Die Zukunft der Erinnerung

Die Österreichische Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz und die Shoah Namensmauern Gedenkstätte in Wien.
07/2024Gedenkstättenrundbrief 214, S. 42-55
Hannah M. Lessing und Maria Luise Lanzrath

Mit der Eröffnung der Österreichischen Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz und der Einweihung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte in Wien wurden im Herbst 2021 zwei bedeutende vom Nationalfonds betreute Gedenkprojekte umgesetzt.

 

Die Österreichische Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz: Österreichische Erinnerungskultur im Wandel

Die symbolische Bedeutung von Auschwitz kann nicht oft genug betont werden. Yehuda Bauer sagte einmal über das berüchtigte Todeslager: »Auschwitz ist zum Symbol für das Böse schlechthin geworden, und das zu Recht. Für das jüdische Volk ist es der größte jüdische Friedhof der Welt, ein Friedhof ohne Gräber.«[1]  Seine Worte machen deutlich, wie sehr die Gräueltaten, die vor 80 Jahren in Auschwitz begangen wurden, noch immer den Verlauf der Weltgeschichte beeinflussen. Auschwitz hat gezeigt, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind: »Homo homini lupus«: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.[2] Wer die Hölle der Konzentrationslager nicht am eigenen Leibe erfahren hat, kann noch nicht einmal im Ansatz nachvollziehen, welche Last der Erinnerung die Überlebenden mit sich tragen.

Auschwitz steht heute als pars pro toto für die unzähligen Konzentrationslager, die in ganz Europa errichtet wurden, für das Netz des Schreckens, das einen ganzen Kontinent überspannte. Angesichts der beispiellosen Verbrechen, die während der NS-Herrschaft begangen wurden, fällt dem ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager und heutigen Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau eine einzigartige und zentrale Rolle in der europäischen Gedenkkultur zu: Es soll Nationen und Gemeinschaften im Gedenken und im Lernen über den Holocaust zusammenbringen.

Auschwitz und alles, wofür es steht, besitzt eine so große Symbolkraft, dass die Österreichische Ausstellung in der ehemaligen Häftlingsbaracke von »Block 17« im Stammlager von Auschwitz einen ganz besonderen Stellenwert erhält. Sie ist zu einem zentralen Ort der österreichischen Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit geworden.

Am 19. März 1978 eröffnete in »Block 17« die erste Österreichische Ausstellung. Kuratiert unter Leitung der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft Museum Auschwitz gemeinsam mit Überlebenden des Lagers und ausgehend vom damaligen österreichischen Selbstbild als »erstem Opfer« Hitlers, war sie ohne Zweifel ein Kind ihrer Zeit. In den drei darauffolgenden Jahrzehnten – in denen die ursprüngliche Ausstellung unverändert blieb – wurde die Rolle der Österreicher:innen in den NS-Verbrechen kaum thematisiert. Allerdings wich diese Opferthese mit den Jahren einem differenzierteren Blick auf die österreichische Vergangenheit. Gleichzeitig wurden kritische Stimmen und Forderungen nach einer Neugestaltung der Ausstellung immer lauter, woraufhin sich die Historiker:innen Dr. Brigitte Bailer, Dr. Heidemarie Uhl und Dr. Bertrand Perz wissenschaftlich mit diesem Thema auseinandersetzten. 2008 legten sie mit ihrem Abschlussbericht eine Grundlage für eine Neugestaltung vor.

Im Oktober 2013 schloss der Nationalfonds im Einvernehmen mit dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau die Ausstellung von 1978. Sämtliche Ausstellungstafeln und -objekte wurden fachgerecht demontiert und in Österreich archiviert. Das Datenmaterial – Fotos sowie Transkriptionen aller Ausstellungstexte – wird in einer Datenbank beim Nationalfonds verwaltet. Im Jahr 2015 gab der Nationalfonds einen ausführlichen Dokumentationsband über die Ausstellung von 1978 heraus.

Die Neugestaltung der Ausstellung wurde zu einem Langzeitprojekt des Nationalfonds und war Ausdruck eines späten und schrittweisen Bekenntnisses Österreichs zu seiner historischen Mitverantwortung: Anstatt die Vergangenheit weiter unter den Teppich zu kehren, wandte man sich einer aktiven Erinnerungskultur zu. Dabei distanzierte sich Österreich sukzessive von der Selbstwahrnehmung als »erstem Opfer« Hitlers und stellte sich seiner (Mit-)Verantwortung an den NS-Verbrechen.

