Diversität, Partizipation, Inklusion – und Homogenisierung

Kommentar zum 66. Bundesweiten Gedenkstättenseminar in Vogelsang IP[1] und Bonn
09/2022Gedenkstättenrundbrief 207, S. 26-30
Gottfried Kößler

Was hat die NS-Dokumentation Vogelsang mit dem Thema der Gedenkstättentagung zu tun? Die drei Begriffe im Titel der Tagung können wie eine Abfolge wirken: Das Problem der Diversität würde dann auf dem Weg der Partizipation durch die Inklusion gelöst. Das ist sicher nicht so gedacht und so wurde es auch in den Vorträgen, Workshops und Diskussionen an den drei Tagen nicht verstanden. Aber es steckt in diesem spontanen Verständnis der Trias eine Spur, die auf ein problematisch enges Verständnis von Inklusion hinweist – sicher kann ich das nur bei mir selbst sagen, aber ich halte diese Beobachtung für einen wichtigen Aspekt des Themas. Als »Critical Friend« hatte ich das Privileg, die Tagung zu beobachten, das verstehe ich als Aufforderung, Vorschläge zu machen. Meine Beobachtungen konzentrieren sich auf einen Aspekt des gedenkstättenpädagogischen (und erinnerungspolitischen) Diskurses, den ich für zentral halte. Denn es ist eine postnationalsozialistische Spur, wenn in der Homogenisierung von Differenz und Diversität ein Ziel von politischer Bildung gesehen wird. Genau dieses Ziel verfolgte die nationalsozialistische Bildungseinrichtung in der NS-Ordensburg Vogelsang und das ist auch ein zentrales Thema der Ausstellung der NS-Dokumentation dort: Die Schönheit der militarisierten Angleichung. Diese betraf sowohl die Gemeinschaft als auch die Männlichkeit als zentrale Felder der Bildung. Und eben diese Identifikation mit dem Ideal der Homogenität einer Gemeinschaft wirkt fort in den Vorstellungen vom »Volk«, das auch heute als Träger des Nationalstaates gedacht wird – und nicht nur in rechtsextremistischen Kreisen. Hier bietet sich ein Themenfeld, auf dem historisch-politische Bildung einen unmittelbaren Kontakt zwischen dem historischen Gegenstand Nationalsozialismus und aktuellen Fragen des Zusammenlebens in der postmigrantischen Gesellschaft nutzen kann. Es geht dabei um die Fragilität des Rechts verschieden zu sein, um Angriffe auf Minderheiten, um Chancen der Verteidigung einer grundlegenden Bereitschaft zu Empathie oder noch genauer – zur Solidarität. Nicht zuletzt ließe sich genau an diesem provokanten Gegenmodell die Stärke der demokratischen Verfassung und ihrer Grundrechte vermitteln. Das Tagungsthema »Diversität – Partizipation – Inklusion« hätte sich um diese Konstellation entwickeln können. In den Schlussfolgerungen aus seiner Analyse der postimperialen Machtverhältnisse der Gegenwart folgert Mark Terkessidis: »Erinnerung bedeutet also nicht nur Gedenken, sondern auch die Verantwortung dafür, dass diese Privilegien abgebaut werden.«[2]

Der Ort, an dem der erste Tag der Tagung stattfand, spielte allerdings lediglich bei den Führungen und in den Pausengesprächen eine Rolle. Das hätte durchaus anders sein können. Ausgehend von der Formensprache der NS-Gebäude, die Elemente der Moderne mit Anklängen an das Martialische der Burgen verbindet, stellt sich die Frage nach dem Projekt der NS-Bildung. Diese war bekanntlich für die meisten Deutschen ebenso attraktiv wie die Gebäude heute für die diversen Nachnutzungen – nicht zuletzt »Vogelsang IP« selbst. Die Prägungen einer ganzen Generation durch die NS-Schulen und -Organisationen finden sich in der Mentalität der postnationalsozialistischen Gesellschaft, gerade im Umgang mit Behinderung und mit Diversität. Die Ausstellung in der NS-Dokumentation verfolgt diese ebenso aktuellen wie problematischen Kontinuitätslinien nicht. Sie führt von der Ordensburg und ihren Junkern direkt zu den Massenverbrechen und wechselt dann den Fokus der Aufmerksamkeit auf die Opfer. Sind nicht diese Ordensjunker Exponenten der Volksgemeinschaft, also der breiten Mehrheit der Deutschen gewesen?

