Am 10. März 2024 öffnete das Nationale Holocaust-Museum in Amsterdam in den Niederlanden seine Tore. Zahlreiche Museen des Landes befassen sich bereits mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, oft auch mit Details zur Verfolgung der Jüdinnen und Juden. Andere Museen, wie das Anne Frank Haus in Amsterdam und die Gedenkstätte des ehemaligen Durchgangslagers Westerbork, bieten ortsspezifische Ausstellungen, die der Erinnerung an die Shoah in den Niederlanden gewidmet sind. Sie konzentrieren sich entweder auf die spezifische Geschichte des Ortes oder auf persönliche Schicksale bestimmter Menschen. Bis 2024 gab es allerdings kein nationales Museum, dass die Geschichte der Jüdinnen und Juden in den Niederlanden vor, während und nach der Shoah erzählt. Der vorliegende Artikel berichtet von diesem neuen Museum, von seiner ständigen Ausstellung und von den Ideen, die den Entscheidungen über die Präsentation und Gestaltung des Museums zugrundlagen.
Das Nationale Holocaust-Museum befindet sich im Gebäude der ehemaligen Hervormde Kweekschool, einer Lehrerausbildungsstätte gegenüber dem niederländischen Theater Hollandsche Schouwburg. Während der Shoah richteten die Nazis in diesem Theater eine Sammelstelle für jüdische Frauen, Männer und Kinder ein, die in das Durchgangslager Westerbork gebracht werden sollten. Von dort wurden sie in die Konzentrations- und Vernichtungslager in Nazi-Deutschland und im besetzten Polen deportiert, wo die meisten von ihnen ermordet wurden. Schätzungsweise 46.000 Menschen sollen die Hollandsche Schouwburg passiert haben. Das Gebäude wurde 1962 als Gedenkstätte eingeweiht und ist auch heute noch – nach seiner jüngsten Renovierung – ein Ort der Erinnerung und der Einkehr.
Ab 1942 wurden jüdische Kinder bis zum Alter von 12 Jahren von ihren Eltern getrennt und in einen Kindergarten auf der anderen Straßenseite des Theaters gebracht. Dieser Kindergarten lag neben der Lehrerausbildungsstätte – dem heutigen Museumsgebäude. Da er während des Kriegs als Nebengebäude des Theaters genutzt wurde, konnten in einer einzigartigen Aktion etwa 600 jüdische Kinder von dort gerettet werden.
Der historische Standort innerhalb Amsterdams verleiht dem Museum und der Gedenkstätte für Besucher:innen zusätzliche Ausdruckskraft. Um den Museumsbesuch noch eindrucksvoller zu gestalten, wird die Geschichte des Ortes in mehreren Installationen im Erdgeschoss der beiden Gebäude visualisiert. Die Ereignisse in der Hollandsche Schouwburg und der Hervormde Kweekschool sind gleichzeitig Ausdruck für das Beste und das Schlechteste im Menschen. Durch die Taten des NS-Regimes und seiner niederländischen Kollaborateure wurde die Hollandsche Schouwburg mit Schuld befleckt. Dagegen haben die Rettungsaktionen der Jüdinnen und Juden, die im Theater und im Kindergarten arbeiteten und von Angestellten der Kweekschool und nichtjüdischen Widerstandsgruppen unterstützt wurden, diese Gebäude zu Orten der Hoffnung und des Muts gemacht.
Die Architekt:innen von Office Winhov hatten den Auftrag, das Museumsgebäude leicht und transparent zu gestalten und den ursprünglichen Grundriss der Schule in der neuen Gebäudeform so weit wie möglich zu erhalten. Ein weiterer wichtiger Punkt war eine geschichtsbewusste Umgestaltung der Hollandsche Schouwburg. Eine wesentliche Anforderung bestand für beide Gebäude darin, die direkte Sichtachse von der Straße zum hinteren Gebäudeteil zu erhalten. Der Blick von der Straße zu der Mauer, über die die Kinder während des Kriegs geschmuggelt wurden, und der Blick von der ehemaligen Vorderbühne durch die Fenster des alten Theaters auf die andere Straßenseite verstärken den historischen Charakter dieser Gebäude. Außerdem betonen diese visuellen Effekte die Rolle des Museums als öffentlichen Ort, der von allen besucht werden kann, nichts verbirgt und keine Tabuthemen kennt.
