung zur Wahrheit.

Das Mahnmal in Barth wurde ein fester Bestandteil des sozialistischen Alltags und seiner Rituale: Hier wurden Pioniere in die Reihen der Freien Deutschen Jugend (FDJ) aufgenommen und FDJler erhielten ihre Kandidatenkarten der SED. An den Feiertagen und zu sonstigen Anlässen fanden am Mahnmal antifaschistische Massenveranstaltungen mit Kranzniederlegungen statt. Doch der Ausbau der Gedenkstätte zu einem Lernort blieb aus. Die Bemühungen Alfred Webers, in Barth eine Ausstellung über das KZ-Außenlager Barth aufzubauen, hatten keinen Erfolg. Die Pläne zur Errichtung eines Ausstellungspavillons wurden aufgrund fehlender Geldmittel verworfen.[23] Die Alternativlösung, im Rathaus einen Ausstellungsraum einzurichten und auf dem Gelände der Gedenkstätte »massive Tafeln mit einigen wenigen Angaben zum Lager« aufzustellen,[24] wurde auch nicht umgesetzt. Alfred Weber widmete sich Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre der Aufarbeitung der Geschichte des KZ-Außenlagers in Peenemünde und befasste sich nicht mehr mit der Geschichte des Lagers in Barth. Als er 1985 starb, gab es nur den Rostocker Professor Karl Heinz Jahnke, der zum Widerstand im Nationalsozialismus forschte und sich in diesem Zusammenhang für entsprechende Aspekte der Lagergeschichte interessierte. Das Gelände des ehemaligen Lagers geriet in Vergessenheit, so dass die meisten Einwohner von Barth in den 1980er Jahren nicht mehr wussten, wo sich einst das Lager befunden hatte.

Im Januar 1991, wenige Monate nach der deutschen Wiedervereinigung, trat Helga Radau, von Beruf Pädagogin, die Stelle der Stadtarchivarin in Barth an. Beim Durchsehen der Unterlagen zum KZ-Außenlager Barth, die Alfred Weber seinerzeit zusammengetragen hatte, fiel ihr auf, dass in den Transportlisten des Männerlagers viele jüdische Häftlinge verzeichnet sind, von denen zu DDR-Zeiten nie die Rede war. Sie begann darüber zu recherchieren und konnte schon bald Kontakte zu zwei ehemaligen jüdischen Häftlingen – Ernst Fleischer und Gyula Trebitsch – vorweisen. Sie baute Beziehungen zu ehemaligen Häftlingen aus Frankreich, den Niederlanden und dem ehemaligen Jugoslawien auf und stellte einige Kontakte wieder her, die Ende der 1960er Jahre bestanden hatten. So wurde es möglich, zahlreiche Erinnerungsberichte ehemaliger Häftlinge zusammenzutragen. Helga Radau gelang es, das Gelände des ehemaligen KZ-Außenlagers zu lokalisieren. 1995 organisierte sie mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Konferenz zum Thema »KZ Barth« und im gleichen Jahr erschien ihr Buch über das Lager »Nichts ist vergessen und niemand«, das sich dem Thema publizistisch näherte. Um weitere Recherchen bürgerschaftlich abzusichern und die Erarbeitung einer ständigen Ausstellung zu ermöglichen, wurde im November 1998 der Förderverein »Dokumentations- und Begegnungsstätte Barth e.V.« gegründet. Der Vorschlag zu seiner Gründung ging von dem Verein »Politische Memoriale e.V.« in Schwerin aus, der die Gedenkstättenarbeit in Mecklenburg-Vorpommern betreut. Die erste Vorsitzende des Vereins wurde Helga Radau. 1999 begann der Förderverein zusammen mit der Rostocker Jugendinitiative »Norddeutsche Jugend im internationalen Gemeinschaftsdienst e.V.« internationale Workcamps für Jugendliche zu organisieren, deren Teilnehmer das Gelände des ehemaligen Lagers wieder begehbar machten. Zwischen 2000 und 2003 wurde dort ein vom Förderverein erarbeiteter Gedenk- und Lernpfad mit Informationsstelen errichtet. Am 1. Mai 2005 eröffnete der Förderverein in seinen Räumlichkeiten am Bleicherwall 1b in Barth die Dauerausstellung »12 von 750 Jahren. Barth im Nationalsozialismus 1933 bis 1945«. Ein von Helga Radau, Elke Engelmann und Gabriele Bödecker erarbeiteter Abschnitt dieser Ausstellung ist der Geschichte des KZ-Außenlagers Barth gewidmet.

Der Förderverein hat sich in den letzten Jahren zu einer wichtigen Stütze für die regionale Erinnerungs- und Bildungsarbeit entwickelt. Er bietet auf Anfragen Führungen für Interessenten, Projekttage für Schüler und Weiterbildungsveranstaltungen für Lehrer an, entwickelt Publikations- und Ausstellungsprojekte und betreut Besucher der Dokumentationsstätte aus Deutschland und dem Ausland.