Der Nationalfonds war für die Koordinierung von Gestaltung und Kuratierung der neuen Ausstellung ebenso zuständig wie für die dringend notwendige Renovierung des Ausstellungsgebäudes. Alle Arbeiten wurden in enger Abstimmung mit dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau durchgeführt. Gegenwärtig ist der Nationalfonds für den laufenden Betrieb der Ausstellung verantwortlich.

Nach ihrer historischen Überarbeitung bietet die Ausstellung einen nuancierteren Blick auf die österreichische Geschichte. Sie beleuchtet insbesondere die (Mit-)Täterschaft von Österreicher:innen an den NS-Verbrechen. Die Entwicklung und Umsetzung der Inhalte übernahm ein Team aus Kurator:innen und Wissenschaftler:innen unter Leitung von Hannes Sulzenbacher und unter wissenschaftlicher Leitung von Albert Lichtblau von der Universität Salzburg.

Die Ausstellung trägt den Titel »Entfernung. Österreich und Auschwitz«. Der Begriff »Entfernung« verweist sowohl auf die geografische Distanz zwischen Österreich und Auschwitz als auch auf die physische »Entfernung« der Menschen: zunächst aus ihrer unmittelbaren Umgebung – aus ihrem Zuhause, von ihren Familien – und anschließend für immer aus dem Reich der Lebenden.

Nach dem Eingangsbereich der Ausstellung müssen die Besucher:innen zunächst eine »Engstelle« passieren, wo sie mit den Videobildern der jubelnden, den »Anschluss« enthusiastisch begrüßenden Massen konfrontiert werden – Bilder, denen sie nicht entkommen können. Anschließend gelangen sie in den Hauptbereich der Ausstellung, bestehend aus zwei Ebenen, die aus realen und virtuellen Räumen geschaffen wurden: »Hier«, in Auschwitz, werden Objekte aus dem Lagerleben in Vitrinen gezeigt. »Dort«, in Österreich, treten die realen, aber nicht greifbaren Objekte aus der Heimat lediglich als Videoprojektionen in Erscheinung. Die geografische Distanz zwischen Österreich und Auschwitz wird hier ebenso deutlich spürbar wie die emotionale Distanz der Häftlinge zu ihrer Heimat Österreich, die Welten von ihrer Lebensrealität im Lager entfernt schien. Auschwitz ist exakt 289,46 km Luftlinie entfernt von Wien – das ist weniger als die Distanz zwischen Wien und Vorarlberg, dem westlichsten Bundesland der Republik. Und doch lag für die Auschwitz-Häftlinge damals Österreich in unerreichbarer Ferne.

Etwa 90 Objekte vermitteln einen Eindruck von den Ereignissen sowohl in Österreich als auch in Auschwitz: von den Anfängen, den Strukturen des NS-Apparats und der Verfolgung, den (begrenzten) Handlungsmöglichkeiten innerhalb des NS-Systems und schließlich der Befreiung von Auschwitz und Österreich.

Hervorgehoben sei das digitale Gästebuch, das eine gegenwärtige Verbindung zwischen Auschwitz und Österreich schafft: Besucher:innen können auf dem Bildschirm eine persönliche Botschaft hinterlassen, die anschließend nach Österreich übertragen und auf der Ausstellungs-Website sowie in der Dauerausstellung im Haus der Geschichte Österreichs als »Nachricht aus Auschwitz« veröffentlicht wird.

Die Ausstellung bietet auch Raum für kollektives Gedenken und individuelles Erinnern. Ein zentrales Element sind die einzigartigen Glasfenster, die der Auschwitz-Überlebende Heinz Sussmann eigens für die Ausstellung von 1978 gestaltet hat. In ihnen hat er die Opfer aus Glasscherben zusammengesetzt, »als ganze Menschen, die sie ursprünglich gewesen sind«, wie Sussmann erklärte. Eines der Fenster widmete er seinem Sohn, der als Neugeborener in Auschwitz ermordet wurde. Insbesondere für die Angehörigen der Opfer ist Auschwitz zuallererst ein Ort des Gedenkens.

