Das Urnensammelgrabfeld U1/U2

Auf dem Friedhof Altglienicke in Berlin-Treptow/Köpenick
09/2022Gedenkstättenrundbrief 207, S. 8-14
Klaus Leutner

Ein Bericht von Klaus Leutner unter Mitwirkung von Katharina Struber, Klaus Gruber, Anne-Susann Schanner und Ronald Seiffert[1]

Einleitung

Im Gedenkstättenrundbrief 135/2007 hatte ich unter dem Titel: »Im Namen des Volkes? Auf der Grabsuche nach Bronislawa Czubakowska« über meine damaligen Bemühungen, das Grab dieser im Gefängnis Berlin Plötzensee am 15. August 1942 hingerichteten polnischen Zwangsarbeiterin zu finden, berichtet. Bei dieser Grabsuche im Jahre 2005 besuchte ich auch den an der östlichen Peripherie Berlins liegenden Friedhof Berlin-Altglienicke, nahe dem Flughafen Schönefeld. Das dortige Grabfeld machte auf mich einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Ein Gedenkstein war inmitten einer wildwuchernden Hecke zu erkennen.

Der mir eher bescheiden erscheinende Grabsteintext aus den 1950er-Jahren verriet mir, dass hier 1284 »Antifaschisten« bestattet worden sind. Weder wann hier bestattet noch wer hier bestattet wurde, erschloss sich mir beim Lesen. Ich beschloss damals, der Sache auf den Grund zu gehen. Die Friedhofsverwaltung hatte mir auf meinen Wunsch hin ihre Bestattungsunterlagen zur Einsichtnahme zur Verfügung gestellt. So konnte ich in den alten Folianten feststellen, dass die Namen der hier bestatteten NS-Opfer durchaus bekannt waren.[2] Ich fand sogar den Hinweis auf die Bestattung von Urnen aus der Hinrichtungsstätte Plötzensee im Jahre 1952[3], ebenso Eintragungen von der Beisetzung von Urnen mit der Asche von T4-Opfern und sehr vielen KZ-Opfern.

In diesem Aktenkonvolut befanden sich auch die vom KZ-Sachsenhausen jeder versandten Urne beigegebenen Beisetzungsbelege. So erfuhr ich zumindest durch diese Urnen-Dokumente, wann und wo die Toten eingeäschert wurden. Berufsbezeichnungen der Getöteten fanden sich ebenso in den Unterlagen. Darunter die Bezeichnungen Priester, Pfarrer und/oder Geistlicher. Die entsprechenden Listen aus dem KZ-Sachsenhausen und seinen Außenlagern sind kurz vor Kriegsende 1945 von der SS vernichtet worden.

Mein anfängliches Engagement für eine bessere gärtnerische Pflege dieser Grabanlage wandelte sich zu einer immer stärker werdenden Überlegung, wie man diese Grabstätte zu einem würdigen Ort des Gedenkens für Hinterblieben und Interessierte und zu einem Lernort entwickeln könnte. Nach langen Jahren und intensiven Bemühungen ist es 2021 gelungen, für das Grabfeld in Altglienicke eine würdige äußere Form herzustellen. Dieses bürgerschaftliche Engagement wird mit der Einarbeitung von Kurzberichten von drei unmittelbar Beteiligten in diesem Artikel deutlich.

Wissenswertes zum Urnensammelgrabfeld U1/U2

Das Urnensammelgrabfeld U1/U2 wurde im Oktober 1940 offensichtlich nach Verhandlungen der SS mit der Friedhofsverwaltung angelegt[4].

Am 6. Dezember 1940 fanden die ersten Urnenbeisetzungen statt. Bis Kriegsende im Mai 1945 wurden hier beigesetzt:

1100 Urnen mit Asche von Toten aus Konzentrationslagern, überwiegend aus dem KZ Sachsenhausen, einige aus den KZ Dachau und Buchenwald. Unter den Urnen des KZ Sachsenhausen befinden sich die Urnen von 19 katholischen Priestern – 18 Polen und einem Österreicher, 150 Urnen von Ermordeten aus Tötungsanstalten der T 4-Aktion, 80 Urnen von unbekannten Hinrichtungsopfern aus dem Gefängnis Plötzensee, die hier aber erst 1952 beigesetzt wurden. (Der Anatom Stieve fand diese Urnen im Keller seines Institutes bei Aufräumarbeiten.)

