Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa
Ein neues Angebot für Bildung und Forschung
Am 5. März 2024 wurde in der Topographie des Terrors die »Online-Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa« vorgestellt. Seitdem ist das auf Deutsch und Englisch verfügbare Angebot unter der Adresse encyclopaedia-gsr.eu zu finden. Die Enzyklopädie hat zum Ziel, den jahrzehntelang nicht anerkannten und nicht hinreichend erforschten Völkermord an der Minderheit darzustellen und diesem historischen Verbrechen größere Sichtbarkeit zu verschaffen. Dazu wird das in vielen verschiedenen Sprachen und an oftmals entlegenen Stellen veröffentlichte Wissen zur Verfolgung und Ermordung von Sinti:ze und Rom:nja zusammengetragen und in strukturierter Form veröffentlicht.
Ausgangslage
Eine Aufarbeitung der an Sinti:ze und Rom:nja begangenen NS-Verbrechen setzte in der Bundesrepublik Deutschland erst in den 1980er Jahren ein. Sie wurde angestoßen von der Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti:ze und Rom:nja, die 1982 die politische Anerkennung des Völkermordes durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt erreichte und maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung des zentralen »Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas« hatte, das 2012 in Berlin eröffnet wurde. In diesen Jahrzehnten ist eine Fülle von Lokal- und Regionalstudien über die Verfolgung im Deutschen Reich entstanden, und mit der 1996 erschienenen Habilitation von Michael Zimmermann (»Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische ›Lösung der Zigeunerfrage‹«) wurde das Thema auch in der akademischen Forschung stärker wahrgenommen.
Fast dreißig Jahre später ist es jedoch nach wie vor nicht einfach, sich einen Überblick über die Geschichte des Völkermordes zu verschaffen, erst recht, wenn es um die europäische Dimension der Verbrechen geht. Denn was für Deutschland gilt, gilt ebenso für alle anderen europäischen Länder: Die Geschichtswissenschaft hat sich erst spät dieses Themas angenommen und es ist auch an dortigen Universitäten bis heute als randständig anzusehen. Dies führt dazu, dass das Verfolgungsgeschehen in vielen Aspekten nicht hinreichend erforscht ist. Hinzu kommt, dass einschlägige Monografien mit aktuellen Forschungsergebnissen nur in Ausnahmefällen vorliegen und relevante Beiträge nicht auf Englisch publiziert wurden. Einen Eindruck von der international bis 2015 erschienenen Literatur gibt die von Anna Abakunova und Ilsen About im Auftrag der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) erarbeitete Bibliografie, die online verfügbar ist.
Was die schulische und außerschulische Bildungsarbeit zum Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja betrifft, so ist festzuhalten, dass das Bewusstsein für vorhandene Defizite in der Vermittlungstätigkeit gestiegen ist. Kritische Bestandsaufnahmen, wie sie etwa im 2021 erschienenen »Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus« zu finden sind, und die von der Kultusministerkonferenz, dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma sowie dem Bündnis für Solidarität mit den Sinti und Roma Europas im Dezember 2022 unterzeichnete »Gemeinsame Erklärung zur Vermittlung der Geschichte und Gegenwart von Sinti und Roma in Europa« haben dazu beigetragen. Die von der IHRA erarbeiteten »Recommendations for Teaching and Learning about the Persecution and Genocide of the Roma during the Nazi Era« unterstreichen ebenfalls die Bedeutung einer fundierten Bildungsarbeit. Doch selbst wenn das Thema Eingang in Curricula finden und bei Bildungsträger:innen etabliert werden wird, stellt sich die Frage, auf welcher fachlichen Grundlage und anhand welcher Ressourcen eine Vermittlungstätigkeit stattfinden kann. Die Enzyklopädie soll daher nicht nur für die Forschung eine Fülle von Spezialwissen aufbereiten, sondern auch Basiswissen für die Bildungsarbeit zur Verfügung stellen.
