Die USC Shoah Foundation nach 30 Jahren

Berichte aus der Vergangenheit als Zeugnisse für die Zukunft
07/2024Gedenkstättenrundbrief 214, S. 56-65
Dr. Jennifer L. Rodgers

Im Frühjahr 1993 kam ein US-Filmteam unter Leitung von Regisseur Steven Spielberg für 72 Tage ins polnische Krakau, um einen Film über den Holocaust zu drehen. Spielberg widmete sich mit diesem Projekt der Lebensaufgabe des Holocaust-Überlebenden Leopold Pfefferberg, die Geschichte des deutschen Fabrikanten Oskar Schindler zu erzählen, der mit der Rettung von Leopold selbst und mehr als 1.000 Juden und Jüdinnen zu einem ungewöhnlichen Helden avanciert war.[i] Schindlers Liste, der auf Zeitzeugenberichten der so genannten Schindlerjuden basiert, entwickelte sich über Nacht zum Erfolg und innerhalb kürzester Zeit zu einer der bekanntesten filmischen Darstellungen des Holocaust.

In der Öffentlichkeit und in akademischen Kreisen löste Schindlers Liste viel Aufmerksamkeit und Debatten aus. Es waren vor allem Spielbergs Erfahrungen aus der Arbeit mit Überlebenden am Set, die den Anstoß für die Einrichtung der Survivors of the Shoah Visual History Foundation gaben – heute bekannt unter dem Namen USC Shoah Foundation – The Institute for Visual History and Education.

Während die Ursprünge der USC Shoah Foundation vielen geläufig sind, ist nur wenigen bewusst, welchen überaus bedeutsamen Einfluss die Organisation auf die akademische und öffentliche Geschichtsschreibung der letzten 30 Jahre hatte. Das Visual History Archive bildet mit über 56.000 Zeitzeugenberichten den Kern der USC Shoah Foundation, die eine breitere und komplexere Perspektive auf den Holocaust geboten und den Dialog zwischen den Gemeinschaften in Wissenschaft, Bildung, Politik und Öffentlichkeit befördert hat. Anlässlich des Jubiläums der USC Shoah Foundation wirft dieser Artikel einen kurzen Blick auf die letzten 30 Jahre des Instituts und seinen Start ins kommende Jahrzehnt.

Das Visual History Archive ist natürlich nicht das einzige Archiv dieser Art. Das Fortunoff Video Archive of Holocaust Testimonies an der Yale University, eine Partnerorganisation der USC Shoah Foundation, nutzte das Medium videografierter Interviews zur Dokumentation der Einzelschicksale von Überlebenden erstmals 1979 – in einer Zeit, in der sich das Bewusstsein für den Holocaust in den USA erst langsam zu entwickeln begann.[ii] Doch in der Zeit zwischen der Einrichtung des Fortunoff Archive und der Premiere von Schindlers Liste war das Interesse für den Holocaust in Wissenschaft und Öffentlichkeit kontinuierlich gestiegen, was zum Teil auch auf den 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs sowie der Veröffentlichung dokumentarischer Sammlungen aus dieser Ära zurückzuführen war, die hinter dem Eisernen Vorhang lange Zeit nicht zugänglich gewesen waren. Der zeitliche Kontext erwies sich als günstig: Nach Spielbergs Aufruf an Überlebende in der »Oprah Winfrey Show« konnte das ursprüngliche Ziel von 50.000 Zeitzeugenberichten schnell übertroffen werden. In den kommenden sechs Jahren trug die Shoah Foundation nicht nur das weltweit größte Archiv mit videografierten Zeitzeugenberichten von Holocaust-Überlebenden zusammen, sondern entwickelte sich auch zum Dreh- und Angelpunkt einer Sammlung, die Historiker Peter Fritzsche als »Archives of Loss« (Archive der Verluste) bezeichnete. Es bildete ein globales so genanntes interstitielles Archiv – das wie ein interstitielles Gewebe in der Medizin und damit wie eine Schnittstelle funktioniert –, an der Schriften, Audio- und Videoaufnahmen und Objekte in einem Archiv zum Holocaust zusammenlaufen.[iii]

Mit dem ersten Interview am 18. April 1994 startete die Shoah Foundation ihre Mammutaufgabe, persönliche Erfahrungsberichte aus dem Holocaust zu dokumentieren. Das Institut schulte 2.300 Kandidat:innen für die Interviews und engagierte 1.000 Videofilmer:innen und mehr als 100 Regionalkoordinator:innen und Mitarbeiter:innen in 34 Ländern, um den Ablauf der Interviews in den verschiedenen Regionen zu koordinieren. Von 1994 bis 2000 wurden Interviews mit Holocaust-Überlebenden und Zeitzeugen in insgesamt 56 Ländern und 32 Sprachen geführt.

