Ein 100 Kilometer langes Denkmal

09/2022Gedenkstättenrundbrief 207, S. 3-7
Markus Barnay

Tausende Flüchtlinge, die dem Terror des NS-Regimes entkommen wollten, versuchten zwischen März 1938 und Mai 1945 über Vorarlberg die rettende Schweiz zu erreichen. Welche Dramen sich an der Grenze abspielten, wer geholfen hat und wer gescheitert ist – das erfährt man jetzt direkt an den Schauplätzen der Ereignisse.

Sie sehen aus wie normale Grenzsteine, die Betonblöcke, die seit Juli 2022 entlang der Vorarlberger Radroute Nr. 1 stehen. Doch statt mit den Namen der angrenzenden Länder sind sie mit den Namen von Menschen beschriftet, deren Schicksal sich an der betreffenden Stelle entschied. Über einen QR-Code auf der Oberseite des Steins gelangt man mit dem eigenen Smartphone auf eine Website mit Fotos und einem kurzen Hörspiel über die jeweilige Person.

Da schallt einem dann beispielsweise der Schlager »Amerika, du hast es besser« entgegen, den ein gewisser Willy Geber in Wien komponiert hatte und der 1932 auf Schallplatte erschien. Geber gehörte zu den glücklichen Menschen, die es im Sommer 1938 schafften, die grüne Grenze in die Schweiz zu überwinden – unterstützt von SS-Männern, die damals jüdischen Bürgern noch bei der Flucht halfen, nicht ohne sie vorher gründlich auszurauben. Die Schweiz hatte da bereits beschlossen, keine jüdischen Flüchtlinge mehr ins Land zu lassen – aus Angst vor einer »Überfremdung«, wie der Chef der Schweizer Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, argumentierte. Auch an Rothmund und seine antisemitische Politik wird an einer der Hörstationen erinnert.

Willy Geber schlug sich jedenfalls bis nach St. Gallen durch und gelangte später sogar in das »bessere« Amerika. »Wir haben es geschafft! Hoffe euch alle gesund! Und alles in Ordnung«, schrieb er noch an die Zurückgebliebenen in Wien. Seine Karriere als Schlagerkomponist konnte er allerdings in den USA nicht fortsetzen. Er schrieb weiter Songs, aber keiner fand mehr den Weg auf eine Schallplatte.

Idee aus dem Lockdown

Die Idee mit den Hörstationen kam dem Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, Hanno Loewy, während der Lockdowns der vergangenen zwei Jahre, als er sich mit seiner Frau zu Fuß und mit dem Fahrrad entlang der Schweizer Grenze »die Füße vertreten« wollte – die Grenze selbst war ja zum ersten Mal seit 1945 hermetisch abgeriegelt und nur mit Sondergenehmigung zu überwinden. Natürlich kannte Loewy die eine oder andere Fluchtgeschichte, kann man sie doch in seinem Museum nachlesen oder sich auf speziellen Führungen erzählen lassen, aber an der Grenze selbst gab es bisher nur eine Gedenktafel, und die erinnert an den Schweizer Polizeihauptmann Paul Grüninger, der wegen seiner illegalen Hilfe für jüdische Flüchtlinge vor Gericht gestellt und seines Amtes enthoben worden war.

»Über die Grenze« heißt das Projekt jetzt, das Anfang Juli 2022 mit einer Fahrradsternfahrt aus sieben verschiedenen Orten und einem Festakt in Hohenems eröffnet wurde. Hanno Loewy: »›Über die Grenze‹ erzählt von Odysseen durch ganz Europa und von einheimischen Schmugglern, die zu Fluchthelfern werden, von Liebenden, die aus dem Gefängnis ausbrechen, von Kriegsgefangenen, die sich verirren, von protestierenden Schülerinnen und Verhören durch die Gestapo, von Abenteuern am Geburtstag, von gefährlichen Wegen über den Rhein und die Berge – von menschlichem Mut, Verfolgung, Behördenwillkür und Widerstand.«

Unter falschem Namen begraben

Da wäre zum Beispiel die Geschichte der Hilda Monte, die eigentlich Hilda Meisel-Olday hieß: Geboren 1914 in Wien, wuchs sie in Berlin auf, lebte später in Paris und London und war während der NS-Zeit unermüdlich als Widerstandskämpferin in- und außerhalb des Nazireichs unterwegs, machte in Büchern, Aufsätzen und Radiosendungen der BBC auf die Gräueltaten der Nazis aufmerksam. Kurz vor Kriegsende reiste sie im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes OSS und österreichischer Sozialisten nach Frankreich, in die Schweiz und schließlich nach Vorarlberg. Beim Versuch, auf dem Rückweg die grüne Grenze nach Liechtenstein zu überqueren, wurde sie erwischt. Als sie nach einem Verhör zu fliehen versuchte, fielen tödliche Schüsse. Meisel-Olday, die sich in ihren Schriften Hilda Monte nannte, wurde auf dem evangelischen Friedhof in Feldkirch als Eva Schneider begraben. Das war der Name, der in ihren gefälschten Papieren stand. Die Grenze zur Schweiz wurde aber nicht nur jüdischen Flüchtlingen und Widerstandskämpferinnen zum Verhängnis, sondern auch Deserteuren, politisch Verfolgten oder Zwangsarbeitern: In Lustenau beispielsweise erinnert eine Station an den Deserteur Josef Hagen, der beim Versuch, die Grenze zu passieren, von Gendarmen erschossen wurde. Seine Verwandten landeten wegen »Begünstigung der Flucht« vor Gericht. Und im Montafon kann man sich die Geschichte von Meinrad Juen anhören, der als geübter Schmuggler mehrere Dutzend Menschen über die Gebirgspässe in die Schweiz geleitete, ehe er 1942 verhaftet wurde. Es gelang ihm, zu fliehen und sich bis zum Kriegsende vor den Verfolgern zu verstecken.

