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Antiziganismus und die Arbeit der Gedenkstätten
Unter dem Titel »Perspektivwechsel. Nachholende Gerechtigkeit. Partizipation« veröffentlichte die Unabhängige Kommission Antiziganismus (UKA) 2021 ihren Abschlussbericht, die bisher wohl umfassendste Publikation zum spezifischen Rassismus gegen Sinti* und Roma* in Deutschland. Der vorliegende Beitrag soll auf die Bedeutung des Berichts der UKA für die Gedenkstättenarbeit hinweisen und zur Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen und Handlungsempfehlungen der Kommission ermutigen.
Der umfangreiche Bericht enthält sechs zentrale Forderungen und eine Vielzahl an Handlungsempfehlungen zu unterschiedlichen Bereichen, etwa zur Aufarbeitung der langen Geschichte des Antiziganismus und des NS-Völkermordes, zu Anerkennung und Entschädigung, zum Ausbau von Partizipationsstrukturen und zur Unterstützung von Selbstorganisationen, zum Ausbau von Diskriminierungs- und Minderheitenschutz oder zu Initiativen gegen Hate Speech in Sozialen Medien.
Einige zentrale Forderungen der UKA wurden in der Zwischenzeit umgesetzt, genannt seien hier die Berufung eines Beauftragten gegen Antiziganismus auf Bundesebene im März 2022 und der Entschluss zur Einrichtung einer ständigen Bund-Länder-Kommission im Juni 2024. Dass das Thema zumindest in Teilen der Politik angekommen ist, zeigt auch ein Beschluss des Bundestages vom Dezember 2023, der nach einer Debatte zum Bericht der UKA gefasst wurde. Neben der Forderung nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Antiziganismus in Sicherheitsbehörden hat der Bundestag die Bundesregierung zur Einsetzung einer Kommission zur Aufarbeitung des Unrechts an Sinti* und Roma* nach 1945 aufgefordert und sich damit eine der bisher offen gebliebenen Forderungen der UKA zu eigen gemacht.
Auch wenn einige politische Erfolge zu verzeichnen sind, finden andere Anliegen der UKA wenig Resonanz. So scheint die Anerkennung geflüchteter Roma* als besonders schutzwürdige Gruppe vor dem Hintergrund der fortwährenden Verschärfungen in Sachen Migration geradezu utopisch. Abschiebungen von Roma* in die Staaten des ehemaligen Jugoslawiens oder nach Moldawien sind ebenso an der Tagesordnung wie Hetze und Verleumdungen gegenüber geflüchteten Roma* aus der Ukraine.
Der Bericht der UKA scheint außerhalb einschlägig interessierter Kreise nur wenig rezipiert zu werden, was auch daran liegen mag, dass er mit über 500 Druckseiten recht sperrig ausgefallen ist. Das Dokument enthält allerdings wichtige Impulse für unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche, die dank des detaillierten Inhaltsverzeichnisses leicht auffindbar sind.
Gedenkstätten und Antiziganismuskritik
Für die Praxis der Gedenkstätten ist neben den Ausführungen zur Verfolgung und Ermordung von Sinti* und Roma* im Nationalsozialismus vor allem das Kapitel 16 relevant. Der Abschnitt »Gedenkstätten – Orte antiziganismuskritischer
Bildungsarbeit?« befasst sich mit Empfehlungen und Anregungen insbesondere zur pädagogischen Arbeit der Gedenkstätten. Die Hauptgrundlage für die Ausführungen stellt eine von Steffen Jost im Auftrag der UKA erstellte Expertise dar, die auch separat publiziert wurde.
Jost stellt fest, dass sich die Gedenkstätten seit den 1990er-Jahren regelmäßig mit der Verfolgung der Sinti* und Roma* im Nationalsozialismus beschäftigen und dieses Thema in Forschungsprojekten, Publikationen, Ausstellungen und Bildungsangeboten aufgreifen. Dabei werden Organisationen und Verbände der Communities einbezogen, die auch in Beiräten vertreten sind.