Arbeitsweise
Die Enzyklopädie wird, basierend auf einem Konzept der Autorin, seit dem Sommer 2020 dank einer Förderung durch das Auswärtige Amt an der Forschungsstelle Antiziganismus (FSA) der Universität Heidelberg erarbeitet. Dass die Enzyklopädie in Heidelberg entsteht, ist darauf zurückzuführen, dass die 2017 gegründete Forschungsstelle die erste universitäre Facheinrichtung ist, die sich mit grundlegenden Studien zu Ursachen, Formen und Folgen des Antiziganismus in den europäischen Gesellschaften vom Mittelalter bis in die Gegenwart befasst. Die FSA bietet somit ein optimales wissenschaftliches Umfeld für das Vorhaben.
Zum Team der Enzyklopädie gehören neben der Leiterin und Herausgeberin die wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Sarah Kleinmann (seit 07/2021), der wissenschaftliche Mitarbeiter Martin Holler (halbe Stelle, seit 01/2023) und zwei studentische Mitarbeitende. Das Vorhaben wird von einem wissenschaftlichen Beirat unterstützt, der zweimal im Jahr tagt. Ihm gehören PD Dr. Susanne Heim, Prof. Dr. Tanja Penter, Prof. Dr. Dieter Pohl, Prof. Dr. Sybille Steinbacher, Prof. Dr. Nikolaus Wachsmann, Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, PD Dr. Jane Weiß und Prof. Dr. Michael Wildt an. Mehrere Kooperationspartner:innen begleiten die Entstehung der Enzyklopädie.
Bei der Konzeption der Online-Enzyklopädie standen zu Beginn insbesondere Fragen der Nachhaltigkeit der zu verwendenden Software im Raum. Es war ein ausgesprochener Glücksfall, dass mit dem Center für Digitale Systeme an der FU Berlin ein Kooperationspartner gefunden wurde, der von 2016 bis 2020 die Open-Source-Software »Open Encyclopedia System« (OES) entwickelt hatte und diese gemeinsam mit Projektpartner:innen kontinuierlich weiterentwickelt. Dr. Brigitte Grote und ihre Mitarbeitenden haben das Datenmodell der Enzyklopädie mitausgearbeitet, die technische Implementation umgesetzt, die Internetseite nach Entwürfen des Designers Ruedi Baur (Paris) gestaltet und stehen nach wie vor dem Projekt beratend und unterstützend zur Seite.
Die inhaltliche Konzeption wurde im Rahmen von internationalen Arbeitsgruppen vor allem in den ersten zwei Jahren der Projektarbeit verfeinert und detailliert ausgearbeitet. Dazu entstanden nicht weniger als 18 Arbeitsgruppen, in denen jeweils ein bis fünf Wissenschaftler:innen aus den Sozial- und Geschichtswissenschaften mit Karola Fings und Sarah Kleinmann die zu den verschiedenen Ländern auszuarbeitenden Inhalte diskutierten. In den online stattfindenden Konferenzen erarbeiteten die Mitwirkenden die thematischen Zuschnitte der Lemmata (wie die Artikel in einem enzyklopädischen Werk heißen) und verabredeten, wer welche Texte in welchem Umfang verfasst. Auf diese Weise wurde die Grundlage für die Bearbeitung der Lemmata zu 33 Ländern gelegt (zu Belarus, Belgien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Italien, dem Kosovo, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Moldawien, Montenegro, den Niederlanden, Nordmazedonien, Norwegen, Österreich, Polen, Rumänien, Russland, Schweden, der Schweiz, Serbien, der Slowakei, Slowenien, Tschechien, der Ukraine, Ungarn und dem Vereinigten Königreich). Zusätzlich zu den in den Arbeitsgruppen aktiven Autor:innen wurden einzelne Autor:innen gewonnen, die zu spezifischen Aspekten geforscht haben und ihre Ergebnisse in der Enzyklopädie präsentieren.