Angesichts der Tatsache, dass sich die Shoah am helllichten Tage ereignete, wird der Innenbereich des Museums wo immer möglich mit natürlichem Licht erhellt. Der Blick durch die Fenster erinnert daran, dass es viele Zeug:innen für diese schrecklichen historischen Ereignisse gab.
Die Ausstellung Die Niederlande und die Shoah im Nationalen Holocaust-Museum bietet einen Überblick über die einzelnen Phasen der Shoah in den Niederlanden. Die europäische Dimension der Shoah wird berücksichtigt, wenn es für das nationale niederländische Narrativ von Bedeutung ist. Mit Exponaten, Fotos, Filmen, Texten, Licht- und Klanginstallationen wird die Geschichte der Judenverfolgung in den Niederlanden erzählt.
Zu Beginn der Ausstellung zeichnet eine Installation zwei parallele Geschichtsverläufe nach. Zwanzig Farbfotografien – eine 1945 noch nicht allzu weit verbreitete Technik – zeigen die Zerstörung verschiedener Städte und Landschaften am Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein Großteil Europas sowie Teile Asiens lagen in Trümmern. Vor diesen Bildern ist eine großformatige Schwarzweißaufnahme als Symbol für die Zerstörung jüdischen Lebens platziert: Ein jüdischer Junge geht im gerade erst befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen an aufgereihten Leichnamen vorbei. Der Junge ist Sieg Maandag aus Amsterdam. Sein Leben aus der Vorkriegszeit war für immer verloren, und das, was er als Opfer der NS-Verfolgung gesehen und miterlebt hat, sollte ihn für sein gesamtes Leben traumatisieren. Auch später – als Ehemann,
Vater und Künstler – konnte er sich nicht von seinen schrecklichen Erlebnissen in Bergen-Belsen distanzieren. Wie andere Shoah-Überlebende musste er versuchen, sein Leben so gut wie möglich in den Griff zu bekommen. In der Einführung wird deutlich, dass der Schwerpunkt des Museums auf der Shoah und nicht auf dem Zweiten Weltkrieg liegt. Für niederländische Besucher:innen ist es nicht selbstverständlich, diese beiden historischen Ereignissen getrennt voneinander zu betrachten.
Nach der thematischen Einführung präsentiert die Ausstellung den Besucher:innen Szenen aus der Zeit vor der Shoah in den Niederlanden. Sie zeigt das jüdische Leben vor dem Krieg und macht deutlich, wie vielfältig die jüdische Bevölkerung in den Niederlanden war. Damals gab es unter den etwa 9 Millionen Menschen in den Niederlanden rund 200 jüdische Gemeinden mit etwa 140.000 Mitgliedern. Obwohl Vorurteile gegen Jüdinnen und Juden im Land verbreitet waren, kam es nur selten zu Gewalttaten.
Die Weltwirtschaftskrise von 1929 traf Deutschland hart und lieferte den Nährboden für den raschen Aufstieg der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP oder Nazi-Partei). Mit der Ernennung Adolf Hitler zum Reichskanzler 1933 verwandelte sich das Land in eine Diktatur. Die Nazis setzten Propaganda und Terror ein, um ihren Einfluss auf die Bevölkerung zu sichern und ihre Macht zu festigen. In den Niederlanden gründeten Faschisten 1931 die Nationaal-Socialistische Beweging (NSB). Sie gab sich zunächst nicht offen antisemitisch. Das änderte sich jedoch 1938 mit dem wachsenden Einfluss der deutschen Nationalsozialisten.
In den 1930er Jahren flüchteten etwa die Hälfte der 500.000 deutschen Jüdinnen und Juden, aber auch viele nichtjüdische Menschen ins Ausland. Einige von ihnen kamen bereits 1933 in die Niederlande, als die ersten Exilsuchenden in der Regel noch willkommen geheißen wurden. Doch schon bald schlug die Stimmung um, und der niederländische Umgang mit jüdischen Asylsuchenden unterschied sich nicht groß von dem anderer Länder. Vorurteile gegenüber Jüdinnen und Juden nährten diese Stimmung. Im Oktober 1938 nahm die Zahl der jüdischen Flüchtlinge weiter zu. Daraufhin schlossen die Niederlande ihre Grenzen.
