»Ein Bild des Grauens und Schreckens«

Eine andere Geschichte des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg
04/2021Gedenkstättenrundbrief 194, S. 14-23
Florian Dierl, Hanne Leßau

Alles war vorbereitet: Die Schaufenster und Straßen geschmückt, die ersten Besucher in der Stadt, einige der Teilnehmer hatten schon ihr Zeltlager bezogen. Das Programm war bis ins Detail ausgearbeitet. Der "Reichsparteitag des Friedens" versprach, erneut hunderttausende Menschen nach Nürnberg - in die "Stadt der Reichsparteitage" - zu führen. Ab dem 2. September 1939 sollten von hier aus wieder eine Woche lang Bilder von Deutschen in die Welt gesandt werden, die dem "Führer" bei den aufwendigen Aufmärschen und Paraden zujubelten: Bilder, die wie in den vorhergehenden Jahren gezeigt hätten, wie das nationalsozialistische Regime im In- und Ausland gesehen und in der Zukunft erinnert werden wollte.

Doch der Krieg machte die Vorbereitungen zunichte. Wenige Tage vor Beginn der Feierlichkeiten, am 28. August 1939, verkündeten Zeitungen im ganzen Reich die Absage der Veranstaltung. Vier Tage später überfiel das Deutsche Reich Polen. Der Zweite Weltkrieg begann. Mit ihm endeten die Reichsparteitage wie auch die Arbeiten an den zumeist nicht fertiggestellten oder gar erst projektierten Repräsentationsbauten. Doch der Krieg gegen Polen eröffnete im September 1939 eine andere, weitgehend unbekannte Geschichte des Reichsparteitagsgeländes: Nur wenige Tage nach Kriegsbeginn erreichten Transporte mit internierten Zivilisten und Kriegsgefangenen die noch nicht wieder abgebauten Zeltlager, die für die Teilnehmer des Parteitages errichtet worden waren. Rund 10 000 Personen kamen noch im September 1939. Bis Jahresende hatte die Wehrmacht dann knapp 25 000 Menschen aus Polen nach Nürnberg gebracht und in Gefangenenlagern inhaftiert, die im Süden des Aufmarschareals der Parteitage angelegt wurden. Im weiteren Verlaufe des Krieges entstand hier ein umfangreicher Lagerkomplex für Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeiter. Mehr als 150 000 Menschen aus Süd-, Ost-, Westeuropa und den USA wurden während des Zweiten Weltkrieges dorthin verschleppt. Die meisten von ihnen mussten in Nürnberg und der Region "in den Arbeitseinsatz". Mehrere tausend Menschen starben an den menschenunwürdigen Bedingungen. Ein Teil wurde gezielt ermordet.

"Das Reichsparteitagsgelände im Krieg". Internationales Forschungs- und Ausstellungsprojekt

Diese andere Geschichte des Reichsparteitagsgeländes hat das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in den letzten zwei Jahren in einem internationalen Projekt zusammen mit acht externen Historikern und Rechercheuren erforscht - gefördert von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft und in Kooperation mit dem Centralne Muzeum Jeńców Wojennych.[1]

Trotz der späten Aufarbeitung ist das dabei zusammengetragene Material überaus reichlich. In mehr als 80 Archiven, Museen und weiteren Institutionen in über 15 Ländern konnten Dokumente, Erinnerungsberichte, Fotos und auch einige Objekte ausfindig gemacht werden. Hinzu kommen zahlreiche Unterlagen aus dem Privatbesitz von Angehörigen ehemaliger Gefangener, die das Projekt tatkräftig und freigiebig unterstützt haben.

Die Ergebnisse sind nun erstmals in einer temporären Ausstellung im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg zu sehen. Unter dem Titel "Das Reichsparteitagsgelände im Krieg. Gefangenschaft, Massenmord und Zwangsarbeit" rückt die Ausstellung den historischen Ort der Reichsparteitage als einen Ort der Inhaftierung und Ausbeutung, des Leidens und Sterbens in den Blick. Ihr Kernanliegen besteht darin, mit der Geschichte des Reichsparteitagsgeländes im Krieg die etablierte Vorstellung von diesem Ort zu irritieren, die sich im kollektiven Bewusstsein eingeschrieben hat: Es war nicht nur ein herausgehobener Ort der Selbstinszenierung des NS-Regimes. Zwischen 1939 und 1945 war das Reichsparteitagsgelände ein Ort der Verfolgung und der Gewalt: ein Tatort nationalsozialistischer Verbrechen.