Aktuell wirken mehr als 100 Autor:innen aus 25 Ländern an der Entstehung der Enzyklopädie mit. Geplant sind 1.000 Beiträge zu allen europäischen Ländern, in denen Sinti:ze und Rom:nja von Verfolgung betroffen waren. Aber auch alliierte und neutrale Staaten werden im Hinblick auf ihre Politik gegenüber der Minderheit während Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg in der Enzyklopädie berücksichtigt, womit eine Reihe bislang unbearbeiteter oder unbeachteter Aspekte – etwa die Frage, was die internationale Öffentlichkeit während des Zweiten Weltkrieges über den Genozid wusste – publiziert werden.
Rassismuskritische Perspektive
Das Projekt Enzyklopädie ist einem anti-rassistischen Ansatz verpflichtet. Vor dem Hintergrund eines über Jahrhunderte währenden Antiziganismus, der mit stigmatisierenden Zuschreibungen zu gewaltförmiger Ausgrenzung, gesellschaftlicher Ungleichheit und einer Missrepräsentation der Angehörigen der Minderheit geführt hat, müssen die vorhandenen Wissensbestände kritisch überprüft werden. Dies gilt umso mehr, als die Quellen, die über die Verfolgung und Ermordung der Sinti:ze und Rom:nja zur Verfügung stehen, zu einem überwiegenden Teil aus der Perspektive der Täter:innen stammen. Doch auch wissenschaftliche Publikationen bieten keine Gewähr, dass sie die historischen Sachverhalte hinreichend kritisch durchdringen. Viele Studien, selbst wenn sie nach 1945 erschienen sind, tradieren oftmals rassistische Perspektiven. Wir müssen uns daher, wie es die Wissenschaftlerin Jane Weiß formuliert hat, auch mit der »toxischen Wirkung von Wissen« auseinandersetzen.
Hinzu kommt, dass Wissenschaftler:innen an den begangenen Verbrechen nicht unwesentlich beteiligt waren. Sei es, dass sie die ideologischen Grundlagen für die Ermordung der Minderheit gelegt oder die Verbrechen legitimiert haben, sei es, dass sie an der Organisation von Verfolgung und Mord oder an der Durchführung der Verbrechen aktiv mitgewirkt haben. Nach 1945 wurde kaum jemand dafür zur Rechenschaft gezogen, sodass sie ihre Karrieren fortsetzen konnten und ihre Perspektiven weiterhin den gesellschaftlichen Diskurs über Sinti:ze und Rom:nja dominierten – zumindest so lange, bis die Bürgerrechtsbewegungen einen Perspektivwechsel herbeiführten.
Die Enzyklopädie begegnet dieser Problematik mit mehreren Strategien. Grundlegend ist, sich als Wissenschaftler:in dem vorhandenen Wissensbestand kritisch zu nähern und sich der Wirkungsmacht von Wissenschaft bewusst zu sein. Wesentlich ist zudem, verwendete Begriffe kritisch zu beleuchten. Dies gilt vor allem für die rassistische Fremdbezeichnung »Zigeuner«, verschleiernde Begriffe wie »Zigeunerlager« und exkludierende Zuschreibungen wie »nichtsesshaft«. Solche Begriffe werden nicht nur in distanzierende Anführungsstriche und kursiv gesetzt, sondern es gibt zu jedem dieser Begriffe ein eigenes Lemma, das den semantischen Gehalt, die Historizität und die Wirkmächtigkeit dieser Begriffe reflektiert. Für die Arbeit an diesen Lemmata wird das Projekt von Wissenschaftler:innen aus den Communitys beraten (Mag. Mirjam Karoly, Dr. Stéphane Laederich, PD Dr. Jane Weiß).