Ein Jahr später wurde die jüdische Gemeinde in den Niederlanden gezwungen, den Bau eines Flüchtlingslagers in Westerbork in der Provinz Drenthe zu finanzieren. Am 10. Mai 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht die Niederlande. Drei Tage später floh die niederländische Regierung gemeinsam mit der Königsfamilie nach England. Am 14. Mai bombardierten die Nazis Rotterdam. Die Niederlande verlor im Versuch standzuhalten etwa 2.500 Zivilisten und 2.000 Soldaten.
Eine Zivilverwaltung unter Führung des österreichischen Juristen Arthur Seyß-Inquart führte anschließend die nationalsozialistische Herrschaft ein. Das Parlament wurde aufgelöst, demokratische Institutionen wurden abgeschafft. Die öffentliche Verwaltung der Niederlande setzte ihre Arbeit unter der Aufsicht von 2.000 deutschen Beamten fort. Die Nationalsozialisten brachten die niederländischen Behörden schrittweise auf eine Linie mit Nazi-Deutschland.
In der Zeit des Überfalls standen jüdische Menschen vor einem unlösbaren Dilemma: Sollten sie abwarten, fliehen oder Suizid begehen? Das neue NS-Regime erließ innerhalb kürzester Zeit eine ganze Reihe antijüdischer Gesetze. Mit einer Vielzahl von Anordnungen und Vorschriften schufen sie ein Rechtssystem, das jüdische Menschen jeglicher Rechte beraubte. Diese NS-Vorschriften sind an den Wänden der Ausstellungsräume zu sehen. Sie umgeben die Besucher:innen und vermitteln ihnen so einen Eindruck von den täglichen Einschränkungen im Leben jüdischer Menschen. Die meisten nichtjüdischen Menschen in den Niederlanden arrangierten sich nach und nach mit der neuen Situation; an ihren gewohnten Tagesabläufen änderte sich nur wenig.
Nachdem die Nazis durchgesetzt hatten, wer laut ihrer Definition als Jüdin oder Jude galt, begannen sie mit den Registrierungen. Zunächst mussten sich jüdische Menschen bei ihrer Gemeinde melden und ihre jüdischen Großeltern erfassen lassen. Schulen registrierten anfangs nur jüdische Lehrkräfte und später auch jüdische Schüler:innen. Auf Grundlage dieser Daten erstellten die Nazis eigene Listen, und befahlen dem Judenrat im September 1941, ebenfalls Listen anzulegen. Der Judenrat war eine auf Anordnung der Nazis eingerichtete jüdische Verwaltung, die das Alltagsleben der Gemeinde grundlegend regelte. Er wurde auch dazu gezwungen, die Politik der Nazis durchzusetzen. Die Personenkartei des Judenrats ist erhalten und heute eines der zentralen Ausstellungsstücke des Museums. Die Nazis führten neue Vorschriften ein. Sie ordneten die Trennung von jüdischen und nichtjüdischen Menschen in allen Lebensbereichen an: in der Öffentlichkeit, bei der Arbeit, beim Spielen, in Geschäften, im Wohnumfeld und in Partnerschaften. Sie schränkten den Zugang zu Verkehrsmitteln ein und konfiszierten Eigentum. Die neuen Vorschriften untersagten es jüdischen Menschen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wodurch viele von ihnen in Armut gerieten. Da jüdische Menschen keine Arbeit mehr finden konnten, errichten die Nazis Arbeitslager und ließen die neuen Arbeitslosen dort arbeiten. Jüdische Menschen wurden in niederländischen Zügen und von niederländischen Angestellten massenhaft in diese Lager gebracht. Dann führten die Nazis die Pflicht zum Tragen des sogenannten Judensterns ein: Alle jüdischen Menschen mussten dieses Zeichen an ihrer Kleidung tragen. Im Sommer 1942 waren Jüdinnen und Juden in den Niederlanden isoliert und ohne jegliche Rechte. Sie hatten keinerlei Zugang zu Ämtern oder Gerichten: Sie waren vogelfrei.
