Dokumentation: Rechte Übergriffe auf KZ-Gedenkstätten und andere Gedenkorte für Opfer des Nationalsozialismus in Berlin, Brandenburg und bundesweit

09/2022Gedenkstättenrundbrief 207, S. 36-38
Peter Laudenbach

Übergriffe auf Gedenkorte für die Opfer des NS werden nicht systematisch erfasst. Mehrere Medien haben Anfang August 2022 eine dpa-Meldung aufgegriffen[1], in der die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Bundestagfraktion Die LINKE zu politisch motivierten Gewalttaten angesprochen wird. Die LINKE hatte ausdrücklich nach Angriffen auf Gedenkstätten für NS-Opfer gefragt. Laut Antwort der Bundesregierung sei der Begriff NS-Gedenkstätte »kein bundesweit abgestimmtes Angriffsziel«[2]. So fällt es schwer, die Auflistung von 856 Sachbeschädigungen und 393 Fällen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in den letzten fünf Jahren korrekt politisch motivierten Angriffen auf Gedenk- und Dokumentationsstätten für NS-Opfer zuzuweisen.

Die Meldestelle REPORTING ANTISEMITISM (RIAS) erfasst akkurat antisemitische Übergriffe. Übergriffe auf Gedenkorte anderer Gruppen von NS-Opfern hingegen werden nicht systematisch erfasst. Deshalb wäre eine Meldestruktur, die es den Gedenkstätten ermöglicht, Übergriffe zu melden, so dass sie unkompliziert zentral gesammelt werden können, etwa im Gedenkstättenreferat der Stiftung Topographie des Terrors, sinnvoll und notwendig. Derzeit liegt keine valide Statistik solcher Übergriffe vor.

Ziel des Monitorings zu rechten Übergriffen auf KZ-Gedenkstätten, andere Gedenkorte für die Opfer des NS und Erinnerungs- und Lern-Einrichtungen an früheren Täter-Orten ist es, solche Übergriffe möglichst umfassend zu dokumentieren. Das bezieht sich auf alle Opfergruppen des NS. Erfasst werden Übergriffe im Zeitraum Januar 2016 bis Dezember 2021. Der Rechercheschwerpunkt liegt dabei in der Region Berlin und Brandenburg. Parallel werden in einer zweiten, deutlich weniger tief recherchierten Chronik entsprechende bundesweite Vorfälle erfasst.[3]

Erfasst werden eindeutig rechtsradikal motivierte Übergriffe auf und an konkreten Gedenkorten. Dabei wird versucht, die Grenzen zwischen rechtsradikal und antisemitisch motivierten Übergriffen einerseits und sonstigen Vorfällen andererseits möglichst klar und zu ziehen. Die Chronik soll sich nicht dem Vorwurf aussetzen, beispielsweise dem Vandalismus Betrunkener voreilig und ungenau politische Motive zu unterstellen. Ziel der Chronik ist eine möglichst valide Erhebung, nicht eine möglichst umfangreiche. Nicht erfasst werden deshalb Fälle von asozialen, zynischen, geschichtsvergessenen, respektlosen, aber nicht eindeutig politischen motivierten Übergriffen (zwei Beispiele: In Berlin uriniert ein Betrunkener gegen Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Oder: Polizisten nutzen die Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas für Sportübungen). Ebenfalls nicht erfasst werden anderweitig politisch motivierte Übergriffe auf NS-Gedenkorte (Beispiel: In der unmittelbaren Umgebung der Stiftung Topographie des Terrors wird die gegen den brasilianischen Rechtspopulisten Bolsonaro gerichtete Parole »Bolsonaro = Hitler« gesprayt). Ebenfalls nicht erfasst werden offenkundig religiös oder wahnhaft motivierte Übergriffe (Beispiel: An Berliner Gedenkorten im Stadtraum werden wiederholt Worte wie »Liebe« oder »Jesus« gesprayt). Erfasst werden nur Vorfälle an konkreten Gedenkorten. Deshalb werden Relativierungen und Verharmlosungen des Holocaust, die nicht an konkreten Gedenkorten stattfinden, nicht erfasst (Beispiel: Parallelisierung der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie mit der Judenverfolgung im NS). Ebenfalls nicht erfasst werden antisemitisch motivierte Vorfälle an anderen, nicht den Opfern des NS gewidmeten Gedenkorten (Beispiel: Schändung jüdischer Friedhöfe).

