Gegenwartsbezüge in der Gedenkstättenarbeit

Eine Positionsbestimmung der Fachkommission der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen
03/2022Gedenkstättenrundbrief 205, S. 31-33
Fachkommission der Stiftung Hamburger Gedenkstätten

Einleitung

Gedenkstätten zur Erinnerung an das nationalsozialistische Unrecht haben in der demokratischen Gesellschaft den Auftrag, Wissen über Formen, Ursachen und Folgen schwerster Menschheitsverbrechen zu vermitteln. Doch inwieweit beinhaltet dieser Auftrag auch, sich zu gegenwärtigen gesellschafts- und geschichtspolitischen Fragen zu äußern?

Auf Wunsch des Stiftungsrats befasste sich die Fachkommission der "Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen" (SHGL) mit dem Verhältnis von aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen und der Gedenkstättenarbeit. Immer öfter sehen sich Gedenkstätten damit konfrontiert, in geschichtspolitischen Kontexten für unterschiedliche Ziele als Referenz herangezogen und zitiert zu werden. Gut ist es dann, eine Grundlage für die eigene Positionierung zu haben: Das Ergebnis des Austauschs in der Fachkommission der SHGL ist das Eckpunktepapier "Gegenwartsbezüge in der Gedenkstättenarbeit", das wir hier teilen möchten. Wir verstehen unser Gespräch als ein Beispiel für die aktive Reaktion auf gegenwärtige Erfahrungen in der Gedenkstättenarbeit. Außerdem möchten wir mit der Veröffentlichung ein Diskussionsangebot machen. Wir freuen uns, wenn das Statement zu weiteren Gesprächen und Verständigungen beiträgt.

Das Eckpunktepapier im Wortlaut:

Gegenwartsbezüge in der Gedenkstättenarbeit

Gedenkstättenarbeit in Deutschland bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen der Gegenwart. In jüngerer Zeit wird dies besonders durch eine Transformation der Erinnerungskultur, die Diversifizierung der Gesellschaft und eine wachsende Sensibilität für Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus akzentuiert.

Gedenkstätten sind dabei immer wieder mit Versuchen politischer Instrumentalisierung konfrontiert, etwa indem sie zu Orten einer Imprägnierung gegen geschichtsrevisionistische Haltungen erklärt werden. Gleichzeitig steht in Frage, inwiefern Gedenkstätten in aktuellen Debatten über die Deutung der nationalsozialistischen Vergangenheit und zu gesellschafts-politischen Fragen selbst Position beziehen und aktiv werden sollen oder können. Vor diesem Hintergrund skizziert die Fachkommission der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen (SHGL) im Folgenden ihr Verständnis eines geschichts- und gesellschaftspolitischen Mandats von Gedenkstätten.

Auftrag

Die SHGL erinnert am historischen Ort des ehemaligen KZ Neuengamme, an drei seiner Hamburger Außenlager sowie an dem Deportationsort Hannoverscher Bahnhof an die nationalsozialistischen Verbrechen, sie erforscht und vermittelt deren Geschichte und Folgen und sie bewahrt das Gedenken an die Verfolgten des NS-Regimes. Die Aufklärung über die nationalsozialistischen Verbrechen schließt die Auseinandersetzung mit deren Folgen und die kritische Reflexion über "den gesellschaftlichen Umgang mit dem historischen Geschehen bis in die Gegenwart" ein (§ 2 Hamburgisches Gedenkstättengesetz).

Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus repräsentieren heute als zentrale Bestandteile der Geschichtskultur das Bewusstsein einer herausgehobenen historischen Bedeutung der vom deutschen Staat unter Beteiligung und Billigung weiter Teile der Gesellschaft zwischen 1933 und 1945 begangenen Menschheitsverbrechen. In dieser Eigenschaft bilden sie erstens Institutionen der wissenschaftlichen Erforschung der Vergangenheit. Da sie gleichzeitig Räume für dynamische Aktualisierungen der Bedeutung der nationalsozialistischen Vergangenheit bieten, stellen sie zweitens wichtige gesellschaftliche Foren dar. Sie vertreten drittens in besonderer Weise die Perspektive und Interessen der ehemals Verfolgten und ihrer Hinterbliebenen. Hierin gründet ein genereller Auftrag, sich als institutionelle Akteure einer gegenwartsbezogenen Erinnerungskultur ebenso zur öffentlichen Deutung von Praktiken historischer Ausgrenzung und Verfolgung wie zu Formen aktueller gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und ihren Ursachen und Folgen zu äußern.