Der Widerstand gegen die antijüdischen Gesetze verbreitete sich im Zuge einer allgemeinen Ablehnung der zahlreichen Anordnungen, der Verweigerung von Rechten und der Ausgrenzung. Darauf folgte eine letzte Reihe von Gesetzen, die unter anderem ein generelles Reiseverbot umfasste. Im Sommer 1942 begannen die Nazis schließlich mit den ersten Deportationen jüdischer Menschen aus den Niederlanden. Am 26. Juni 1942 verkündeten sie, dass sich alle Jüdinnen und Juden zum Arbeitseinsatz melden müssten.
Nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion durch Ostpolen im Juni 1941 starteten die Nazis ihre Massenmordkampagne mit dem Ziel einer Vernichtung aller Juden Europas. Die Kampagne begann in Mittel- und Osteuropa, wo jüdische Menschen bereits in Ghettos und Arbeitslagern zusammengetrieben worden waren. Auch in den Niederlanden wurde Jüdinnen und Juden befohlen, nach Amsterdam oder in bestimmte Teile der Stadt zu ziehen. Zeitgleich wurden mehrere Deportationszentren eingerichtet, wie das in der Hollandschen Schouwburg. Von dort wurden die Jüdinnen und Juden in Durchgangslager verbracht. Am 15. Juli 1942 verließ der erste Zug das Durchgangslager Westerbork in Richtung Osten und der Massenmord an jüdischen Menschen aus den Niederlanden begann.
Die Deportation der ersten Jüdinnen und Juden aus den Niederlanden war ein neuer Tiefpunkt für Europa. Heinrich Himmler, Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, nahm die Ankunft dieses ersten Zugs in Auschwitz zum Anlass, das Vernichtungslager und die dortigen Betriebsabläufe zu inspizieren. Er beobachtete durch ein Guckloch in einer der hermetisch abgeschlossenen Gaskammern, wie Hunderte von Frauen erstickt wurden.
Weil das Informationsmonopol bei den Nationalsozialisten lag, konnten jüdische Menschen nur spekulieren, was diese Deportationen bedeuteten. Viele von ihnen taten alles, um den Razzien zu entgehen. Rund 28.000 niederländische Jüdinnen und Juden tauchten unter. Damit gingen sie selbst – und ihre nichtjüdischen Unterstützer:innen – ein großes Risiko ein. Sie lebten in der ständigen Gefahr, verraten und entdeckt zu werden. Es gab nicht allzu viele nichtjüdische Menschen, die bereit waren, ihnen zu helfen. Zahlreiche Exponate in der Ausstellung machen deutlich, wie nichtjüdische Retter:innen geholfen haben. Nur 16.000 der Versteckten überlebten die Shoah. Viele jüdische Menschen versuchten, die Deportationen auf anderem Wege zu umgehen. Einige versuchten, die Nazis davon zu überzeugen, dass sie nicht jüdisch waren. Andere hofften zu entkommen, weil sie mit einer nichtjüdischen Person verheiratet waren, und etwa 6.000 Jüdinnen und Juden nahmen den gefährlichen Weg einer Flucht ins Ausland auf sich.
Für die Mehrzahl der Jüdinnen und Juden waren weder Flucht noch Untertauchen eine Option. Sie kamen in das Durchgangslager Westerbork in Drenthe und ab Januar 1943 in das Lager Herzogenbusch in Nordbrabant. Dort wurden alle jüdischen Menschen registriert und auf Baracken verteilt. Woche für Woche füllten die Nazis einen Deportationszug mit Jüdinnen und Juden. Wer einen Arbeitsplatz im Lager oder die richtigen Kontakte hatte oder krank war, konnte der nächsten Deportation entgehen. Die Nazis nutzten Ausnahmeregelungen, um ihre Opfer zu manipulieren: Wenn eine Person eine Woche Aufschub erhielt, musste dafür eine andere in den Zug steigen. Ab 1944 deportierten die Nazis neben niederländischen Jüdinnen und Juden auch Sinti:zze und Rom:nja. Für die Mehrzahl der jüdischen Menschen war das Lager ihre letzte bekannte Adresse in den Niederlanden.