Die Einführungen in die Tagung und die Vorträge am historischen Ort nahmen diese Chancen der historisch-politischen Bildung nicht auf. Christin Belling und David Jugel lieferten eine erziehungswissenschaftliche Fassung des Konzeptes der Inklusion, die sie als Prozess begreifen. So verstanden kann die Entwicklung einer Institution – also auch einer Gedenkstätte – hin zu einem inklusiven Ort für diese Institution nach innen und außen von großem Nutzen sein. Die Museologin und Mediatorin Annalena Knors nennt das »Corporate inclusion«[3]. Auch wenn es am Anfang eines solchen Prozesses, wie ihn zum Beispiel Knors organisiert, »nur« um Barrierefreiheit ging, so wird im Lauf der Arbeit die Selbstreflexion der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ebenso selbstverständlich wie das Infragestellen der eingespielten Routinen. Es entwickelt sich ein Prozess der Organisationsentwicklung, ohne den der Anspruch der Inklusion in keiner Institution eingelöst werden kann.

Bei den Teilnehmenden der Tagung kam der Vortrag von Anne Gersdorf sehr gut an. Sie ist eine Aktivistin der »Sozialhelden*innen« und macht in diesem Kontext Politik und Bildungsarbeit. Inklusion entsteht in ihrem Verständnis durch Aktion. »Einfach anfangen!« sagt sie. Die Veränderungen müssen dann sowohl die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen als auch die Besuchenden und nicht zuletzt die Inhalte betreffen. Menschen mit Behinderung oder anderen Anzeichen von Anders-Sein sollen nicht nur Objekt der Fürsorge sein, wenn Barrieren aus dem Weg geräumt werden. Sie sollen bei der Darstellung historischer Themen als Akteurinnen und Akteure vorgestellt werden. In einem Beitrag aus dem Publikum wurde darauf verwiesen, dass es bei der HJ und der SA Stürme für Gehörlose und Blinde gab; andererseits sind wir durch die Forschungen zur Deaf History über gehörlose Häftlinge hinreichend informiert. In die Richtung einer didaktischen Fassung dieser Überlegungen geht Gersdorffs zunächst politisch gedachte Aufforderung, nicht Menschen mit Behinderung und ihr »Leiden« in den Blick zu nehmen, sondern den Prozess des Ausschlusses aus der Mehrheitsgesellschaft als Skandal zu thematisieren. So gesehen öffnet sich hier ein Feld, das analog auch mit Blick auf andere Minderheiten Themen der politischen Bildung im historischen Gegenstand aufschließt. Auch in der Diskussion über die Art und Weise, wie jüdische Geschichte thematisiert wird und wo hier die Schwierigkeiten der heutigen pädagogischen Konzepte liegen, kommt das Problem in den Blick, dass Jüdinnen und Juden so gut wie ausschließlich als »Opfer« und »Leidende« vorgestellt werden. Dagegen würde die Vermittlung der Geschichte jüdischer Akteurinnen oder Akteure und ihres Kampfes um Emanzipation oder anderer Aspekte jüdischen Lebens ein viel tieferes Verständnis für die Beziehungsgeschichte zwischen Minderheit und Mehrheit ermöglichen. Die Shoah wird in einem solchen Verständnis als Prozess des Ausschlusses sichtbar – eine Perspektive, auf die sich Gedenkstätten in ihrer Rezeption von Raoul Hilberg seit den 1990er-Jahren beziehen. Allerdings wird dieser Wechsel des Blickwinkels selten in den didaktischen Konzeptionen realisiert.

Im Lauf der Tagung zeigte sich, dass die drei Stichworte des Titels nicht zu einem Thema zusammengeführt werden konnten. Das liegt aus meiner Sicht an der fehlenden Schärfung der unterschiedlichen Verwendung der Begriffe. Der »Markt der Möglichkeiten« bot die Chance, an sehr unterschiedlichen Beispielen aus der Praxis zu diskutieren, wie Barrierefreiheit realisiert werden kann. Auch über dieses eher traditionelle Verständnis von Inklusion hinaus wurden die Beispiele aus einer kaum aufeinander bezogenen Bandbreite von Erfahrungen und Reflexionen vorgestellt: Innovative Ideen für Tastobjekte aus der Gedenkstätte Dachau, eine gründliche Prozessreflexion über »Design für alle« aus dem Haus der Wannsee-Konferenz, ein kollaboratives Einbinden von Bürgerinnen und Bürgern in die Entwicklung einer stadtgeschichtlichen Ausstellung in Köln, das interaktive Konzept des Mobilen Geschichtslabors in Kislau usw. Diese Aufzählung kann nicht die inhaltliche Beschäftigung mit diesen inspirierenden Beispielen ersetzen. Sie zeigt immerhin, dass diese Tagung ihr Thema eben durch ein Aneinanderreihen von Beispielen und Perspektiven nicht fokussieren konnte. Konstruktive und oft inspirierende Gespräche in kleinen Gruppen wurden wie so oft zum zentralen Element der Tagung.