Die Ausstellungstexte sind in einer klaren und ruhigen Sprache gehalten. Über die sorgfältig ausgewählten Ausstellungsstücke und Einzelschicksale, von denen die Ausstellung berichtet, erhalten die Besucher:innen einen persönlichen Eindruck von den Opfern als Individuen und Menschen unterschiedlichster Herkunft und Überzeugungen. Sie erfahren von tragischen persönlichen Schicksalen, wie dem der fünf Jahre alten Ida Petermann, deren Geschichte im letzten Teil der Ausstellung im Bereich »Dort« dokumentiert ist. Gemäß den Rassengesetzen der Nazis galt sie als »Zigeunerkind« und wurde 1944 von einer Kinderfürsorgerin mit dem Zug aus dem städtischen Kinderheim in Salzburg in das Konzentrationslager Auschwitz II-Birkenau gebracht, wo sie nach ihrer Ankunft ermordet wurde. In der Ausstellung lesen wir den beflissenen Antrag der Fürsorgerin auf Rückerstattung der Kosten für die Überstellung des Kindes.

Darüber hinaus bekommen die Besucher:innen auch kleine Objekte zu sehen, von denen jedes für sich eine ganz besondere Bedeutung für ihre ursprünglichen Besitzer:innen hatte und einen speziellen Aspekt der Verfolgungserfahrung in sich trägt – wie etwa eine kleine Buddha-Figur, die zu einem »Überlebensobjekt« für die Person geworden war, die sie ins Lager schmuggeln konnte. Die Besucher:innen können selbst ein Objekt wählen, das sie besonders bewegt, und die Erinnerung daran mit sich nehmen.

Die Ausstellung wurde in einer Zeit konzipiert, als die Stimmen der letzten Überlebenden nach und nach verstummten. Künftig muss sie für diese Menschen sprechen und von den Einzelheiten ihrer Verfolgung, vom Schicksal der österreichischen Opfer in Auschwitz, vom mutigen Widerstand österreichischer Häftlinge und von der österreichischen (Mit-)Täterschaft berichten.

Für Menschen in Österreich und weltweit ist die Ausstellung auf einer internationalen Ebene Ausdruck für das aktive Geschichtsbewusstsein und für die Verantwortung der Republik gegenüber den Opfern. Den Besucher:innen soll die Ausstellung eine stete Mahnung sein, dass es überall und jederzeit wieder zu derartigen Gräueln kommen kann. Menschenrechtsverletzungen, Rassismus und Verfolgung gab es schon vor Auschwitz, und es gab und gibt sie auch weiterhin. Auschwitz dient uns als eindrückliche Warnung, wie dünn die Decke der Zivilisation ist, und wie wenig es braucht, damit der Mensch zur Bestie wird – eine Mahnung, dass die Menschheit stets nur einen kleinen Schritt von den unermesslichen Schrecken entfernt ist, die sich dort ereignet haben.

 

Die Shoah Namensmauern Gedenkstätte

Wenige Woche nach der Eröffnung der Österreichischen Ausstellung in Auschwitz wurde am 9. November 2021 im Zentrum Wiens die Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer aus Österreich eingeweiht.

Zu den zentralen Aufgaben des Nationalfonds gehört die Wahrung und Weitergabe der Erinnerung. Dieser Verpflichtung wird die neue Gedenkstätte auf besondere Weise gerecht.

Die Shoah Namensmauern Gedenkstätte geht auf die Idee und den unermüdlichen Einsatz eines Überlebenden aus Wien zurück, der einen Ort des Gedenkens für die jüdischen Opfer aus Österreich schaffen wollte. Sein Name, Kurt Yacov Tutter, ist untrennbar mit der neuen Gedenkstätte verbunden.

Kurt Yacov Tutter, der heute in Kanada lebt, wurde 1930 in Wien geboren. Im Jahr 1939 floh er mit seiner Familie nach Belgien. Seine Eltern kamen im Holocaust ums Leben, Kurt und seine Schwester überlebten.