Mehr als 107.000 niederländische Jüdinnen und Juden wurden deportiert, viele von ihnen in Güterzügen. Die Fahrt in die Konzentrations- und Vernichtungslager in Deutschland, in die von den Nazis besetzte Tschechoslowakei und ins besetzte Polen dauerte zwei oder drei Tage. Die meisten wurden nur wenige Stunden nach ihrer Ankunft vergast und verbrannt; Spuren ihrer Existenz wurden vernichtet. Andere, die als nützlich erachtet wurden, wurden am Leben erhalten. Doch auch sie gingen schon bald an der tödlichen Mischung aus harter Arbeit, Hunger und Erschöpfung zugrunde.
Mit der Kapitulation Nazi-Deutschlands vor den Alliierten am 8. Mai 1945 hatte die blutige NS-Herrschaft über Europa eine Ende. Staatliche Hilfen und das niederländische Rote Kreuz erreichten die Lager nur langsam, sodass viele überlebende Jüdinnen und Juden Schwierigkeiten hatten, nach Hause zurückzukehren. Bei ihrer Ankunft empfing sie in der Heimat eisiges Schweigen. Der Antisemitismus war während des Krieges zur Norm geworden und blieb bestehen. Offiziell machte die niederländische Regierung keinerlei Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen, sondern nur zwischen Niederländern und Deutschen. Dies hatte zur Folge, dass viele deutsche Jüdinnen und Juden, die vor der Shoah in den Niederlanden gelebt hatten, nun wie die Nationalsozialisten als Feinde betrachtet wurden. Viele jüdische Menschen konnten nicht in ihr Zuhause zurückkehren, weil dort inzwischen andere Menschen lebten und ihr Hab und Gut an sich genommen hatten. Informationen über vermisste Familienangehörige drangen ebenfalls nur langsam durch.
Der Kampf um die Rückkehr jüdischer Waisenkinder und um die Rückgabe oder Restitution von Eigentum, aber auch die Zurückhaltung der Behörden bei der Bestrafung von Kriegsverbrechern bereiteten den Überlebenden zusätzlichen Schmerz. Einige von ihnen sahen keinerlei Zukunft für die jüdische Gemeinde in den Niederlanden. Einige zogen nach Israel. In der Anfangszeit gedachten Jüdinnen und Juden der Shoah in ihren Gemeinden. Mit der Zeit wurde der Holocaust jedoch auch bei nationalen Gedenkveranstaltungen anerkannt. Aber noch heute ist die jüdische Gemeinde in den Niederlanden von zunehmendem Antisemitismus bedroht.
Die Vision des Museums ist von einem Zitat aus dem Babylonischen Talmud (Menachot 43b) inspiriert: Looking upon leads to awareness, awareness leads to action / Das Sehen bringt zur Erinnerung, und die Erinnerung bringt zum Tun. Das Museum hat eine Form der Präsentation gewählt, mit der Besucher:innen sehen und verstehen, betrachten und gedenken können und die ihre Teilhabe und ihren Gemeinsinn fördert. Diese Aspekte des Besuchserlebnisses dienten dem Museum als wesentliche Kriterien für Entscheidungen über die inhaltliche und ästhetische Gestaltung der Ausstellung: Exponate, Texte, Zitate, Filmausschnitte, Audiosegmente und Zeitzeugenberichte, die historischen Gebäude selbst, der Grundriss, das Design und die Sprache, die Farbgestaltung und die Lichtverhältnisse tragen alle zusammen zum Narrativ der Ausstellung bei. Gemeinsam vermitteln sie Informationen über die Verfolgung und die Ermordung und über die Menschen, die diese Taten möglich gemacht haben.
Die Gestaltung der Räume und das Ausstellungsdesign orientieren sich ebenfalls an den Grundsätzen des Architekturentwurfs. Viele Museen zum Holocaust und zum Zweiten Weltkrieg setzen eher auf graue Farbtöne, raue Oberflächen, dunkle und harte Materialien und architektonische Nachbildungen oder Darstellungen fiktionaler Orte, um Geschichte über die Atmosphäre erfahrbar zu machen. Im Gegensatz dazu präsentiert sich das Nationale Holocaust-Museum als lichterfüllter Ort. Es bietet kein immersives Erlebnis, in dem sich Besucher:innen durch Kulissen bewegen. Die Shoah war eine Zeit der beispiellosen Demütigung und Ungerechtigkeit: Für alle Menschen, die diesen Schrecken am eigenen Leib erfahren mussten, käme eine Inszenierung dieser Erniedrigung einem Affront gleich. Die ästhetische Gestaltung und Anordnung ist vielmehr auf einen respektvollen Umgang mit den einzelnen Objekten und den damit verbundenen persönlichen Geschichten ausgerichtet. Auf diese Weise wird Geschichte über die Objekte und die einfühlsamen Schilderungen von Schicksalen für das Museumspublikum erfahrbar gemacht.