Die Beschäftigung der Gedenkstätten mit dem Thema geht auf Impulse der Bürgerrechtsbewegung der Sinti* und Roma*, also der Communities selbst, zurück. Die Protagonist*innen dieser Bewegung haben unter anderem die Orte ehemaliger Konzentrationslager zu Orten des Protests gemacht – prominente Beispiele sind die große Kundgebung »In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt« in Bergen-Belsen 1979 und der Hungerstreik in Dachau 1980. Auch im Rahmen von Protesten für ein Bleiberecht geflüchteter Roma* standen mehrfach Gedenkstätten im Fokus. Dass viele Gedenkstätten diesen Teil ihrer eigenen Geschichte in ihrer Bildungsarbeit aufgreifen und damit sowohl Kontinuitäten nach 1945 als auch Kämpfe um Anerkennung und Teilhabe seitens der Communities sichtbar machen, ist aus Sicht der UKA zu begrüßen.
Nötig sei aber darüber hinaus eine stärkere gezielte Auseinandersetzung mit Antiziganismus als eigenständigem Phänomen – dies stelle bisher die Ausnahme dar.
Handlungsbedarf in Ausstellungen, Bildung und Forschung
Auch wenn Sinti* und Roma* in der Arbeit von Gedenkstätten nicht mehr als »vergessene Opfer« bezeichnet werden können, gibt es Bereiche, in denen Gedenkstätten ihre Praxis auf Grundlage einer kritischen Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart des Antiziganismus überdenken sollten. So stellt die UKA fest, dass Ausstellungen durch die Wiedergabe von Täterquellen in Text und Bild immer wieder ungewollt antiziganistische Narrative und Sichtweisen reproduzieren. Insbesondere im Umgang mit Fotos und Material aus den Beständen der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« (RHF) sei eine größere Sensibilität notwendig. Den rassistischen Charakter der auf totale Auslöschung zielenden Verfolgung auf Grundlage historischer Quellen deutlich herauszustellen, ohne dabei ebendiesen Rassismus zu reproduzieren, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, der sich die Gedenkstätten bei der Gestaltung neuer Ausstellungen stellen müssen. Dabei könnte die von der UKA empfohlene Veröffentlichung einer Handreichung zu den Text- und Bildbeständen der RHF hilfreich sein.
Die fortwährende Reflexion bedarf auch einer Praxis der historisch-politischen Bildung, die zugleich antiziganismuskritisch ist. Hier empfiehlt die UKA den an Gedenkstätten Tätigen die Teilnahme an Fortbildungen von Selbstorganisationen und anderen Trägern, die sich gezielt gegen Antiziganismus engagieren. Ermutigt wird im Bericht auch eine Intensivierung des fachlichen Austauschs und der Vernetzung zwischen Gedenkstättenpädagog*innen, die sich schwerpunktmäßig der Vermittlung der Verfolgung und Ermordung von Sinti* und Roma* im Nationalsozialismus widmen. Die Möglichkeit zu einem solchen Austausch bietet das Netzwerktreffen zur historisch-politischen Bildungsarbeit, das vom Bildungsforum gegen Antiziganismus des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma jährlich in Kooperation mit wechselnden Gedenkstätten ausgerichtet wird. Bezüglich der in der Studie von Jost festgestellten geringen Nachfrage nach Bildungsangeboten zur Verfolgung der Sinti*und Roma* fordert die UKA die Gedenkstätten auf, bestehende Angebote stärker publik zu machen und so die Resonanz zu steigern.
Auch in der Forschung besteht nach Einschätzung der UKA Handlungsbedarf. Über viele regionale Kontexte der Verfolgung sowie ihre Vor- und Nachgeschichte sei wenig bekannt. Zur Situation von Sinti* und Roma* als Gefangenengruppe in einzelnen Lagern und zu den Wegen der Deportationen gibt es laut Jost ebenfalls große Wissenslücken. Die UKA empfiehlt eine Intensivierung der Forschungsförderung zur Geschichte des Völkermordes und zur Zweiten Verfolgung nach 1945, wobei sie ausdrücklich auf die bisher nicht ausreichend dokumentierte europäische Dimension von Verfolgung und Massenmord hinweist.