Programmatisch für die Entwicklung von Inhalt und Gestaltung war dabei das Motto des "Perspektivwechsels", das sich auf unterschiedlichen Ebenen durch die Ausstellung zieht. Gleich zu Beginn findet es plastisch Niederschlag in einer topografischen Installation, die den Blick der eintretenden Besucher von den bekannten Aufmarschflächen des weitläufigen Reichsparteitagsgeländes auf das Areal lenkt, auf dem zwischen 1939 und 1945 der Lagerkomplex für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter errichtet wurde.

Eine Reihe von "Bildpaaren" zeigt die Veränderung auf der inhaltlichen Ebene: Bekannten Fotos aus der Zeit der Reichsparteitage wird jeweils ein Foto zur Seite gestellt, das aus einer ähnlichen Perspektive aufgenommen wurde oder eine ähnliche Szenerie darstellt - allerdings nicht mit begeisterten Mitgliedern der Parteiformationen, sondern mit Gefangenen des NS-Regimes.

Die Idee des Perspektivwechsels greift auch die Gestaltung der Designagentur oblik (Bremen) auf, welche die Aufmerksamkeit der Besucher von der Herrschaftsarchitektur der Ausstellungsräume in der nicht fertiggestellten Kongresshalle hin auf die Ausstellung richtet. Anders als die sonstigen Räume des großen Baus sind die Ausstellungshallen mit Säulenreihen aus Marmor versehen, die einen Eindruck von der vorgesehenen repräsentativen Ausstattung vermitteln. Der Anmutung des Monumentalen, Ewigen, Symmetrischen, Vertikalen und Prunkvollen wird mit einer Gestaltung begegnet, die ihren fragilen und temporären Charakter betont und sich durch Asymmetrien und den Fokus auf die Horizontale auszeichnet. Die Ausstellung ist in einer hellen Ausleuchtung und kräftigen Farben gehalten, die bewusst keine historischen Assoziationen aufrufen sollen. Sie zieht den Blick des Betrachters nach unten und fordert den Perspektivwechsel so auch im Wortsinn ein: Die Konzentration des Besuchers wird auf die neuen Inhalte gelenkt und soll ihn über stark variierende Schriftgrößen und Neigungsflächen dazu inspirieren, immer wieder über sein Verhältnis von Nähe und Distanz und seine "Haltung" zu den präsentierten Inhalten nachzudenken.

Schließlich drückt sich der Perspektivwechsel auch in einer Hinwendung zu persönlichen Geschichten und Einzelschicksalen aus, die bislang in der Ausstellungs- und Vermittlungsarbeit des Dokumentationszentrums nur eine geringe Rolle spielen. Die Reichsparteitage sind als ein Ereignis von (formierten) Menschenmassen ins Bild gesetzt worden und dieser Fokus hat sich - nicht zuletzt durch das wirkmächtige Fortleben der offiziellen Bild- und Fotoaufnahmen - bis heute erhalten. Es ist die Rede vom "Ort der Massen", mit Referenz auf Sigfried Krakauer vom "Ornament der Masse" oder auch von den "anonymen Menschenmengen".[2] Auch - oder vielleicht gerade - an diesem Ort individuelle Zugänge zu ermöglichen, scheint so wichtig wie herausfordernd. Die Wechselausstellung rückt persönliche Dokumente und Geschichten ins Zentrum, um die Sicht der Gefangenen nachvollziehbar zu machen und das Reichsparteitagsgelände mit einzelnen Menschen in Verbindung zu bringen. Sieben "biografische Bänke" laden zur Auseinandersetzung mit dem Leben von Gefangenen ein, die bewusst nicht als Vertreter einer Opfergruppe interessieren, sondern als individuelle Persönlichkeit.