Die Ausstellung – Die Niederlande und die Shoah – beginnt im zweiten Stock der ehemaligen Lehrerausbildungsstätte mit einer kurzen Einführung. Anschließend geht es durch eine Reihe von Räumen, die sich im ersten Stock fortsetzt und mit einem Abschnitt zu den Deportationen und Ermordungen endet. Aus dem zentralen Bereich der einzelnen Etagen können sich die Besucher:innen in verschiedene Richtungen bewegen und das Museum auf eigenem Wege erkunden.
Jüdinnen und Juden in den Niederlanden können nicht – wie die Nazis es wollten – auf den Status erniedrigter Opfer reduziert werden. Auch wenn sie von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden, hatten jüdische Menschen in den Niederlanden auch ein Leben vor diesen Ereignissen. Viele jüdische Familien waren seit Jahrhunderten in den Niederlanden und insbesondere in Amsterdam ansässig. Sie waren Teil der Gesellschaft und der Kultur des Landes, arbeiteten in Geschäften, dienten in der Armee, malten oder praktizierten Medizin. Das Museum will mit ihren Geschichten einen Eindruck von ihren Lebensentwürfen vermitteln – und nicht nur von dem grausamen Schicksal, das ihnen bevorstand. Eine solche Reduzierung würde ihrer Erinnerung nicht gerecht werden. Weil die Personen in vertrauten Alltagssituationen gezeigt werden und sich dadurch nicht von heutigen Menschen unterscheiden, empfinden die Besucher:innen weniger Distanz zu ihnen. Persönliche Erzählungen machen Geschichte greifbar und regen das Publikum an, mehr darüber erfahren zu wollen.
Ausgehend von diesen Überlegungen hat das Museum in Zusammenarbeit mit OPERA Amsterdam und Studio Louter ein ganz besonderes Gestaltungskonzept entwickelt: Insgesamt 19 so genannte Vergiss-mein-nicht-Installationen erzählen die Geschichten von 19 in der Shoah ermordeten Jüdinnen und Juden. Sie stehen auf dünnen, zuweilen leicht schrägen Ständern und bringen dadurch die Verletzlichkeit des Individuums im Angesicht des überwältigenden, gnadenlosen Infernos zum Ausdruck. Jede Installation ist in einer anderen Form und aus einem anderen Material gestaltet, um der Einzigartigkeit einer Person und ihrer Existenz gerecht zu werden. An den Ständern ist ein kurzer Text angebracht, der etwas über das jeweilige Objekt und das dazugehörige Foto erzählt. Das Foto changiert kontinuierlich zwischen dem schwarzweißen Original und einer Farbaufnahme. Sobald sich jemand dem Exponat nähert, schaltet sich ein sanftes Licht ein. Mit der Anwesenheit einer Person, die sich für das Leben dieser Menschen interessiert, wird die Erinnerung an jeden Einzelnen von ihnen ins Licht gerückt. Sie sind nicht vergessen. Und über ihre Geschichten erfahren die Besucher:innen mehr von diesen Personen. Die Vergiss-mein-nicht-Installationen sind über die gesamte Ausstellung verteilt und stellen über die persönlichen Gegenstände immer einen inhaltlichen Bezug zu den jeweiligen Räumen her.