Urnen von zivilen Bombenopfern.

Nach Religionszugehörigkeit sind hier bestattet worden: über 700 Tote mit katholischem, über 250 Tote mit evangelischem Glaubensbekenntnis, über 330 Tote ohne oder mit uns unbekanntem Glaubensbekenntnis und über 50 Tote, die rassenideologisch von den Nazis als Juden eingestuft wurden. In den überlieferten Unterlagen fehlen oftmals die Angaben über die Religionszugehörigkeit, daher sind die Zahlenangaben als Mindestzahlen zu betrachten. Eine Aufteilung nach Staatsangehörigkeiten ergibt folgendes Bild: über 800 Tote aus Deutschland, über 430 Tote aus Polen und über 100 Tote anderer Staatsangehörigkeiten.

Der Umgang mit den Gräbern

Der Erhalt und die Pflege von Opfergräbern ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte der beiden deutschen Staaten. Die Einrichtung von Ehrenhainen sowie -friedhöfen und deren Pflege im Bereich der damaligen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurde durch Befehl Nr. 184 der sowjetischen Militäradministration geregelt und ging später in die Verantwortung der Kommunen der DDR über.[5] Die Ruhefristen auch für das Urnensammelgrab U1/U2 in Altglienicke wurden durch die entsprechenden DDR-Gesetze geregelt.

Es gab bereits 1967 beim Stadtgartenamt des Ostberliner Magistrats Überlegungen, diese Gräber nach Ablauf der gesetzlichen Ruhefrist einzuebnen. In einem Schreiben vom 31. Mai 1967 wird dazu ausgeführt: »Da von den genannten Gräbern bei weiterer Erhaltung erhebliche Beisetzungsflächen einer erneuten Belegung entzogen würden, andererseits diese Gräber nur noch zu etwa 20 % gepflegt werden, schlagen wir vor, die Gräber nach Ablauf der gesetzlichen Ruhefrist einzuebnen […]. Wir bitten um eine Grundsatzentscheidung […].«[6] Zum Glück ging der Einebnungsdrang am Urnensammelgrab U1/U2 des Friedhofs Altglienicke vorüber.

Die Neugestaltung

Der Berliner Senat hat Mitte November 2018 einen Gestaltungswettbewerb ausgelobt. Die Jury vergab den 1. Preis an die Arbeitsgemeinschaft »struber_gruber mit outside! landschaftsarchitektur« (Wien, Österreich). Die Wettbewerbssieger hatten die aktive Teilnahme von Namenspaten in den Mittelpunkt ihres Projektes gestellt.

Die der Gestaltung zugrunde liegenden Gedanken formulierten sie wie folgt: »Die Erinnerung wird von Menschen getragen. Nicht von Inschriften auf Gedenksteinen, auf Mahnmalen oder Grabsteinen, sondern sie wird lebendig gehalten von jenen, die der Toten gedenken: Um derartige Räume für den gemeinschaftlichen Aspekt des Erinnerns zu eröffnen, suchten wir Interessierte, die jeweils einen Namen schreiben sollten, um die erhaltenen Schriftzüge als Zeichen der Erinnerung auf der Begräbnisstätte zu verewigen. Den Namen eines Toten per Hand zu schreiben bedeutet, ein paar Minuten, so lange das Schreiben dauert, diesem Toten zu widmen, sich schreibend dieses Lebens zu erinnern. Die Neugestaltung der Begräbnisstätte selbst sollte einen kontemplativen Ort des Totengedenkens in den bestehenden Friedhof einbinden. Auf einer Wand aus Glas sind in individuellen Schriftzügen die Namen und Lebensdaten der Menschen zu lesen, deren Asche an dieser Stelle ihre letzte Ruhe gefunden hat. Deren bekannte Namen sind auf zehn ebenfalls mit Bronze gefassten Glastafeln als lichte Ausnehmungen in dunklem, grün gehaltenem Glas zu lesen. Die 1370 Namen sind etwa so groß wie auf einem Grabstein geschrieben, das ergibt eine Fläche von 23 m Länge und 2 m Höhe.