In den 1990er Jahren haben sich in Barth Menschen zusammengeschlossen, für die die historische Aufklärungsarbeit und die Erinnerung an das KZ-Außenlager zu einer Herzensangelegenheit wurden. Für die öffentliche Aufarbeitung der Geschichte des Lagers war das eine glückliche Fügung. Es bleibt zu hoffen, dass das Erreichte wegen des altersbedingten Ausfalls einzelner Enthusiasten nicht verloren geht und das Fortbestehen der historischen Bildungsarbeit in Barth nicht dem Zufall überlassen wird. Die Stadt soll sich um eine Lösung bemühen, eine langfristige Grundlage für das Fortbestehen der Dokumentations- und Begegnungsstätte zu schaffen.
 

Dr. Natalja Jeske arbeitet als freie Historikerin und Übersetzerin. Nach ihrem Studium der Geschichte an der Universität Tomsk (Russland) hat sie an Forschungs- und Ausstellungsprojekten zur Geschichte der sowjetischen Speziallager in Deutschland sowie zur Geschichte der NS-Konzentrationslager und Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht an den Gedenkstätten Buchenwald, Sachsenhausen und Bergen-Belsen mitgewirkt. Zu Barth hat sie 2010 publiziert: »Das KZ-Außenlager Barth. Geschichte und Erinnerung.«
 

[1] Ausführlich dazu in: Natalja Jeske, Das KZ-Außenlager Barth. Geschichte und Erinnerung, Kückenshagen 2010.

[2] Vgl. hierzu den Bericht der Heeresanstalt Peenemünde über die Besichtigung des Häftlings-Einsatzes bei den Heinkel-Werken in Oranienburg am 12. April 1943, in: BA MA, RH 8/v.1210.

[3] Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Zürich 2002 (TB), S. 179; Gespräch mit Wilhelm Rentmeister am 02.12.1983, S. 1–3, in: Archiv Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, P 3 Rentmeister, Wilhelm.

[4] Lutz Budraß, Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918-1945, Düsseldorf 1998, S. 780.

[5] Vgl. Auszug aus der eidesstaatlichen Erklärung des SS-Lagerkommandanten von Ravensbrück, Fritz Suhren, in: BStU, Ast Rostock AIM 1469/67, Teil I, Bl. 47.

[6] Die Kopien der Transportlisten befinden sich im Stadtarchiv Barth, AZ 472411.

[7] Feuerregister (1934–1947), Friedhofsverwaltung Neuer Friedhof, Rostock.

[8] Da die Namen mündlich überliefert sind, lässt sich ihre richtige Schreibweise nicht eindeutig feststellen.

[9] Vernehmungsprotokoll Willi Rentmeister vom 22. 11. 1963, in: BStU, HA IX/11, ZUV 4, Akte 8, Bl. 114–115.

[10] Aussage Czeslaw S. vom 30. 6. 1972, in: BArch B 162/9346, Bl. 1432.

[11] Aussage Milorad L. vom 27. 1. 1969, in: BArch B 162/9341, Bl. 356.

[12] Aussage Stevan M. vom 11. 11. 1969, in: BArch B 162/9343, Bl. 699.

[13] Erinnerungsbericht Robert Rentmeister, o.D.,S. 5, in: StA Barth, Rep. 5 II/15 N401, Dok. 34.

[14] Galina Buschujewa-Sabrodskaja an Helga Radau am 6. 2. 1994, S. 10, in: Archiv des Fördervereins Dokumentations- und Begegnungsstättte Barth e.V., Ordner 7; Ljudmila Muratowa, Ne slomlennyje, Rostow am Don, 2008, S. 173.

[15] Volker Koos, Ernst Heinkel, Vom Doppeldecker zum Strahltriebwerk, Bielefeld 2007, S. 180.

[16] Vernehmungsprotokoll Otto Köhler vom 30. 4. 1964, in: BStU, Ast Rostock AIM 1469/67, Teil I, Bl. 97.

[17] Lowell Bennett, Parachute to Berlin, New York 1945, S. 236–237.

[18] Mündliche Auskunft von N.N., damals an den Ermittlungen beteiligt.

[19] Vgl. dazu Insa Eschenbach, NS-Prozesse in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Einige Überlegungen zu den Strafverfahrensakten ehemaliger SS-Aufseherinnen des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück, in: Die frühen Nachkriegsprozesse. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 3, Bremen 1997, S. 65–74; Angelika Meyer, »Ich wollte eine Uniform tragen.« Der »Rostocker Prozess« in den Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit, in: Im Gefolge der SS: Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück, Berlin 2007, S. 198–210.

[20] Information von Oberstleutnant Plößer vom 10. 9. 1987, in: BStU, HA IX/11, RHE 58/87, T. I, Bl. 9.

[21] Ostsee-Zeitung vom 27. 1. 1966, S. 3–4.

[22] Urkunde der Mahn- und Gedenkstätte Barth, in: LA Greifswald, BPA V/6/17/16, Bl. 67.

[23] Maßnahmeplan der Arbeitsgruppe »Gedenkstätten und Museen« der Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei der Bezirksleitung Rostock der SED (Entwurf), o.D., in: LA Greifswald, BPA V/6/17/23, Bl.  178.

[24] Ebenda.