Gefangenschaft, Massenmord und Zwangsarbeit. Dimensionen von Gewalt auf dem Reichsparteitagsgelände während des Krieges

Die Ausstellung verbleibt nicht bei der Feststellung, dass sich die rassistische Kriegsführung des Nationalsozialismus auch auf dem Reichsparteitagsgelände niederschlug. Vielmehr zeigt sie verschiedene Formen von Gewalt und Verbrechen auf und macht die Unterschiede in der Behandlung und in den Erfahrungen der Gefangenen deutlich. Hierauf verweist auch der Untertitel der Ausstellung, der zentrale Dimensionen der Geschichte des Reichsparteitagsgeländes im Krieg anspricht: Gefangenschaft, Massenmord und Zwangsarbeit.

Die Entstehung des Lagerkomplexes auf dem Reichsparteitagsgelände hing eng damit zusammen, dass bei Kriegsbeginn nur unzureichende Vorbereitungen für die Unterbringung der nun gemachten Kriegsgefangenen getroffen worden waren. Über eine halbe Million polnische Soldaten und Zivilisten nahm die Wehrmacht im September 1939 innerhalb weniger Tage fest; weit mehr als die errichteten Kriegsgefangenenlager fassen konnten. Kurzerhand wurden zusätzliche Gefangenenlager geschaffen, wofür das Reichsparteitagsgelände in doppelter Weise bedeutend war: Die Zelte und das Mobiliar der Reichsparteitage wurden zur Ausstattung zahlreicher Kriegsgefangenlager herangezogen und trugen maßgeblich dazu bei, reichsweit die Unterbringung der ersten Gefangenen aus Polen zu sichern. Zudem wurde auch das Reichsparteitagsgelände selbst Standort für eines der zusätzlich eingerichteten Lager. Ausschlaggebend hierfür war die bereits vorhandene Infrastruktur der Zeltlager der Reichsparteitagsteilnehmer: Die Wehrmacht fand ausgebaute Verkehrswege mit nahegelegener Bahnstation (Bahnhof Märzfeld) vor sowie Verwaltungs- und Wachunterkünfte, zwei Dutzend hölzerner Funktionsbaracken, ein Lazarett sowie rund 350 Wasch- und Abortanlagen. Die ersten Transporte mit polnischen Gefangenen erreichten bereits Mitte September 1939 das Stalag XIII A Nürnberg-Langwasser - das erste Kriegsgefangenen-Stammlager im Wehrkreis XIII, der sich über ein Areal erstreckt, das heute Nordbayern sowie Teile Tschechiens und Baden-Württembergs umfasst. Wie andernorts halfen Gefangene in den nächsten Wochen und Monaten bei der Errichtung der Wachtürme, Zäune und Baracken mit. Die meisten von ihnen wurden jedoch nach kurzem Aufenthalt in sogenannte Arbeitskommandos nach Nürnberg und in die Umgebung geschickt. Da "Langwasser" bis Sommer 1940 das einzige Kriegsgefangenenlager im Wehrkreis XIII war, verteilte die Lagerverwaltung die Gefangenen über ein Gebiet in der Größe der Slowakei.

Bis zur Befreiung im April 1945 kamen in rascher Abfolge neue Gefangenengruppen auf das Reichsparteitagsgelände: Auf die polnischen Gefangenen folgten im Frühjahr 1940 Soldaten aus Westeuropa, 1941 aus Jugoslawien und der Sowjetunion, 1943 aus dem nunmehr verfeindeten Italien und schließlich bei Kriegsende aus Großbritannien und den USA. Sie verbrachten Monate bis Jahre ihres Lebens in Gefangenschaft und Unfreiheit - eine Erfahrung, die sie gemein hatten. Sie lebten vielfach in umzäunten Lagern, hatten keine freie Wahl der Arbeits- und Wohnstätte und wurden bei der Arbeit wie in der Freizeit meist bewacht und stark reglementiert. Allerdings gestaltete sich die Gefangenschaft nicht für alle Soldaten gleich. Internationale Abkommen regelten, wie mit gegnerischen Soldaten umzugehen sei. In vielen Fällen hielt sich die Wehrmacht an diese Regeln - vor allem bei Kriegsgefangenen aus Westeuropa, obgleich es immer wieder zu Verstößen kam. Auch französische Soldaten wurden etwa zu kriegsverlängernden Arbeiten in der Rüstungsindustrie oder bei der gefährlichen Bombenentschärfung eingesetzt.