In Bezug auf die Täter:innen wurde das Prinzip der Anerkennung zugrunde gelegt. Einzelne Täter:innen, die auf verschiedenen Ebenen an der Judenverfolgung in den Niederlanden beteiligt waren, werden in normalen Alltagssituationen gezeigt. Darüber hinaus wurde ein Designkonzept entwickelt, das das verheerende Ausmaß an Komplexität der Verbrechen verdeutlichen soll: Ausgrenzung und Raub, Diskriminierung, Deportation und Ermordung. Bereitwilliger als in allen anderen Ländern unter NS-Herrschaft spannen die Täter:innen in den Niederlanden ein Netz aus quasi-legalen Verordnungen und Erlässen, um die Shoah vorzubereiten und durchzuführen. Mit immer neuen Verordnungen, Bekanntmachungen und Anordnungen schufen die Nazis eine Rechtsordnung, die jüdische Menschen jeglicher Rechte beraubte. Die ersten Befehle kamen kurz nach der Machtübernahme der Nazis, und ihr Strom riss bis 1945 nicht ab. Die Wände der Ausstellung sind über und über mit diesen juristischen Floskeln bedeckt, die den Prozess der Einordnung, Ausgrenzung, Diskriminierung, Verarmung, Ausbeutung, Erfassung, Deportation und Ermordung steuerten. Meterweise sind die Wände mit diesen Schriftstücken plakatiert, um ein allgegenwärtiges Gefühl der Unterdrückung, der willkürlichen Entrechtung und der wachsenden Zahl der Restriktionen zu vermitteln. Sie stehen für das ganze Ausmaß dieser von den Nazis so gründlich geplanten Verbrechen. Gleichzeitig zeigen die vielen Verordnungen auch, welchen Gefahren Rechtsstaatlichkeit ausgesetzt ist und dass sie geschützt werden muss.
Neben den Vergiss-mein-nicht-Installationen und den abgedruckten antijüdischen Maßnahmen, denen Besucher:innen in vielen Bereichen des Museums begegnen, präsentiert die Ausstellung auch zahlreiche Objekte, Dokumente, Fotos und Filme: Die rund 2.500 Exponate stammen aus Dutzenden Museumssammlungen in den Niederlanden und im Ausland.
Hinterleuchtete großformatige Fotos zeichnen zusammen mit inszenierten Filmfragmenten die chronologische Abfolge der Ereignisse nach.
Materielle Objekte machen Geschichte greifbar und stellen gleichzeitig einen persönlichen Bezug her. Alltagsgegenstände – wie das einfache karierte Hemd des neunjährigen Berthold Barenholz – erhalten wegen ihrer Herkunft, ihrer Nutzung und der dazugehörigen Geschichte eine zentrale Bedeutung als Träger des kulturellen Erbes. Berthold Barenholz versteckte sich unter einem Fußboden vor zwei niederländischen Kopfgeldjägern, nachdem sein Versteck aufgeflogen war. Sie schossen durch die Holzdielen und verwundeten den Jungen. Diese Einschusslöcher sind im Hemd zu sehen. Seine Eltern waren durch den Juden Friedrich Weinreb, dem sie vertrauten, mit einem Verwandten in Westerbork in Kontakt geblieben. Unglücklicherweise kamen die Nazis der Familie auf diese Weise auf die Schliche. Sie wurden festgenommen, überlebten die Deportation nach Bergen-Belsen und wurden über ein Jahr später im deutschen Tröbitz befreit. Zu diesem Zeitpunkt trug der Junge noch immer dasselbe Hemd, weil er nichts anderes hatte. Das Kleidungsstück stellt eine Verbindung zwischen all diesen Ereignissen her. Es steht für die verzweifelte Hoffnung der Menschen im Versteck, für ihren Verrat und dafür, wie sie der Verhaftung vergeblich zu entkommen versuchten, deportiert wurden und überlebten. Ein einziges Objekt kann von unermesslichem historischen Wert sein, wenn es all diese Geschichten miteinander verbindet. Für das Museum liegt dieser Wert in der wiedererkennbaren und unmittelbaren Alltäglichkeit dieser Gegenstände, die uns Geschichte näherbringen, unsere Empathie wecken und uns zum Handeln anregen.
Andere Objekte sind für ein breites Publikum weniger klar erkennbar. Sie stehen für die jüdische Identität ihrer ursprünglichen Eigentümer:innen. Zu diesen traditionellen jüdischen Gegenständen gehören der Tallit (Gebetsmantel), der Chumash (Pentateuch) und die Mesusa (Schriftkapsel am Türrahmen). Andere typische jüdische Objekte sind hebräische Schriftstücke und eine Heiratsanzeige in Form einer Esther-Schriftrolle, die eher einen weltlichen Zweck erfüllte. All diese Gegenstände sind nicht nur Teil der Geschichte der Shoah. Sie vermitteln zudem einen Eindruck von jüdischen Traditionen und Bräuchen, von jüdischer Kultur und von der Identität ihrer Eigentümer:innen. Darüber hinaus wurden weitere Objekte aus den gesamten Niederlanden für dieses nationale Museum zusammengetragen. Und weil das Land in Kriegszeiten noch eine Kolonialmacht war, gibt es auch Ausstellungsstücke zu den niederländischen Gebieten.