Auch die beiden jeweils sehr gehaltvollen Vorträge von Meike Günther über Inklusion und von Astrid Messerschmidt über diskriminierungskritische Bildungsarbeit brachten die thematischen Stränge nicht zusammen. Das heißt aber keinesfalls, dass die drei Felder, die der Tagungstitel nennt, ohne Bezug zueinander sind. Partizipation ist tatsächlich der zentrale Begriff. Worin besteht sie und wie kann sie erreicht werden? Ist es tatsächlich eine Partizipation, wenn die Besucher in der Ausstellung eine Klappe öffnen können oder ein Touchscreen Informationen zur Verfügung stellt? Oder beginnt Partizipation erst mit der aktiven Beteiligung der Leute gleich welchen Alters, welcher Gruppenzugehörigkeit oder physischen, psychischen und kognitiven Möglichkeiten an der Erarbeitung von Inhalten und der Konzeption einer Ausstellung oder des Veranstaltungsprogramms einer Gedenkstätte?

Es stellt sich bei diesen Überlegungen heraus, dass unterschiedliche Handlungsfelder existieren, die zu entwickeln sind. Die Realisierung von Barrierefreiheit ist eine durch die UN-Behindertenrechtskonvention verbindliche Aufgabe. In unterschiedlichen Museen und Gedenkstätten bereits entwickelte oder oft auch an verschiedenen Hindernissen gescheiterte Umsetzungen dieser Vorgaben können Orientierung bieten. Die derzeitige Dauerausstellung im Anne Frank Zentrum Berlin ist dafür ein gutes Beispiel. Die Beratungsangebote von Verbänden und Agenturen können – und sollten – genutzt werden. Allein durch Barrierefreiheit ist Inklusion aber nicht gewährleistet. In Bezug auf Behinderung erfordert der soziale und politische Prozess der Inklusion eine fortdauernde Kooperation mit Betroffenen, ihren Institutionen und Vertretungen.

Ein weiter Inklusionsbegriff bezieht sich auf alle Dimensionen von Diversität, welche insbesondere in einer modernen und postmigrantischen Gesellschaft ein großes Spektrum umfassen. Ein solches Verständnis von Inklusion zeigt noch deutlicher, dass die Realisierung von multiperspektivischen Darstellungen und kollaborativer Arbeit mit den Nutzerinnen und Nutzern ein eigenes Arbeitsfeld ist, das in den meisten Fällen erst durchgesetzt werden muss. Gedenkstätten, die so häufig von Aktivisten und Aktivistinnen durchgesetzt und aufgebaut wurden, sind von ihrer Anlage her eigentlich für solche Arbeitsweisen prädestiniert. Allerdings erfordert ihre Realisierung die Bereitschaft, die eigene Narration ein großes Stück weit zur Disposition zu stellen. Die Arbeit der Kuratorinnen und Kuratoren umfasst sowohl die historische Recherche als auch die Moderation von Gruppenprozessen und die Begleitung von Menschen, die sich für schwierige Themen öffnen. Wie das möglich ist, ohne geschichtswissenschaftliche Standards aufzugeben, das lässt sich an konkreten Beispielen lernen. Oben habe ich schon das Kölnische Stadtmuseum[4] erwähnt. Es orientiert sich nicht zuletzt an den Erfahrungen, die in Frankfurt am Main mit dem Stadtlabor am Historischen Museum[5] seit mehr als 10 Jahren gemacht werden.
 

Gottfried Kößler, Gymnasiallehrer, war von 1992 bis 2019 als stellvertretender Direktor Fritz Bauer Institut für Bildungsarbeit verantwortlich. Am Fritz Bauer Institut koordiniert er das Weiterbildungsangebot »Verunsichernde Orte«. Er hat Ausstellungen und des Fritz Bauer Instituts, des Jüdischen Museums Frankfurt kuratiert. An dem kollaborativen Format »Stadtlabor« des Historischen Museums ist er als Kurator beteiligt. Im Zug der Erarbeitung der Dauerausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt war Gottfried Kößler für Fragen der Inklusion zuständig.
 

[1] Das 66. Bundesweite Gedenkstättenseminar mit dem Titel »Diversität – Partizipation – Inklusion. Selbstverständnis und Praxis in Gedenkstätten und Dokumentationszentren« hat vom 28. Juni bis 2. Juli 2022 in Vogelsang und Bonn stattgefunden. Die von 120 Personen besuchte Veranstaltung wurde gemeinsam durchgeführt von der Bundeszentrale für politische Bildung, der Stiftung Topographie des Terrors und dem NS-Dokumentationszentrum in Vogelsang IP.

[2]    Mark Terkessidis: Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute, Hamburg 2019, S. 180

[3]    Annalena Knors: www.corporate-inclusion.de

[4]    Kölnisches Stadtmuseum: www.koelnisches-stadtmuseum.de/dauerausstellung

[5]    Archiv der Stadtlabor-Projekte: https://historisches-museum-frankfurt.de/de/stadtlabor-archiv