Es gab aber auch Opfergruppen, bei denen diese Regeln systematisch verletzt wurden und die Gefangenen elendig zugrunde gingen oder gezielt ermordet wurden. Diese Dimension der Vernichtung traf in besonderem Maße die sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen im Verlauf des Krieges insgesamt etwa 60 Prozent ums Leben kamen. Auch im Kriegsgefangenenlager auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg-Langwasser wurden sie vernachlässigt und misshandelt. Mehrere Tausend starben an Hunger, Kälte, mangelnder medizinischer Versorgung und der harten Arbeit. Ein Teil fiel dem systematischen Mordprogramm zum Opfer, das Gestapo und Wehrmacht 1941/42 an den sowjetischen Kriegsgefangenen durchführten - die sogenannte "Aussonderung" vermeintlich gefährlicher Personen fand auch auf dem Reichsparteitagsgelände statt.

Das brutale Vorgehen gegen die sowjetischen Kriegsgefangenen bezeugen Berichte von Gefangenen anderer Nationalität, die ebenso wie die deutschen Wachsoldaten rasch realisierten, dass mit den Gefangenen aus der Sowjetunion etwas Neues vor Ort begann. "Im Russenlager fallen wieder Schüsse", notierte etwa ein französischer Gefangener am 1. September 1941, wenige Wochen nach der Ankunft der ersten rund 6 000 sowjetischen Kriegsgefangenen, die auch im strengen Winter 1941/42 in einem provisorischen Zeltlager leben mussten. Hier herrschten katastrophale Bedingungen. "Schon lange wollte ich Euch einen kleinen Ausschnitt von dem Leben in Langwasser schreiben", eröffnete im Dezember 1941 der deutsche Wachsoldat Otto Madl einen seiner zahlreichen Briefe an seine Ehefrau und Schwägerin. "Wie es hier zugeht, ist ein Bild des Grauens und Schreckens und kann es Euch im Brief nicht so schildern. Die gefangenen Russen fallen nur [so] um, dann sind sie tot. Die werden ganz nackt auf einen Wagen geworfen und abends werden sie eingegraben. Einige Fälle sind vorgekommen, daß sie einige auffraßen (Menschenfresserei 1941)." In mancher Woche starben mehr als 60 sowjetische Kriegsgefangene im "Russenzeltlager" auf dem Reichsparteitagsgelände. Insofern muss man fast von Glück sprechen, dass es gelungen ist, das Leiden der sowjetischen Soldaten nicht nur durch den Blick von außen und in seinen abstrakten Dimensionen zu dokumentieren, sondern auch persönliche Berichte und private Fotos von Opfern aufzuspüren. Die Dimension der Vernichtungsgewalt auf dem Reichsparteitagsgelände betraf auch eine zweite Opfergruppe: die jüdische Bevölkerung Nordbayerns. Die beiden ersten Deportationszüge mit insgesamt mehr als 2 000 Menschen fuhren im November 1941 und März 1942 vom Bahnhof Märzfeld ab. Die zur Deportation bestimmten Juden wurden zuvor in einem provisorisch hergerichteten Lager auf dem Reichsparteitagsgelände gesammelt.

Neben Gefangenschaft und Massenmord bildet der unfreiwillige "Arbeitseinsatz" tausender ausländischer Arbeitskräfte den dritten Schwerpunkt der Ausstellung. Die meisten Kriegsgefangenen blieben nur kurze Zeit im Hauptlager auf dem Reichsparteitagsgelände und wurden dann in Arbeitskommandos geschickt. Ausgenommen hiervon waren Offiziere, die nicht arbeiten und ihre Gefangenschaft in Offizierslagern verbringen mussten. Auf dem Reichsparteitagsgelände waren zu unterschiedlichen Zeiten tausende Offiziere aus Frankreich, Serbien, den Niederlanden und Italien untergebracht. Ihre durch viel freie Zeit und Gleichförmigkeit geprägte Gefangenschaft unterschied sich markant von den Erfahrungen der einfachen Soldaten, deren Alltag vor allem durch die Arbeit definiert war.