Weil die Infragestellung der Arbeit und öffentlichen Finanzierung von Gedenkorten für die Opfer des NS, etwa durch Mandatsträger politischer Parteien, zwar legal, aber de facto gegen die Arbeit der Gedenkstätten gerichtet sind und auf ihre Delegitimierung zielen, werden entsprechende Wortmeldungen und Initiativen von Mandatsträgern politischer Parteien nach Möglichkeit erfasst und in die Chronik aufgenommen.

Um Vorfälle möglichst zuverlässig zu erfassen, werden verschiedene Quellen genutzt. Die Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg wurden direkt angefragt und um Meldung etwaiger Übergriffe seit 2016 gebeten. In einer relativ aufwendigen Recherche wurden Pressearchive nach Meldungen über entsprechende Vorfälle durchsucht – in allen größeren lokalen und überregionalen Medien, in Brandenburg auch in kleineren Lokalblättern. Diese Recherche war hilfreich und notwendig, um Übergriffe gegen Gedenkorte im öffentlichen Raum zu dokumentieren (zum Beispiel gegen Mahnmale, die den im NS verfolgten Homosexuellen gewidmet sind oder gegen Gedenksteine, die an im November 1938 zerstörte Synagogen erinnern). Ergänzend wurden stichprobenartig oder nach entsprechenden Hinweisen z.B. Protokolle von Landtagssitzungen überprüft. Eine wichtige Quelle waren die von RIAS dokumentierten antisemitischen Übergriffen gegen Gedenkorte in Berlin und Brandenburg, welche jüdischen Opfern des NS gelten. Die Meldungen über solche Vorfälle wurden dieser Recherche von RIAS großzügig zur Verfügung gestellt. Weil die Kriterien, nach denen RIAS Vorfälle registriert, von den Kriterien dieser Dokumentation abweichen (RIAS bemüht sich, alle Vorfälle, unabhängig von der jeweiligen Motivation, zu erfassen), musste die von RIAS zur Verfügung gestellten Meldungen jeweils daraufhin überprüft werden, ob es sinnvoll ist, sie in diese Chronik aufzunehmen.

Die Chronik ist lückenhaft und kann nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Mit zeitlichem Abstand lassen sich vor allem Vorfälle, die nicht zur Anzeige gebracht worden sind, nicht immer hinreichend präzise rekonstruieren. Man muss davon ausgehen, dass es eine Grauzone nicht erfasster Übergriffe gibt.

Insgesamt konnten für den Erhebungszeitraum für die Region Berlin und Brandenburg 150 Übergriffe dokumentiert werden. Für das übrige Bundesgebiet konnten (bei weniger tiefen Recherchen z.B. ohne Pressemeldungen kleinerer Lokalzeitungen zu erfassen, ohne direkte Nachfrage bei Gedenkstätten und ohne Rückgriff auf Meldungen von RIAS) 70 Übergriffe dokumentiert werden. Die Relation zwischen den beiden Erhebungen legt nahe, dass Anzahl und Dichte der erfassen Übergriffe auch von der Recherchetiefe abhängt.