Mittels eines Bronzebandes wird das Urnengrabfeld umfasst, mit immergrünen Bodendeckern bepflanzt und so als Grab bezeichnet. Eine Inschrift auf dem Band gibt Auskunft über die Toten, deren Aschen dort als Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft begraben wurden.«

Am 27. Januar 2020 haben über 900 Personen im Ratssaal Köpenick jeweils einen Namen der Toten geschrieben. Das war das Ergebnis eines seit Monaten geplanten Prozesses der Gestalter aus Österreich und des Senats von Berlin. Eingeladen zur Mitwirkung wurde mittels Website. Außer vielen einzelnen Personen und Familien haben sich verschiedene Gruppierungen beteiligt: Angehörige mehrerer Pfarreien, Vertreter von Feuerwehr, Polizei und Bundeswehr, Omas gegen rechts, einige Fans des FC Union Berlin. Mehrere Schulklassen waren der Einladung gefolgt.

»In einer konzentrierten, durchaus feierlichen Atmosphäre entstanden die Schriftzüge, die anschließend digitalisiert, gesetzt und per keramischen Digitaldruck in die Glasscheiben eingebrannt wurden.«, beschreiben die beiden Gestalter aus Österreich die dann erfolgte Realisierung ihrer Gedanken.

Am 27. September 2021 fand die feierliche Einweihung der neu gestalteten Begräbnisstätte und des Erinnerungsortes statt. Einige der Anwesenden suchten die Namen derer, die sie geschrieben hatten, manche hinterlegten Blumen, so manche fotografierten Namen.

Wegen der pandemiebedingten Einschränkungen war es nicht möglich, alle Namenspaten zur Einweihung der Begräbnisstätte einzuladen. Um dennoch den neu gestalteten Erinnerungsort vorstellen zu können, fanden Führungen an drei Tagen vor der Eröffnung zusammen mit den Gestaltern und dem Initiator statt, die von jeweils etwa 30 Personen in Anspruch genommen wurden.

Pädagogische Möglichkeiten für den Erinnerungs- und Lernort

Das Denkmal mit der Grabstätte soll als Ausgangspunkt für historisches Lernen weiterentwickelt werden. Der Berliner Landesverband des Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. erarbeitete mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, dem Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit, dem Projekt aras* und der Partnerschaft für Demokratie ein kostenfreies, modulares Bildungsprojekt »Den Opfern ihren Namen geben«, das vor allem für Schulklassen ab der Jahrgangsstufe 9 geeignet ist.

Das Bildungsangebot kann im Rahmen einer Projektwoche oder auf ein Schulhalbjahr verteilt stattfinden.

Den Friedhof Altglienicke als Ausgangspunkt nehmend, allen voran das Gräberfeld U1/U2 und seinen Gedenkort, will das Bildungsprojekt Jugendliche über die Opfer als Personen mit Namen für historisches Lernen motivieren. Inhaltlich werden folgende Themen behandelt: Die Gräberstätte mit ihren Veränderungen als Beispiel für den Umgang des Nationalsozialismus mit seinen Gegnern und der Nachkriegserinnerung in ihren unterschiedlichen Phasen kennenzulernen. Die Auseinandersetzung mit den Biografien der dort bestatten Personen soll anregen, sich Wissen über die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft anzueignen, sowie zu erfahren, welche Folgen Krieg und Gewaltherrschaft für Menschen haben können. Durch die Kooperation mit den beiden Gedenk- und Dokumentationsstätten soll Kontextwissen erworben werden können. Zudem stehen dort pädagogische Mitarbeitende für die Gruppenbetreuung zur Verfügung.