Gemeinsam für Partizipation
Großen Handlungsbedarf konstatiert die UKA bei der Einbeziehung von Sinti* und Roma* in die Arbeit der Gedenkstätten. So gebe es zwar immer wieder Kooperationsprojekte mit Selbstorganisationen etwa im pädagogischen Bereich und auch die Mitarbeit in unterschiedlichen Gremien und bei zentralen Gedenkveranstaltungen sei weitgehend gelungen. Eine kontinuierliche Mitgestaltung durch Sinti* und Roma* finde aber praktisch nicht statt. Das liege auch daran, dass es kaum Menschen aus den Communities gebe, die an Gedenkstätten tätig sind.
Die Frage der Einbeziehung betrifft auch den biografischen Fokus, der viele Publikationen, Ausstellungen und Bildungsangebote kennzeichnet. Für Besucher*innen von Gedenkstätten und Teilnehmende an Bildungsformaten wird durch die Darstellung persönlicher
Lebensgeschichten ein hohes an Maß an Anschaulichkeit hergestellt und mit der Betonung individueller Lebens- und Verfolgungswege kommt diesem Ansatz auch ein rassismuskritisches Potenzial zu.5 Vielen Sinti* und Roma* allerdings treten Forschende und Gedenkstätten als Teil der Dominanzgesellschaft entgegen. Angehörige der Communities mussten immer wieder die Erfahrung machen, dass Informationen zur Verfolgung ihrer Angehörigen ohne ausreichende Rücksprache veröffentlicht wurden. Die Veröffentlichung von Namen und insbesondere von Fotos der Verfolgten kann Wunden aufreißen und den gesellschaftlichen Ausschluss einmal mehr reproduzieren, auch wenn sie in bester Absicht geschah.
Für den Umgang mit dem historischen Material müssen neue ethische Grundsätze entwickelt werden, die den Schutz heute lebender Angehöriger der Verfolgten mitdenken. Das betrifft Forschende und Gedenkstätten ebenso wie Archive. Solche Grundsätze müssen im Dialog mit den Angehörigen der Communities entwickelt und kontinuierlich (selbst-)kritisch überprüft werden. Dabei reicht es nicht, das Gespräch mit den einschlägigen Facheinrichtungen zu suchen. Von Bedeutung sind auch lokale Akteur*innen aus den Communities und ganz besonders heute noch lebende Angehörige der Menschen, deren Verfolgungsgeschichte dokumentiert werden soll. Auf diese Aspekte weist insbesondere Margitta Steinbach vom Menda Yek e.V. immer wieder hin. Im Zweifelsfall kann es besser sein, Fotos nicht zu veröffentlichen und auf die Nennung von Klarnamen zu verzichten. Neben der Verantwortung für die Geschichte besteht hier eine Verantwortung für die Gegenwart. Wie es aussehen kann, sich in dieser Hinsicht auf den Weg zu machen, haben die Gedenkstätte Sachsenhausen und das Bildungsforum gegen Antiziganismus mit dem Projekt »Wir intervenieren!« auf eindrucksvolle Art und Weise gezeigt (siehe dazu den Text von Katja Anders in dieser Ausgabe).
Wir leben in einer Zeit, in der die extreme Rechte immer stärker wird. Die Bedrohung trifft neben Geflüchteten, zivilgesellschaftlich Engagierten und Lokalpolitiker*innen, Jüdinnen_Juden, Sinti* und Roma* und anderen Gruppen auch die Gedenkstätten. Das ist ein Grund mehr, bestehende Allianzen zu stärken und neue Kontakte zu knüpfen, um sich gemeinsam für ein gleichberechtigtes Zusammenleben und eine würde Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen einzusetzen.
Tobias Borcke arbeitet als Referent beim Beauftragten der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland und war in den letzten Jahren in der historisch-politischen Bildungsarbeit unter anderem an der Gedenkstätte Sachsenhausen, im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors und dem Bildungsforum gegen Antiziganismus tätig.