Eine weitere Strategie besteht darin, die Sichtbarkeit der von Verfolgung Betroffenen zu erhöhen. Sofern es möglich ist, werden bei der Beschreibung konkreter Verfolgungsmaßnahmen auch Namen von Betroffenen genannt, ergänzt um deren Geburts- und Todesjahr. Widerstand und widerständiges Verhalten, etwa Flucht aus einem Lager oder Protestschreiben, sowie die Vielfalt an Überlebensstrategien sollen ebenfalls nicht nur abstrakt dargestellt, sondern konkret anhand von individuellen Beispielen veranschaulicht werden. Darüber hinaus wird die Enzyklopädie etwa 150 eigenständige biografische Texte zu Sinti:ze und Rom:nja enthalten. So können die Individualität der von Verfolgung Betroffenen und ihre Agency aufgezeigt werden und es ist sehr konkret zu erkennen, wie zerstörerisch und todbringend die Verfolgung für die Familien der Sinti:ze und Rom:nja war und wie sehr die Zeit von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg über 1945 hinaus fortwirkte. Die Lebensgeschichten werden auf diese Weise auch in den Wissenskanon eingeschrieben.
Aufbereitung des Wissens
Die Aufbereitung des Wissens in Form einer Online-Enzyklopädie eröffnet niedrigschwellige Zugänge zu dem vielschichtigen Thema und bietet hervorragende Recherchemöglichkeiten. Alle Lemmata sind, wie in einem Lexikon, von A bis Z sortiert. Personen, Orte, Themen oder Lager stehen nebeneinander, die inhaltlichen Ausführungen können gezielt aufgerufen oder auch zufällig entdeckt werden. Anders als in einer analogen Enzyklopädie, erlaubt die Online-Enzyklopädie eine dichte Verknüpfung von Wissen. Diese Funktion erlaubt es, rassistische Begriffe mit kontextualisierenden Erläuterungen zu hinterlegen.
Die Inhalte können aber auch über sechs Rubriken nach verschiedenen Schwerpunkten angesteuert werden (Räume: Länder, Regionen, Orte | Tatorte: Internierungen, Lager, Gettos, Mordstätten | Lebenswege: Sinti und Roma | Verfolgungsapparat: Institutionen, Personen, Konzepte, Gesetze | Nachwirkungen: Justiz, Entschädigung, Aufarbeitung, Gedenken | Glossar: Von Antiziganismus bis Zyklon B). Diese Rubriken sind so angelegt, dass neben einem geografischen und einem biografischen Zugriff eine rasche Übersicht über die an der Verfolgung beteiligten Personen und Institutionen möglich
ist. Auch die bis heute andauernden Nach-
wirkungen der Verfolgung erhalten durch eine eigene Rubrik eine besondere Beachtung.
Eine Chronologie führt alle in den Lemmata behandelten Ereignisse in Europa seit 1933 zusammen. Erstmals entsteht so ein Eindruck von der Parallelität, aber auch der zeitlichen Verschiebung von Verfolgungsmaßnahmen in Europa, etwa im Hinblick auf rassistische Gesetzgebung oder Mordaktionen. Die Chronologie wird bewusst über 1945 hinaus weitergeführt, um wesentliche Aspekte der Aufarbeitung des Genozids herauszustellen. Im Index sind alle Räume, Personen, Schlagwörter und Autor:innen zu finden. Als weiterer eigenständiger Zugang werden »Fotografische Perspektiven auf den Völkermord« angeboten. Hierfür wurde ein kuratorisches Konzept entwickelt, das der Problematik der oftmals aus Täterperspektive stammenden Bildquellen durch eine gezielte Auswahl und eine ausführliche Kontextualisierung der Fotografien begegnet.
Die Enzyklopädie legt besonderen Wert auf eine Dokumentation der Orte, an denen Sinti:ze und Rom:nja inhaftiert, erniedrigt, missbraucht und ermordet wurden, denn oftmals werden Tatorte nicht mit der Verfolgung von Angehörigen der Minderheit in Verbindung gebracht. Mittels einer interaktiven Karte sind alle Tatorte, zu denen Informationen vorliegen, zu finden (z. B. Massakerorte, Konzentrationslager, Vernichtungslager, Zwangslager). Über den Ort auf der Karte gelangt man zu dem Lemma oder den Lemmata, in dem der Ort behandelt oder erwähnt wird. Ergänzend stehen thematische Karten zu verschiedenen Ländern zur Verfügung, die speziell für die Enzyklopädie zusammen mit dem Berliner Kartografen Peter Palm entwickelt wurden und zum Teil erstmalig einen Überblick über das Tatgeschehen – etwa im faschistischen Italien – verschaffen. Schließlich sei noch auf die allgemeine Suchfunktion verwiesen, mit der in allen Inhalten der Enzyklopädie recherchiert werden kann.