Der Nationalfonds steht seit seinen Anfängen mit Kurt Tutter in Kontakt: Um das Jahr 1996 wandte sich Kurt an den Nationalfonds mit der Bitte um Unterstützung bei der Suche nach einem verschollenen Familienmitglied. Viele Jahre schon war er auf der Suche nach seiner Cousine, Regine Cohen, die er zuletzt 1939 in Wien gesehen hatte. Noch Jahrzehnte nach dem Holocaust wussten weder Kurt noch Regine, die er liebevoll »Regi« nannte, vom Verbleib des/der jeweils anderen. Wie es das Schicksal so wollte, konnte der Nationalfonds in Erfahrung bringen, dass Regine am Leben war – sie hatte als einzige nahe Verwandte der Geschwister den Holocaust überlebt. Der Kontakt wurde hergestellt, und schon bald waren Kurt und Regi, zunächst am Telefon und später auch von Angesicht zu Angesicht, wiedervereint. Seitdem ist Kurt Tutter dem Nationalfonds eng verbunden.

Kurt Yacov Tutter ist ein bemerkenswerter und willensstarker Mann. Ihm hatte schon immer ein Ort gefehlt, an dem er seiner Eltern gedenken konnte. Es gab keinen Grabstein, auf dem ihre Namen standen. Also setzte er sich viele Jahrzehnte seines Lebens für einen Ort ein, an dem die Namen der Opfer bewahrt würden. Sein Wunsch nach einem Ort der persönlichen Erinnerung, den er mit vielen Überlebenden und Nachkommen der Opfer teilt, war ihm dabei ein unerschöpflicher Quell der Motivation.

 

Von der Idee zur Umsetzung

Die Idee für die Shoah Namensmauern Gedenkstätte kam Tutter vor vielen Jahren, als er 1974 die belgische Holocaust-Gedenkstätte Mémorial National aux Martyrs Juifs de Belgique in Brüssel besuchte. Einen vergleichbaren Ort des Gedenkens gab es in Wien schlichtweg nicht.

Bereits Simon Wiesenthal hatte vorgeschlagen, eine Gedenkstätte nach dem Vorbild des Vietnam Veterans Memorial in Washington D.C. zu errichten, »eine Mauer mit den Namen der einzelnen Deportierten«.[3] Als im Jahr 2000 auf dem Wiener Judenplatz das Denkmal nach einem Entwurf von Rachel Whiteread eingeweiht wurde, hatte Wien endlich seine eigene Holocaust-Gedenkstätte – doch es fehlten noch immer die Namen. Zwar gab es Gedenktafeln mit den Namen der Opfer im »Stadttempel«, der Synagoge in der Wiener Innenstadt, doch keinen öffentlichen Ort des persönlichen Gedenkens.

Kurt Tutter blieb seiner ursprünglichen Idee eines Ortes des namentlichen Erinnerns treu: »Jeder einzelne dieser Namen ist mit der Identität eines Menschen verbunden. Diese Österreicherinnen und Österreicher haben hier gelebt, Familien gegründet, studiert und an Schulen unterrichtet, gearbeitet, Berufe ausgeübt und Unternehmen geführt, den Militärdienst absolviert, Bücher geschrieben, Musik komponiert und auf unterschiedlichste Weise zum allgemeinen Gut des Landes beigetragen.«

Im Jahr 2017 griffen schließlich Michel Friedman und Moshe Kantor auf der internationalen Antisemitismus-Konferenz in Wien »An End to Antisemitism« den Gedanken von Namensmauern auf, und die Idee nahm langsam, aber sicher Gestalt an.

Der lange Weg von der Idee zur Umsetzung war für Kurt Tutter und den Verein zur Errichtung einer Shoah Namensmauern Gedenkstätte mit zahlreichen Hindernissen verbunden. Die Suche nach einem möglichen Standort erwies sich dabei als besondere Herausforderung. Doch Kurt Tutter verlor niemals den Mut oder den Glauben daran, dass sich sein Traum eines Tages würde verwirklichen lassen. Über zwei Jahrzehnte arbeitete er beharrlich auf sein Ziel hin. Dabei konnte er stets auf die Unterstützung des Nationalfonds zählen. Sein Durchhaltevermögen zahlte sich schließlich aus – sein Vorschlag traf auf fruchtbaren Boden und wurde von der Politik aufgegriffen. Im Gedenkjahr 2018 wurden erste Schritte zur Errichtung der Gedenkstätte unternommen, und die Arbeiten begannen.