Über das Reichsparteitagsgelände kamen zwischen 1939 und 1945 zehntausende Kriegsgefangene in den "Arbeitseinsatz" in Franken, zeitweilig auch in gesamt Nordbayern. Das Reichsparteitagsgelände war während des Zweiten Weltkrieges aber nicht allein für die Ankunft und die Verteilung von Kriegsgefangenen überregional bedeutsam: Es fungierte 1941/42 auch als Drehscheibe für den Einsatz zehntausender ziviler Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion, die von hier nach ihrer Erstversorgung zur Arbeit auf Orte im nordbayerischen Raum verteilt wurden. Zudem entstanden auf dem Reichsparteitagsgelände selbst diverse Unterkünfte für Kriegsgefangenen-Arbeitskommandos und zivile Zwangsarbeiter. Der Zugriff auf das Gelände war vergleichsweise einfach, da sich die Grundstücke und Gebäude in öffentlicher Trägerschaft befanden. Entsprechend richteten hier Firmen wie MAN, aber auch die Stadt Nürnberg große Lager für Zwangsarbeiter ein. Zusätzlich betrieb die Gestapo auf dem Areal ein Arbeitserziehungslager, in das 1942/43 Zwangsarbeiter aus ganz Franken zur Disziplinierung eingewiesen wurden.

Dieser Geschichte von Gefangenschaft, Massenmord und Zwangsarbeit nähert sich die Ausstellung in fünf Bereichen, die jeweils eine wichtige Entwicklung in den Mittelpunkt rücken. Zusammen betrachtet zeichnen sie ein differenziertes Bild der Gewalt und Verbrechen auf dem Reichsparteitagsgelände im Zweiten Weltkrieg. Die Ausstellung "Das Reichsparteitagsgelände im Krieg. Gefangenschaft, Massenmord und Zwangsarbeit" ist noch bis zum 2. Februar 2020 im Dokumentationszentrum zu sehen.

Eine aktuelle und bedeutsame Geschichte für Gegenwart und Zukunft

Mit dem Forschungs- und Ausstellungsprojekt ist das Wissen über die Geschichte des historischen Ortes "Reichsparteitagsgelände" entscheidend gewachsen. Die Recherchen haben den Aufbau einer Sammlung von Dokumenten, Fotos, Erinnerungsberichten, Zeichnungen und Gemälden ermöglicht und unsere Einrichtung mit Erinnerungsorten an die Verbrechen des Nationalsozialismus im In- und Ausland vernetzt. Vor allem hat das Projekt das Team des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände mit Angehörigen ehemaliger Gefangener in Kontakt gebracht, die sich auf der Suche nach Informationen über das Schicksal ihrer Familienmitglieder an uns gewandt haben oder von den Rechercheuren ausfindig gemacht wurden. Die Angehörigen gewährten uns Einblick in eine seit langem bestehende Praxis des individuellen Erinnerns am historischen Ort, die bislang jenseits der öffentlichen Wahrnehmung stattfindet. Dies zeigt uns, dass die Geschichte des Reichsparteitagsgeländes bis heute nicht als abgeschlossen verstanden werden kann.

Seit Jahren reisen Angehörige auf den Spuren ihrer Eltern, Groß- und Urgroßeltern nach Nürnberg und versuchen, die Standorte ehemaliger Lager auf dem Reichsparteitagsgelände ausfindig zu machen: Sie suchen den Haupteingang des Kriegsgefangenenlagers, das Lazarett, in dem hunderte sowjetische Kriegsgefangene starben, das Arbeitserziehungslager und den Bahnhof Märzfeld, über den die Transporte abgewickelt wurden; sie besuchen die Grabstätten auf dem Südfriedhof, wo die auf dem Reichsparteitagsgelände und in Nürnberg verstorbenen ausländischen Soldaten und Zivilisten begraben liegen. An den meisten dieser Orte erinnert heute nichts mehr an die Gefangenenlager des Zweiten Weltkrieges, die seit den 1960er-Jahren mit modernen Wohn- und Gewerbevierteln überbaut wurden. Einzig der Bahnhof Märzfeld zeugt als letztes historisches Relikt von dieser anderen Geschichte des Reichsparteitagsgeländes im Krieg. Umso wichtiger ist es, dass Angehörige fortan einen Ansprechpartner für ihre Fragen und Anliegen vorfinden.