In beiden Chroniken fällt auf, dass Übergriffe unmittelbar an größeren, gut bewachten Gedenkstätten, an denen geschulte Mitarbeiter Besucher bei Führungen informieren und begleiten, eher selten sind. Diese Vorfälle entwickeln allerdings eine besondere Härte, wenn Rechtsradikale den Ort gezielt als Bühne ihrer Auftritte missbrauchen (wie z.B. in der Gedenkstätte Dachau geschehen), oder wenn Besucher den Aufenthalt in einer Gedenkstätte nutzen, um den Holocaust zu relativieren (wie z.B. in der Gedenkstätte Sachsenhausen geschehen). Die Situationsbeschreibung, die Dr. Horst Seferens von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (die Trägerin u.a. der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen) gibt, dürfte ähnlich auf viele Gedenkstätte zutreffen: »Insgesamt beobachten wir in den letzten Jahren einen leichten Anstieg auf weiterhin niedrigem Niveau. Aber ob die Fälle wirklich in statistisch relevanter Weise zugenommen haben oder ob unsere Sensibilität dafür gestiegen ist, lässt sich kaum verbindlich entscheiden. Die Spannweite reicht von Provokationen über offen getragene extrem rechte Symbole bis hin zu kleineren Vorfällen. Dass sich politische Ereignisse durch Vorfälle in der Gedenkstätte niederschlagen, können wir jedenfalls nicht beobachten. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie sind in Sachsenhausen und Ravensbrück glücklicherweise keine Hassmails oder Beschimpfungen am Telefon zu verzeichnen. Bereits vor ca. einem Jahr kursierte in den sozialen Medien eine Bildmontage des Lagertores zum Häftlingslager des KZ Sachsenhausen, wo die Inschrift »Arbeit macht frei« in »Impfen macht frei« umgewandelt worden war.« (Mail an das Rechercheteam).

Relativ häufig sind dagegen Übergriffe auf Gedenkorte und Mahnmale im öffentlichen Raum, insbesondere gegen Stolpersteine. Dabei wird ein bemerkenswerter Aufwand getrieben, etwa wenn Stolpersteine aus dem Asphalt gestemmt werden oder Mahnmale mit Gewalt, zum Teil mit Hilfe von Sprengstoff, zerstört werden. Die Anzahl und der zum Teil massive Gewalteinsatz der Übergriffe zeugt (bei einer eher kleinen Tätergruppe) von einer erheblichen und anhaltenden Aggression gegen die Gedenkkultur für die Opfer des Nationalsozialismus.

Die Zusammenstellung der Chroniken wurde von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa gefördert.

Die beiden Chroniken, die Grundlage dieses Artikels sind, können aus Platzgründen hier nicht abgedruckt werden. Sie finden sich im GedenkstättenForum: www.gedenkstaettenforum.de/aktivitaeten/gedenkstaettenrundbrief/detail/dokumentation-rechte-uebergriffe-auf-kz-gedenkstaetten-und-andere-gedenkorte-fuer-opfer-des-nationalsozialismus-in-berlin-brandenburg-und-bundesweit
 

Peter Laudenbach ist Journalist, er arbeitet für die Süddeutsche Zeitung, das Wirtschaftsmagazin brand eins und die taz. Im August 2022 hat er in den »Blättern für deutsche und internationale Politik« einen Aufsatz zu rechten Übergriffen auf die Kunstfreiheit veröffentlicht.
Kontakt: Über das Gedenkstättenreferat der Stiftung Topographie des Terrors.
 

[1] Siehe z.B.: Die Zeit (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-08/gedenkstaetten-gewalt-straftaten-linkspartei-bundesregierung-extremismus) oder Süddeutsche Zeitung (https://www.sueddeutsche.de/politik/gedenkstaetten-berlin-mehr-als-1500-politisch-motivierte-straftaten-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220803-99-254202) (beide: 10.8.22).

[2] Süddeutsche Zeitung, ebd.

[3] Die beiden Chroniken zu den Übergriffen in Berlin-Brandenburg und bundesweit sind zusammen fast 40 DIN A4-Seiten lang. Sie ist zu finden im Online-GedenkstättenForum: https://www.gedenkstaettenforum.de/fileadmin/user_upload/Aktivitaeten/Rundbrief/Rundbriefe_PDF/einzelne_Artikel/207/GedRund_207_Chronik_1_2.pdf