Die SHGL sieht sich zudem der 2012 von der "International Holocaust Remembrance Association" und dem "International Committee for Memorial Museums for Victims of Public Crimes" verabschiedeten "Internationalen Gedenkstätten-Charta" verpflichtet. Sie betont die Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen sowie die aus der Bewahrung und Vermittlung des historischen Vermächtnisses der Opfer resultierende gegenwartsbezogene Verantwortung für den Schutz der Würde der Opfer, die Integration gesellschaftlicher Minderheiten und die Schaffung pluralistischer Erinnerungskulturen. Gedenkstätten haben demnach das Mandat, zu einer humanitären und staatsbürgerlichen Bildung beizutragen und Interpretationen der Vergangenheit in aktuelle geschichts- und gesellschaftspolitische Debatten einzubringen. Sie sind dabei der Aufklärung über die NS-Vergangenheit und seiner Folgen verpflichtet. Gedenkstätten dürfen keinesfalls als Mittel zur Erreichung bestimmter richtungspolitischer Zwecke eingesetzt werden.

Die SHGL beachtet in ihrer Arbeit, dass Besucher*innen weder überfordert noch indoktriniert werden und dass kontroverse Themen auch kontrovers behandelt werden. Die Verknüpfung historischer und aktueller Fragestellungen trägt zur Entwicklung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins und einer reflexiven, selbstkritischen Erinnerungskultur bei und stärkt das Bewusstsein für die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte.

Herausforderungen und Maßnahmen

Die gegenwärtige deutsche Gesellschaft kennzeichnen multiple Formen der Erinnerung an den Nationalsozialismus, die aus dem wachsenden zeitlichen Abstand, aber auch aus historischen und gegenwärtigen transnationalen und globalen Verflechtungen sowie aus Zuwanderung und gesellschaftlicher Diversität entstehen. Die SHGL fördert deshalb vielfältige Zugänge zur Geschichte des Nationalsozialismus, unter anderem durch die differenzierte Betrachtung verschiedener Verfolgten- und Tätergruppen sowie durch eine reflexive Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven oder Bezüge zum Zweiten Weltkrieg und zum Nationalsozialismus.

In diesem Sinne arbeitet die SHGL darauf hin, vereinfachende Vorstellungen zur nationalsozialistischen Vergangenheit aufzulösen, wie sie zum Beispiel nach wie vor das Bild von Täter*innen und gesellschaftlicher Mitverantwortung prägen. In der Arbeit werden neben heutigen öffentlichen - politischen, medialen, gesellschaftlichen - Positionen auch private - familiäre, individuelle, gruppenbezogene - Einstellungen und Kommunikationsräume einbezogen. Es werden gesellschaftlich-strukturell wie institutionell wirksame gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen der Gegenwart thematisiert und auf ihre Kontinuitäten sowie Brüche zu geschichtsrevisionistischen, rassistischen, antisemitischen und antiziganistischen Denkweisen und Handlungen hin betrachtet.

Zu diesem Zweck umfasst der Bildungsauftrag der SHGL unter anderem internationale Begegnungen und Programme auch und insbesondere in der Jugendbildung zur Stärkung von Minderheitenrechten und zur Förderung von Toleranz, Vielfalt und Diversität. Diese Programme fördern das Potenzial eines kritischen historischen Denkens und stellen damit einen wichtigen Beitrag zur demokratischen Geschichtskultur dar.

Ihrem Auftrag und Mandat kann die SHGL auch dadurch gerecht werden, dass sie sich auf der Basis ihrer wissenschaftlichen und praktischen Expertise in gesellschaftliche Debatten einbringt, um menschen- und demokratiefeindliche Tendenzen anzusprechen und ihnen entgegenzutreten. Dies soll insbesondere dann der Fall sein, wenn geschichtspolitische Umdeutungen der Vergangenheit den Grundprinzipien der Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen widersprechen.

 

Die Mitglieder der Fachkommission:

Dr. Sabine Bamberger-Stemmann, Leiterin, Landeszentrale für politische Bildung

Prof. Dr. Kirsten Heinsohn, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Prof. Dr. Habbo Knoch, Universität zu Köln, Historisches Institut

Prof. Dr. Andreas Körber, Universität Hamburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft

Prof. Dr. Birthe Kundrus, Universität Hamburg Fakultät für Geisteswissenschaften, Historisches Seminar

Dr. Ekaterina Makhotina, Universität Bonn, Abteilung für Osteuropäische Geschichte

Prof. Dr. Günter Morsch, ehemaliger Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und Vorsitzender der Fachkommission

Prof. Dr. Miriam Rürup, Moses Mendelsohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien Potsdam

Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora

Sowie für die Stiftung Hamburger Gedenstätten und Lernorte an die Opfer der NS-Verbrechen:

Prof. Dr. Detlef Garbe und Dr. Oliver von Wrochem