Das Institut ließ sich bei der Entwicklung seiner Interviewtechnik von Historiker:innen, Psycholog:innen und Oral-History-Expert:innen beraten. Für die Gespräche wählte die Organisation das Format Lebensgeschichten, d. h. die Interviewten sprachen über ihr Leben in der Zeit vor, während und nach dem Holocaust. Dieser Ansatz dient dazu, die Würde aller einzelnen Menschen, die die Schrecken des Holocaust erleiden mussten, zu wahren und ihre Geschichten und Vermächtnisse sowohl für die Wissenschaft als auch für die Öffentlichkeit in einen breiteren Kontext zu stellen. Mit Hilfe von Leitfäden für Schulungen, Gespräche und Videoaufnahmen stellte die Organisation zudem sicher, dass die Interviews nach einem einheitlichen Ansatz geführt wurden.

In den Büros der Shoah Foundation, die in Wohnwagen auf dem Gelände der Universal Studios untergebracht waren, entwickelten die Mitarbeitenden innovative Ansätze, um die unzähligen Stunden Betacam-SP-Videomaterial zu erfassen, zu archivieren und zu katalogisieren. Im Januar 1999 nahm die Survivors of the Shoah Visual History Foundation ihren 50.000sten Zeitzeugenbericht auf. Im Anschluss ging die Anzahl neuer Zeugenberichte zurück, und es wurde mit der Katalogisierung des Materials begonnen. Inzwischen würde es über 13 Jahre dauern, die vollständige Sammlung von 56.000 Zeitzeugenberichten im Visual History Archive anzuschauen. Angesichts des schieren Umfangs von Videomaterial sah sich das Institut mit der Frage konfrontiert, wie es die Zeitzeugenberichte zugänglich und durchsuchbar machen könnte. Und zwar nicht nur für die Überlebenden und ihre Angehörigen, sondern auch für Wissenschaftler:innen, Lehrkräfte, Studierende, die Medien und die breite Öffentlichkeit, die alle mehr über den Holocaust erfahren wollten. Um den Zugang aller Nutzer:innen zu den Zeitzeugenberichten sicherzustellen, entwickelte die Organisation ein Verfahren und patentierte Technologien, um das Material mit Hilfe eines Indexierungsverfahren zu katalogisieren.

Ein Team aus über 100 Mitarbeiter:innen verbrachte mehr als sieben Jahre mit der Indexierung der Originaldokumente aus der Holocaust-Sammlung der USC Shoah Foundation – ein Prozess, der noch heute nicht abgeschlossen ist.

Die meisten Zeitzeugenberichte sind im Visual History Archive in einmütige Segmente unterteilt. Dafür sichten Fachkräfte die einzelnen Aufnahmen und weisen den einzelnen Segmenten Indexbegriffe zu den im Verlauf der Interviews erwähnten Inhalten zu. Indexbegriffe umfassen geografische Bezeichnungen, Zeiträume, Personennamen sowie typische Erlebnisse und Gesprächsthemen. Bei der Indexierung werden zudem biografische Angaben der Interviewten aus ihrem Vorabfragebogen (Pre-Interview Questionnaire) aufgenommen, die die Grundlage des biografischen Profils der einzelnen Interviewpartner:innen bilden.