Die Texte der Autor:innen werden sukzessive auf der Website veröffentlicht, sobald sie redaktionell bearbeitet sind. Diese publizierten Lemmata werden in schwarzen Lettern angezeigt, während die noch in redaktioneller Bearbeitung befindlichen in grauen Lettern dargestellt sind. Im Oktober 2024 ist etwa ein Fünftel der geplanten Beiträge veröffentlicht, die meisten davon erst in einer Sprachversion. Doch schon jetzt ist erkennbar, dass mit der Enzyklopädie eine einmalige Wissensressource über den NS-Völkermord für die Forschung und die Bildungsarbeit entsteht.
Um der erinnerungspolitischen Bedeutung der Aufarbeitung des NS-Völkermordes an den Sinti:ze und Rom:nja in Europa gerecht zu werden, ist eine Druckversion der Enzyklopädie auf Deutsch vorgesehen. Diese Version wird den Wissensbestand zu einem bestimmten Zeitpunkt festhalten und Eingang in – hoffentlich viele – Bibliotheken finden.
NS-Gedenkstätten und die Aufarbeitung
Gedenkstätten waren und sind in der Bundesrepublik für die Auseinandersetzung mit dem Völkermord wichtige Schauplätze. Die Bürgerrechtsbewegungen nutzten sie als symbolische Orte für öffentlichkeitswirksame politische Aktionen, um auf ihre Anliegen – die Anerkennung als NS-Verfolgte und ein Ende der Diskriminierung – aufmerksam zu machen. Die internationale Gedenkfeier in Bergen-Belsen am 27. Oktober 1979, der Hungerstreik in Dachau vom 4. bis 11. April 1980, an dem vier Überlebende teilnahmen, die Proteste migrantischer Rom:nja auf dem Gelände der Gedenkstätte Neuengamme in den 1980er Jahren: Sie alle lenkten den Blick auch auf eine gravierende Lücke in der gedenkpolitischen Agenda.
KZ-Gedenkstätten und lokale Gedenkstätten begannen in den 1990er Jahren, und damit vor akademischen Einrichtungen, zu der Opfergruppe zu forschen und sie – teils in enger Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und seinen Landesverbänden – in ihren Dauerausstellungen zu repräsentieren. Gleichwohl kann von einer systematischen Forschung in den Gedenkstätten nicht die Rede sein. Bis auf wenige Ausnahmen gibt es keine Monografien zu der Opfergruppe in den verschiedenen Konzentrationslagern, sondern in der Regel lediglich Aufsätze oder kleinere Broschüren. Das Fehlen quellengesättigter historischer Studien hat naturgemäß unmittelbare Auswirkungen auf die Qualität der Darstellung in den Ausstellungen.
Die Enzyklopädie eröffnet nun die Möglichkeit, das in den Gedenkstätten vorhandene Wissen, das dort etwa in den Opferdatenbanken in den letzten Jahren zusammengetragen wurde, zu bilanzieren und zum Teil erstmalig der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Die bislang veröffentlichten Lemmata zu Bergen-Belsen, Dachau, Flossenbürg, Natzweiler-Struthof, Neuengamme und Ravensbrück zeigen, wie heterogen die Forschungslage ist – aber auch, wie detailreich und wenig bekannt die vorliegenden Erkenntnisse sind. Die Präsentation im Rahmen der ganz Europa behandelnden Enzyklopädie eröffnet neue Perspektiven, etwa im Hinblick auf die nichtdeutschen Sinti:ze und Rom:nja als Häftlingsgruppe in den Konzentrationslagern. Ein Eindruck davon lässt sich mittels einer Volltextsuche mit dem Stichwort »Buchenwald« gewinnen, die unter den Ergebnissen die Biografien von belgischen, französischen, norwegischen und tschechischen Sinti:ze und Rom:nja anzeigt.