Das Projekt stand unter der Schirmherrschaft des Nationalratspräsidenten und wurde von der österreichischen Bundesregierung – von der auch ein wesentlicher Teil der Finanzierung stammte – gemeinsam mit den Bundesländern, der Stadt Wien, der Österreichischen Industriellenvereinigung und der Österreichischen Nationalbank umgesetzt. Darüber hinaus kamen private Spenden im Rahmen eines Fundraising-Dinners zusammen. Die Gesamtkosten für die Gedenkstätte beliefen sich auf 5,3 Millionen Euro.

Die Bauarbeiten begannen im Sommer 2020; die ersten Namen wurden Anfang 2021 eingraviert.

 

Auswertung der Daten

Die eingravierten Namen und Daten der mehr als 64.000 Menschen an der Gedenkstätte stammen aus der Datenbank der Shoah-Opfer des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW). Von 1992 bis 2001 erfasste das Dokumentationsarchiv die biografischen Daten und Todesumstände von rund 62.000 österreichischen Holocaust-Opfern. Im Sommer 2020 erfolgte ein weltweiter Aufruf zur Überprüfung der Namen. Nach jahrelangen intensiven Recherchen enthält die Datenbank inzwischen Einträge zu rund 65.000 Personen.

Das Dokumentationsarchiv legte der Erfassung von »Jüdinnen und Juden aus Österreich« eine weite Definition zugrunde, die auch Bürger:innen aus der Ersten Republik, Menschen, die auf dem Gebiet des heutigen Österreich geboren wurden oder dort mindestens 10 Jahre vor dem »Anschluss« gelebt hatten, sowie Personen mit Bürgerrechten auf dem Gebiet des heutigen Österreich einschloss.

 

Ein fortlaufendes Projekt

Weiterhin werden neu ermittelte Namen von Opfern in die Steintafeln eingraviert. Die Forschungen zu den Schicksalen der Opfer sind nicht abgeschlossen; es werden auch künftig immer wieder Namen hinzugefügt werden, damit diese Menschen ebenfalls einen Platz im kollektiven Gedächtnis erhalten. Notwendige Änderungen und Ergänzungen von Namen oder Daten werden einmal jährlich auf einer Zusatztafel eingraviert. Seit Öffnung der Gedenkstätte wurden mehr als 100 weitere Namen auf diese Weise hinzugefügt.

Auch durch Medienberichte über die neue Gedenkstätte kamen weitere Namen ans Licht. Menschen aus Österreich und dem Ausland, die in der Presse von den Namensmauern gelesen hatten, meldeten sich mit Informationen über das Schicksal ihrer Angehörigen. Das Projekt ist ein work in progress – es ist lebendige Geschichte.

 

Gedenken an alle Opfer

Jüdinnen und Juden machten die überwältigende Mehrheit der Oper des Nationalsozialismus aus, und die Shoah Namensmauern Gedenkstätte ist vor allem ihrer Erinnerung gewidmet. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Nationalsozialisten viele andere Opfergruppen und Einzelpersonen aus verschiedensten Gründen verfolgt haben: aus politischen Gründen, wegen ihrer Abstammung, Religion, Nationalität, sexuellen Orientierung, wegen körperlicher oder geistiger Behinderung oder wegen des Vorwurfs der sogenannten Asozialität. Deshalb wird auf einer separaten Tafel aller weiteren Opfergruppen und Verfolgten des NS-Regimes gedacht.

Eine weitere Zusatztafel beschreibt die Idee zur Gedenkstätte sowie die Geschichte ihrer Entstehung und nennt die Unterstützer:innen des Projekts.

Aufgrund der besonderen historischen Bedeutung der Shoah Namensmauern Gedenkstätte tragen die Stadt Wien und der Nationalfonds die gemeinsame Verantwortung für ihren Erhalt und den laufenden Betrieb.

 

Eröffnung

Die Gedenkstätte wurde am 9. November 2021 eröffnet. Während der feierlichen Einweihung ließ der Wiener Oberrabbiner Jaron Engelmayer den Shofar erklingen – Klänge der Mahnung und Erinnerung.

Die Gedenkstätte erstreckt sich über eine Gesamtfläche von rund 2.500 m² und besteht aus Natursteinmauern mit einer Bogenlänge von ca. 187 Laufmetern. Ihre elliptische Form schafft einen geschützten Rückzugsort zum besinnlichen Gedenken. Eine ständige »Durchwegung« wird durch die grüne Insel in der Mitte der Gedenkstätte verhindert. Die neun Bäume stehen für die neun Bundesländer Österreichs. Die 160 Granitplatten mit den eingravierten Namen der Opfer, angeordnet in einem Oval, bieten einen beeindruckenden Anblick, insbesondere bei Nacht, wenn Kerzen die Namen sanft beleuchten. Die Gedenkstätte bietet einen ebenso zentralen wie ruhigen Ort, wo des Schicksals der Opfer gedacht und ihr Leben geehrt werden kann.