52 Geschichten – 52 Schicksale

Auf dem Weg von Lochau bis nach Partenen lernt man aber auch so genannte »U-Boote« (Menschen, die sich erfolgreich vor der Verfolgung versteckten oder unter falschem Namen weiter lebten) und Zeitzeugen kennen, die einst von ihren Erlebnissen berichteten. Neben Originaltönen aus Interviews bestehen die kleinen Hörspiele aus Zitaten und Erzählungen, die von Loewy selbst, aber auch von Schauspieler*innen und Historikern sowie dem Autor Michael Köhlmeier vorgetragen werden.

Insgesamt haben Loewy und sein Team (Recherche: Raphael Einetter und Niko Hofinger) 52 Geschichten zusammengetragen, von denen rund die Hälfte bisher weitgehend unbekannt war. Die dazugehörigen Stationen findet man zwischen dem Bodensee und dem Fuß der Silvretta entlang des Seeufers, des Rheins und der Ill (eine eigene Übersichtskarte gibt es auch online). So oder so entpuppte sich die Idee als Mammutprojekt: Die Realisierung bedurfte nicht nur einer Kooperation mit den Nachbarstaaten (einige der Stationen befinden sich auf Schweizer bzw. Liechtensteiner Staatsgebiet), sondern auch mit 22 Städten und Gemeinden. Dazu kamen Genehmigungen von Institutionen und Behörden (Naturschutz, Wasserrecht) dies- und jenseits der Grenze – ganz abgesehen von der Produktion von Hörspielen, der Website, einer Fahrradkarte und eines Begleitbuches. Loewy und das Team des Jüdischen Museums haben auch – gemeinsam mit Partnern in den Ortsarchiven entlang der Strecke – geführte Radtouren organisiert, die den ganzen Sommer über angeboten werden. Da zeigt dann zum Beispiel der Historiker und Ex-Nationalratsabgeordnete Harald Walser, wo die Menschen in seiner Heimatgemeinde Altach die Grenze in die Schweiz überquerten.

Niederschwelliges Angebot

Hanno Loewy hat jedenfalls während der Entwicklung des Projektes einiges gelernt – nicht nur über die Geschichte der Region: »Wer weiß schon, dass das Bodenseeufer bei Lochau gar nicht zu Lochau gehört, sondern zu Bregenz?« Wichtiger ist dem umtriebigen Direktor aber, dass er mit dem 100 Kilometer langen Gedenkweg ein niederschwelliges Angebot für Menschen schafft, die nicht unbedingt bis ins Jüdische Museum kommen: »Wir haben extra darauf geachtet, dass es bei den meisten Stationen auch eine Möglichkeit gibt, eine Pause zu machen und sich in Ruhe die Geschichten anzuhören«.

Wie viele der Radwanderer, die entlang des Rheins oder der Ill unterwegs sind, tatsächlich von dem Angebot Gebrauch machen werden, wird sich erst zeigen. Über die Frage, ob es 77 Jahre nach dem Ende des Krieges noch nötig ist, an so vielen Stellen an diese Zeit zu erinnern, schüttelt Hanno Loewy jedenfalls nur den Kopf: »Das ist ja nicht nur Vergangenheit. Viele dieser Geschichten sind von unserer Gegenwart und dem jetzigen Umgang mit Geflüchteten gar nicht so weit entfernt, wie man vielleicht glauben möchte. Und wohin Ängste und Hass, mediale Hetze und öffentliche Abwertung von Menschen führen können, das kann man hier eindrucksvoll studieren.«

Der Artikel ist bereits am 5. Juli 2022 in leicht veränderter Form in der Wiener Zeitung erschienen.
 

Dr. Markus Barnay, 1957 in Bregenz geboren, hat nach dem Studium der Politikwissenschaften und Wien und Berlin seine Promotion über die »Erfindung des Vorarlbergers« abgeschlossen. Er war 1990 bis 2022 Redakteur des ORF Vorarlberg und ist seit 2012 zudem als Kurator und Programmgestalter am vorarlberg museum tätig.
 

Ausführliche Informationen über das Projekt finden sich auf der Website www.ueber-die-grenze.at