Das Dokumentationszentrum versucht, mit vereinten Kräften in diese neue Rolle hineinzuwachsen und die damit verbundenen Erwartungen zu erfüllen: Ein Ort der Information für Angehörige zu werden und sie bei ihrer Suche nach Auskünften und Bitten um Schicksalsklärung über Länder-, Sprach- und Generationengrenzen hinweg zu unterstützen. Ein Ort der Verständigung und Begegnung mit Angehörigen zu werden, die sich über die bis heute fortdauernden Wunden und Brüche in ihrer Familiengeschichte austauschen möchten, welche Gefangenschaft und Tod verursacht haben. Ein Ort der Erinnerung an jene Menschen zu werden, die während des Zweiten Weltkrieges auf dem Reichsparteitagsgelände litten und starben. Diese Kernarbeit von Gedenkstätten zum Nationalsozialismus ist für das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände eine neue Dimension seiner Arbeit und macht uns hier in Nürnberg zu Lernenden. Wir freuen uns auf Erfahrungsaustausch und Unterstützung. Dass die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus nicht nur erkenntnisfördernd ist, sondern über Ländergrenzen und Kontinente hinweg verbindend wirkt, ist eine gute Motivation für die vor uns liegende Arbeit.

Als konkrete Schritte stehen in den nächsten Monaten die Entwicklung von zwei Wanderausstellungen an, mit denen die Geschichte der Gefangenenlager auf dem Reichsparteitagsgelände Verbreitung finden soll - nicht zuletzt in jenen Ländern, aus denen viele Insassen stammten. Die Wanderausstellungen stehen ab 2020 zu Verfügung. Wir freuen uns über Interesse. Ende des Jahres geht zudem eine mehrsprachige Projektwebsite online, die wichtige Ergebnisse dauerhaft verfügbar macht. Mittelfristig steht das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände vor der Herausforderung, diese "andere" Geschichte in seine neue Dauerausstellung zu integrieren. Die aktuelle Wechselausstellung bildet also einen ersten Schritt eines mehrjährigen Prozesses, an dessen Ende die Erinnerung an das Reichsparteitagsgelände auch das Gedenken an die Menschen aus Europa und den USA einschließt, die hier während des Zweiten Weltkrieges gefangen gehalten wurden.

 

Dr. Florian Dierl, Historiker, seit 2014 Leiter des Dokumentationszentrums Reichspartei­tagsgelände und Leiter der Abteilung "Erinnerungskultur und Zeitgeschichte" der Museen der Stadt Nürnberg

Hanne Leßau, Historikerin und seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Leiterin des internationalen Forschungsprojektes und Kuratorin der Ausstellung "Das Reichsparteitagsgelände im Krieg. Gefangenschaft, Massenmord und Zwangsarbeit". 2018 wurde sie mit dem Thema "Entnazifizierungsgeschichten. Der Umgang mit der eigenen NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit" promoviert.

 

[1] Rechercheteam: Dr. Sara Berger, Marlene Friedrich, Dr. Ewelina Klimczak, Dr. Renata Kobylarz-Buła, Hanne Leßau, Dr. Reinhard Otto, Dr. Andrea Rudorff, Dr. Janosch Steuwer, Tatiana Székely. Der Kooperationspartner Zentrales Museum der Kriegsgefangenen in Opole/Łambinowice hat eine langjährige Forschungs- und Ausstellungsexpertise zum Thema der Kriegsgefangenschaft in Europa während des 20. Jahrhunderts und verfügt über eine große Bibliotheks- und Objektsammlung (www.cmjw.pl).

[2] Exemplarisch: Eckart Dietzfelbinger/Gerhard Liedtke: Nürnberg - Ort der Massen. Das Reichsparteitagsgelände - Vorgeschichte und schwieriges Erbe, Berlin 2004.