Als ein wichtiges Instrument erweist sich die Chronologie, in der auch die Transporte von Häftlingen zwischen den verschiedenen Konzentrationslagern aufgenommen werden. Diese Bewegungen nachzuzeichnen und dabei auch die funktionalen Zusammenhänge aufzuzeigen – wie die Überstellungen aus Auschwitz-Birkenau in andere Lager zur Zwangsarbeit oder die Auslieferung von Häftlingen nach Dachau und Flossenbürg zu medizinischen Experimenten –, erfordert viel Detailarbeit, weil Transportlisten oftmals nicht überliefert sind. Diese Detailarbeit ist nur im Rahmen eines internationalen Austausches von Forschungsergebnissen möglich.
Dank des internationalen Austausches können auch Biografien vervollständigt werden, die für die pädagogische Arbeit in den Gedenkstätten von besonderer Relevanz sind. So konnte dank der Zusammenarbeit mit Kollegen aus Luxemburg erstmals die Geschichte des Überlebenden Hans Braun (1923–1999), der 1980 an dem Hungerstreik in der Gedenkstätte Dachau beteiligt war, rekonstruiert werden. Hans Braun, der mit Eltern und Geschwistern seit 1939 in Bernau bei Berlin lebte, war siebenmal einer Verhaftung entgangen. Er überlebte mehr als ein Jahr in der Illegalität im deutsch besetzten Luxemburg, wo Sinti:ze ein Netzwerk pflegten, mit dem Verfolgte unterstützt wurden. 1943 wurde er dennoch verhaftet und nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Von dort wurde er 1944 nach Flossenbürg und in dessen Außenlager Altenhammer überstellt. Er überlebte den Todesmarsch und fand nach der Befreiung eine seiner Schwestern wieder. Aber die Eltern, seine anderen acht Geschwister und viele andere Verwandte überlebten nicht. Die Rekonstruktion der Jahre der Verfolgung, die Beschreibung seiner zahlreichen riskanten Versuche, der Verfolgung zu entgehen, und schließlich auch die Kenntnis dessen, was mit seinen Angehörigen geschah – all das sind wichtige Aspekte der Lebensgeschichte, die in der Vermittlungsarbeit vertiefte Einsichten in die nationalsozialistische Verfolgungspraxis und deren Auswirkungen erlauben.
Ausblick
Anders als in einer Monografie, die meist eine Gesamtdarstellung anstrebt und sich dabei thematisch begrenzen muss, ermöglicht es das Format einer Enzyklopädie, den Wissensbestand nach und nach zu einem größeren Gesamtbild zusammenzufügen. Dies gilt auch dann, wenn – wie im Hinblick auf den Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja in Europa – aufgrund fehlender Forschung an der einen oder anderen Stelle ein Mosaikstein fehlt. Auf bestehende Forschungslücken wird in den Lemmata möglichst explizit hingewiesen. Da die Online-Enzyklopädie jederzeit eine Aktualisierung der vorhandenen Lemmata oder die Veröffentlichung weiterer Lemmata erlaubt, kann und soll das vorhandene Wissen nicht festgeschrieben, sondern als ein Wissensbestand verstanden werden, der einer stetigen Überprüfung, Umschreibung und Ergänzung unterliegt. Anregungen oder Vorschläge für Beiträge – etwa zu KZ-Außenlagern, in denen Sinti:ze und Rom:nja inhaftiert waren, oder zu den biografischen Lemmata – sind daher ausdrücklich erwünscht.
Dr. Karola Fings ist Historikerin und wechselte 2020 aus dem NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln an die Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg, um dort die von ihr konzipierte Enzyklopädie umzusetzen. Sie war Mitglied der 2019 von der Bundesregierung eingesetzten Unabhängigen Kommission Antiziganismus, deren Bericht 2021 erschien, und ist Mitglied der deutschen Delegation bei der International Holocaust Remembrance Alliance.