Das Visual History Archive lässt sich vollständig durchsuchen. Das Indexsystem besteht – ähnlich wie am Ende eines Buchs – aus einem kontrollierten Vokabular. Allerdings verweist es nicht auf eine bestimmte Buchseite, sondern auf einen Zeitcode und damit auf einen Moment innerhalb des Zeitzeugenberichts, an dem bestimmte Themen vorkommen. Die Struktur des kontrollierten Vokabulars der USC Shoah Foundation richtet sich nach dem ANSI/NISO Z39.19 Standard für den Aufbau, das Format und die Verwaltung monolingualer Thesauri. Alle Indexbegriffe sind unabhängig von der Originalsprache des Interviews in englischer Sprache. Derzeit gibt es mehr als 68.000 Indexbegriffe, von denen mehr als 80 Prozent geografische Orte bezeichnen.

Jeder Indexbegriff besteht aus einer sorgfältig recherchierten und auf Primär- und Sekundärquellen gestützten Definition. Da sich unser Verständnis vom Holocaust stetig weiterentwickelt, wird dieser Index regelmäßig aktualisiert, um inklusive Terminologie und Bezeichnungen zu berücksichtigen. Neue Begriffe werden bei der Indexierung nur ab dem Zeitpunkt ihrer Aufnahme und nicht nachträglich in bereits indexierten Zeitzeugenberichten berücksichtigt. Aus diesem Grund beinhaltet die Definition auch den Zeitpunkt, zu dem ein Indexbegriff aufgenommen wurde, sodass Nutzer:innen über einen Kontext verfügen, an dem sie sich bei ihrer Suche orientieren können, beispielsweise durch die Eingabe verschiedener Indexbegriffe.

Im Januar 2006 wurde die Survivors of the Shoah Visual History Foundation Teil des Dana and David Dornsife College of Letters, Arts and Sciences an der University of Southern California und in USC Shoah Foundation – The Institute for Visual History and Education umbenannt.

Das Archiv der Shoah Foundation mit 52.000 Berichten von Überlebenden und anderen Zeitzeugen des Holocaust wurde an die Universität übertragen, die eine Führungsrolle bei der Entwicklung digitaler Bibliotheken mit modernsten technologischen Ressourcen für den Erhalt von Archivmaterial übernimmt. Mit dieser Neuorganisation konnte auch der internationale Zugang zum Archiv zu Forschungs- und Lernzwecken sichergestellt und die Rolle der Shoah Foundation als eine der Forschung und der Wissenschaft verpflichtete Einrichtung bekräftig werden.

Nur ein Jahr später ging die USC Shoah Foundation Partnerschaften mit Organisationen ein, um weitere Genozide und Massengräueltaten im Visual History Archive zu berücksichtigen. Das Archiv enthält inzwischen Zeitzeugenberichte zum Völkermord an den Tutsi in Ruanda 1994, zum Völkermord in Kambodscha, zum Völkermord an den Armeniern, zum Massaker von Nanjing, zum Genozid in Guatemala sowie Zeitzeugenberichte aus dem Bürgerkrieg im Südsudan, in der Zentralafrikanischen Republik und von der massiven Gewalt gegen die Rohingya sowie Erfahrungsberichte über zeitgenössischen Antisemitismus. Die neueste Sammlung umfasst Berichte von Überlebenden und Zeugen der Hamas-Angriffe in Israel vom 7. Oktober. Darüber hinaus wächst das Visual History Archive in zwei Hauptbereichen: zum einen durch die Aufzeichnung neuer Zeitzeugenberichte, häufig in Zusammenarbeit mit lokalen Partnern, und zum anderen durch Partnerschaften mit weiteren Einrichtungen, die der USC Shoah Foundation bestehende Sammlungen zur Verwahrung und Indexierung im Visual History Archive anvertrauen.

Heute umfasst das Visual History Archive mehr als 56.000 Zeitzeugenberichte und über 115.000 Stunden vollständig digitalisierter Interviews. The USC Shoah Foundation hält elf Patente für Technologien zur digitalen Sammlungsverwaltung, die sie kontinuierlich weiterentwickelt und die andere Einrichtungen in diesem Bereich nutzen.

Die Tätigkeit des Instituts beschränkt sich bei weitem nicht auf die Archivierung. Sie umfasst auch Partnerschaften sowie Bildungs- und Wissenschaftsinitiativen. In Zusammenarbeit mit Museen, Universitäten, Filmschaffenden und Einrichtungen in aller Welt stellt die USC Shoah Foundation Millionen von Menschen alljährlich Zeitzeugenberichte zur Verfügung. Dank fortschrittlicher Technologien kann die Öffentlichkeit eine neue Form der Interaktion mit diesen Berichten erleben, beispielsweise über virtuelle Realität, interaktive Biografien oder Vorort-Zeitzeugenberichte, die den Besucher:innen historischer Stätten eine persönliche Sicht der Ereignisse vermitteln.