 

»Das Leben der Toten ruht in der Erinnerung der Lebenden.«[4]

Jeder dieser Namen erinnert an ein ausgelöschtes Leben – es sind die Namen von Menschen, die allesamt ihr eigenes, ganz persönliches Leben, ihre Familien, Hoffnungen und Träume hatten: Menschen, die von ihrem Umfeld geliebt und geschätzt wurden, und die zu Österreich gehörten. Hinter jedem dieser Namen steht eine ganze Welt, die verloren gegangen ist. Die Geburts- und Todesdaten machen uns die Schrankenlosigkeit des Mordens schmerzlich bewusst – wir finden die Namen von Männern und Frauen jeden Alters, manche über 100 Jahre alt, und – noch schwerer fassbar – kleinen Kindern und sogar Babys.

Mit der Namensmauern Gedenkstätte hat die Erinnerung an das verlorene jüdische Leben in Österreich ein neues Zentrum im Herzen Wiens erhalten, einen Ort der stillen Einkehr, der keiner weiteren Worte bedarf.

Die Gedenkstätte ist auch zu einem Ort der Begegnung geworden: Für die Familien der Opfer bietet die Shoah Namensmauern Gedenkstätte einen Platz, an dem sie gemeinsam ihrer ermordeten Angehörigen gedenken können. Für die Menschen in Österreich ist sie ein Ort der Begegnung mit der Geschichte. Vor den Tafeln legen Besucher:innen – unter ihnen viele Nachkommen der Opfer – kleine Steine als Ausdruck der Erinnerung nieder. Darüber hinaus besuchen heute viele Wien-Reisende die Gedenkstätte als Ort der Besinnung und Kontemplation.

Seit ihrer Einweihung wird die Gedenkstätte an Gedenktagen, bei Feierlichkeiten und Staatsbesuchen auch als zentraler öffentlicher Erinnerungsort genutzt. So stattete die niederländische Königsfamilie bei ihrem letzten Aufenthalt in Wien der Gedenkstätte einen Besuch ab, und im September 2023 kam der israelische Staatspräsident Jitzchak Herzog hierher, um der Opfer zu gedenken.

Sowohl die Namensmauern als auch die Ausstellung in Auschwitz erfüllen eine wichtige Funktion als Lern- und Gedenkorte. Mit Angeboten wie Führungen für Schulklassen können sie zur Wissensvermittlung über den Holocaust beitragen. Für die Zukunft sind für weitere Opfergruppen eigene Gedenkorte geplant, etwa eine Gedenkstätte für die 40.000 während des Holocaust ermordeten österreichischen Sinti:zze und Rom:nja.

Museen und Gedenkstätten wie die neue Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz oder die Shoah Namensmauern sind lieux de mémoire, Orte der Erinnerung im Sinne des französischen Historikers Pierre Nora. Sie bilden Kristallisationspunkte des kollektiven Gedenkens, die uns dabei helfen, uns mit einer bitteren Vergangenheit auseinanderzusetzen, aus ihr zu lernen – und sie auf diese Weise letztlich besser zu bewältigen.

 

Hannah M. Lessing ist Vorstand des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus und des Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich. Bis Jänner 2024 war sie Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (seit 1995), des Allgemeinen Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus (Mai 2001 bis April 2022) und des Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich (seit 2010).

Maria Luise Lanzrath arbeitet seit 2001 für den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, insbesondere in den Bereichen Opferanerkennung, Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit.

 

[1] Yehuda Bauer, Keynote address zum Holocaust-Gedenkstag der Vereinten Nationen, Yad Vashem, 27. January 2006.

 

[2] Aus dem Theaterstück Asinaria von Titus Maccius Plautus (um 254–184 v. Chr.), gemeinhin bekannt als Plautus.

 

[3] www.taz.de/Denkmal-gegen-Denkmal/!1527347/, abgerufen am 3. Mai 2024.

 

[4] Marcus Tullius Cicero: Die Philippischen Reden 9, 10.