Viele Objekte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs befinden sich inzwischen in einem ausgesprochen fragilen Zustand. Papier war zu dieser Zeit ein knappes Gut und seine Qualität entsprechend häufig minderwertig. Dasselbe trifft auf Kleidungsstücke zu: Viele von ihnen sind abgetragen und nicht besonders gut erhalten. Objekte aus Holz, Metall oder Zelluloid waren nicht besonders beständig. Fast alle Gegenstände wurden gereinigt. Einige von ihnen wurden für eine angemessene und verantwortungsbewusste Präsentation restauriert und in einigen Fällen ausgebessert. Tatsächlich entfaltet das materielle Erbe aus der Shoah noch mehr Wirkung, wenn es nicht schön wiederhergestellt und aufpoliert wurde, sondern offensichtliche Abnutzungserscheinungen als Spuren seiner bewegten Vergangenheit bewahrt. Aus diesem Grund wurde bei der Restaurierung so wenig wie möglich und nur so viel eingegriffen, dass das Objekt erhalten und angemessen präsentiert werden konnte.
Im Museum übernimmt neben Konzepten, Designs und Objekten auch die Sprache eine entscheidende Funktion. In den Ausstellungstexten wird vor allem das Wort Shoah und nicht der gängigere Begriff Holocaust verwendet. Der Unterschied zwischen den beiden Begriffen wird in der Einführung erläutert: Das Wort Holocaust stammt aus dem Griechischen und bedeutet völlig verbrannt/Brandopfer, wohingegen das hebräische Wort Shoah eine Katastrophe bezeichnet.
Die Frage der Wortwahl ist ein sensibles Thema, wenn es um Begriffe geht, die die Nationalsozialisten selbst verwendeten. Sie nutzten häufig Euphemismen und Ausdrücke, die Jüdinnen und Juden verunglimpften und entmenschlichten. Beispielsweise sprachen sie lieber von Transporten als von Deportationen, was sich auch im Umgang der NS-Täter mit ihren Opfern widerspiegelt. Die Nazis benutzten viele beleidigende Ausdrücke für ihre Opfer. Gleichzeitig verwendeten sie auch Worte, die ihre Anordnungen verharmlosen sollten. Beispielsweise sprachen Bürokraten lieber von Evakuierungen als von Deportationen, um die Verschleppung jüdischer Menschen in Konzentrationslager als rechtschaffenen und rechtmäßigen Akt erscheinen zu lassen. Im Museum dient die geschriebene wie auch die gesprochene Sprache als wichtigstes Mittel der Kommunikation mit dem Publikum. Außerdem sollen Fragen in den Ausstellungstexten die Besucher:innen dazu ermutigen, genau hinzusehen, nachzudenken und zu handeln.
Viele der Exponate im Nationalen Holocaust-Museum rufen Emotionen hervor und regen das Publikum an, die eigene Haltung und Verantwortung zu hinterfragen. Einige Besucher:innen sind nach dem Besuch sehr aufgewühlt. Sie alle verlassen die ständige Ausstellung mit einer Mahnung im Hinterkopf: Jetzt, da ihr davon wisst, vergesst es nicht. Seid nicht gleichgültig! Dies ist die Botschaft der Vergiss-mein-nicht-Installation am Ende der Ausstellung, die drei Fotos einer unbekannten Familie und ihre letzten Worte zeigt: »Vergesst uns nicht!« Viele Museen zur Shoah bieten ihrem Publikum einen Ort der inneren Einkehr, um sich niederzulassen und nachzudenken, oder einen Ort des Gedenkens. Zahlreiche Gärten wurden speziell zu diesem Zweck gestaltet.
Annemiek Gringold ist Chefkuratorin des Nationalen Holocaust-Museums.