Die Division of Academic Programs unterstützt, fördert und produziert interdisziplinäre Wissenschafts- und Forschungsprogramme zum Holocaust und zu seinen Folgen. Die Programme umfassen wissenschaftliche und für die Öffentlichkeit bestimmte Publikationen, Forschungsstipendien und Kolloquien, Vortragsreihen und Kooperationen mit Lehrkräften und Studierenden an Universitäten. Wissenschaftler:innen und die breite Öffentlichkeit sind zur Teilnahme an diesen Aktionen eingeladen, die darauf abzielen, den umfangreichen Forschungs- und Wissenschaftskorpus in leicht zugängliche Ressourcen zu übertragen.

Die Division of Education stellt Angebote für Lehrkräfte vom Kindergarten bis zur Universität zur Verfügung. Bildungsaktivitäten und Fortbildungen für Lehrkräfte nutzen die Kraft des Zeugnisses, um Lernende mit Menschen zu konfrontieren, deren Leben durch Ereignisse wie den Holocaust, den Völkermord an den Tutsi in Ruanda 1994, den Genozid an indigenen Menschen in Guatemala in den 1980er Jahren und den Genozid an den Armeniern in der Zeit des Ersten Weltkriegs zerstört wurden.

Diese Partnerschaften und Forschungs- und Lernprogramme haben dazu beigetragen, dass die USC Shoah Foundation mit ihrer Arbeit und ihrer Mission zu einer unverzichtbaren Quelle für Informationen über und Einblicke in den Holocaust und andere Völkermorde geworden ist. Im Jahr 2023 schauten Nutzer:innen Zeitzeugenberichte in einer Länge von insgesamt 223 Millionen Minuten auf verschiedenen Plattformen, wie dem YouTube-Kanal des Instituts, der Website und der Bildungsplattform IWitness. Hinzu kamen Nutzer:innen, die sich Videos direkt im Visual History Archive angeschaut haben.

Die USC Shoah Foundation – The Institute for Visual History and Education begeht ihr 30-jähriges Bestehen unter der Überschrift »Zeugnisse für die Zukunft« und wird sich weiterhin darum bemühen, Zeitzeugenberichte all denjenigen zugänglich zu machen, die sich über die Geschichten und das Erbe des Holocaust informieren und ihrerseits dazu beitragen möchten, eine bessere Zukunft für die Menschheit zu schaffen.

Dr. Jennifer L. Rodgers ist Direktorin des Academic Programs der USC Shoah Foundation und Adjunct Professorin für Geschichte.

[i] Siehe Frank Manchel: »A Reel Witness: Steven Spielberg’s Representation of the Holocaust in Schindler’s List«, The Journal of Modern History, Vol. 67, No. 1 (März 1995), S. 84. Siehe auch Scott Feinbergs Interview mit Spielberg vom Februar 2024 in The Hollywood Reporter für weitere Informationen über den Hintergrund seines Films und dessen Botschaft: www.hollywoodreporter.com/movies/movie-features/schindlers-list-oral-history-steven-spielberg-liam-neeson-1235830436/ (letzter Zugriff am 24. April 2024).

 

[ii]www.fortunoff.library.yale.edu/about-us/our-story/ (letzter Zugriff am 1. Mai 2024). Siehe auch Peter Novick, The Holocaust in American Life, New York: Mariner Books, 2000.

 

[iii] Siehe Peter Fritzsche: »The Archive and the Case of the German Nation«, in Archive Stories: Facts, Fictions, and the Writing of History, ed. Antoinette Burton (Durham, NC: Duke University Press, 2005), S. 200–204. Näheres zum Konzept der interstitiellen Archive siehe Jennifer Rodgers: »›Taking Birth Back into Our Own Hands‹: Childbirth, Feminism and the Interstitial Archive in West Germany«, Women’s History Review, Special Issue on Archiving Feminism, Vol. 33, No. 1 (2024), S. 60–75.