Weitergehende Projektmöglichkeiten sind in Planung, die den Fokus noch mehr auf entdeckendes und forschendes Lernen richten. Ziel ist dabei, Jugendliche mehr an der Erinnerungskultur partizipieren zu lassen: Die eingehende Beschäftigung mit der Frage, wie sie sich an was erinnern wollen, führt zu eigenen Initiativen zum Gedenken. Die Möglichkeiten sind vielfältig, angefangen mit erweiterten Rechercheprojekten zu Biografien und dem Nachzeichnen der Lebenswege der Menschen in einer Mini-Ausstellung bis hin zu schulischen Patenschaftsprojekten mit »Herz und Hand«, die eine pflegerische Arbeit des Gedenkortes mit der thematisch-inhaltlichen Auseinandersetzung kombinieren. Im Rahmen einer Patenschaft wird ein Peer Teaching – Lernende werden zu Lehrenden – angestrebt.

Interessenten können sich für weitere Informationen unter bildung-berlin@volksbund.de melden.

Den Friedhof Altglienicke mit dem Urnensammelgrab U1/U2 finden Sie in der Schönefelder Chaussee 100, in 12524 Berlin. Geöffnet ist der Friedhof von April–September: 7.30–20 Uhr und von Oktober–März: 7.30–18 Uhr.
 

Klaus Leutner, von Beruf Eisenbahn-Ingenieur, hat sich in der Rente als ehrenamtlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte Sachsenhausen und Vorsitzender der »Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde engagiert. Er ist Initiator zur Neugestaltung der Grabanlage U1/U2 in Berlin-Altglienicke.

Klaus Gruber, studierte Architektur in Wien und Barcelona und war im Rahmen seiner selbstständigen Tätigkeit 13 Jahre in Barcelona hauptsächlich im Wohnbau aktiv, seit 2012 liegt sein Arbeitsschwerpunkt in Wien.

Katharina Struber, studierte an der Kunstuniversität Linz und der Akademie für Bildende Künste Düsseldorf und lebt und arbeitet in Wien. Ihre Auseinandersetzung mit sozialen Prozessen im urbanen, öffentlichen Raum spiegelt sich in einer breit gefächerten Palette künstlerischer Techniken wider. Klaus Gruber und Katharina Struber haben zusammen die hier besprochene Gedenkanlage entworfen.

Ronald Seiffert ist Buchdrucker. Er hat als Mitglied im Bürgerverein Altglienicke die Entwicklung der Gedenkanlage fotografisch dokumentiert.

Anne-Susann Schanner ist Zeithistorikerin und als Bildungsreferentin für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. im Landesverband Berlin für die schulische und außerschulische politisch-historische Bildungsarbeit und Projektleitung verantwortlich.
 

[1] Katharina Struber und Klaus Gruber (Wien), Anne-Susann Schanner (Berlin) unterstützen diesen Beitrag mit der Darstellung ihrer Konzepte und Ronald Seiffert (Berlin) bei der Verfügungstellung von Fotografien. Ihnen gilt mein herzlicher Dank.

[2] Friedhofsverwaltung Treptow/Köpenick: »Urnen- (U II) Sammelgrabstellenbuch des Friedhofs in Altglienicke

[3] Hingerichtete Personen wurden fast ausnahmslos den jeweiligen Anatomischen Instituten zu Lehrzwecken zur Verfügung gestellt. Der damalige Leiter der Berliner Anatomie, Prof. Stieve, war medizinischer Nutznießer der massenhaften NS-Hinrichtungen im Gefängnis Plötzensee.

[4] Arolsen Archives, Copy of 1.1.38.0/82 152 370 in conformity with ITS Digital Archive, Allgemeine Informationen zum KZ Sachsenhausen.

[5] Senatsverwaltung für Umwelt–, Verkehrs- und Klimaschutzpolitik [SenUVK]: (Befehl Nr. 184 des »Oberbefehlshabers der sowjetischen Militäradministration […]« vom 30. 12. 1945.

[6] SenUVK:, Schreiben vom 31. 5. 1967 des »Magistrat von Groß-Berlin […] Stadtgartenamt«. Vorgang 5600.