Historisch-politische Bildung hinter Gittern

Ausstellungsprojekte des Anne Frank Zentrums in Justizvollzugsanstalten
04/2021Gedenkstättenrundbrief 194, S. 39-44
Franziska Göpner und Roman Guski

Justizvollzugsanstalten sind eher ungewöhnliche Orte für Projekte der historisch-­politischen Bildung. Gleichwohl macht das Anne Frank Zentrum mit der Wanderausstellung "'Lasst mich ich selbst sein' Anne Franks Lebensgeschichte" regelmäßig Halt in Gefängnissen, um junge Menschen in Haft zur Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus anzuregen. Die Teilnehmenden eignen sich in den Projekten Wissen zu historischen und aktuellen Themen an, sie reflektieren eigene Haltungen und erfahren Selbstwirksamkeit, indem sie Gruppen durch die Ausstellungen begleiten.

Bereits ab 2004 wurde die Ausstellung "Anne Frank - eine Geschichte für heute" zwölfmal in Justizvollzugsanstalten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen gezeigt. Seit 2015 setzt das Anne Frank Zentrum mit einer neuen Ausstellung über die Lebensgeschichte von Anne Frank bundesweit und kontinuierlich Projekte im Strafvollzug um. Jährlich werden etwa fünf Ausstellungen in Gefängnissen gezeigt. Ein Schwerpunkt liegt auf Anstalten des Jugendstrafvollzugs, womit vornehmlich männliche Jugendliche und junge Erwachsene erreicht werden. In Berlin und Baden-Württemberg wurden auch Ausstellungsprojekte im Frauenvollzug durchgeführt. Daneben regt das Anne Frank Zentrum mit Tagungen und Veröffentlichungen den Fachkräfteaustausch im Feld an und evaluiert in Zusammenarbeit mit der Hochschule Merseburg den Stand der politischen Bildung im Strafvollzug. Doch welche Chancen und Herausforderungen birgt die Arbeit mit Jugendlichen in Haft, einer weithin als "schwierig" und "bildungsfern" beschriebenen Zielgruppe?

Die Wanderausstellungsprojekte des Anne Frank Zentrums

Seit über 20 Jahren setzt das Anne Frank Zentrum bundesweit Wanderausstellungsprojekte zur Geschichte Anne Franks und des Nationalsozialismus um. Die Ausstellungen folgen dem Ansatz des biografischen Lernens und ermöglichen Jugendlichen über die Beschäftigung mit der persönlichen Geschichte Anne Franks einen niedrigschwelligen und jugendgerechten Zugang zur Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Verbrechenskomplex. Anne Franks Lebensgeschichte, anhand der sich das komplexe historische Geschehen konkretisiert, steht für sich selbst wie auch beispielhaft für andere Opfer des Holocaust. Ihr kurzes Leben - die Flucht der Familie aus Deutschland in die Niederlande, ihre Zeit im Versteck sowie ihre Deportation und Ermordung - ist gut dokumentiert. Wichtigstes Zeugnis ist Anne Franks weltweit bekanntes Tagebuch, das Einblick in ihre ganz persönliche Gefühls- und Gedankenwelt gibt.

Anne Franks Gedanken sind anschlussfähig an die Lebenswelt Jugendlicher und regen wiederum zum Nachdenken darüber an, welche Bedeutung ihrer Geschichte heute zukommt. Hieran knüpfen die Wanderausstellungsprojekte des Anne Frank Zentrums an, die neben der Geschichte des Nationalsozialismus auch Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung in der Gegenwart in den Blick nehmen sowie Möglichkeiten zivilgesellschaftlichen Engagements aufzeigen. Die Ausstellungsinhalte richten sich an Jugendliche und werden partizipativ erschlossen: In einem zweitägigen Trainingsseminar werden Jugendliche zu sogenannten Peer Guides ausgebildet, die andere Jugendliche und junge Erwachsene durch die Ausstellung begleiten. Der Peer Education Ansatz, ein Kernelement der historisch-politischen Bildungsarbeit des Anne Frank Zentrums, schafft anhand der Vermittlung historischer und gegenwartsbezogener Themen von Jugendlichen an Jugendliche ein Lernen "auf Augenhöhe". Auch im Strafvollzug arbeitet das Anne Frank Zentrum mit diesem Ansatz.

Peer Education als Erfolgskonzept

Peer Education beschreibt eine Form des Lernens von Menschen, die etwa gleichen Alters sind, einen ähnlichen Status haben oder sich in einer ähnlichen Lebenssituation befinden. Dahinter steht die Idee, dass Peers aufgrund ihrer ähnlichen Lebensrealität in der Lage sind, sich gegenseitig zu beeinflussen und somit einander bestimmte Themen und Inhalte vermitteln können.[1] Dabei zeigt sich ein doppelter Vermittlungseffekt, den sich das Anne Frank Zentrum in seiner pädagogischen Arbeit zunutze macht: Die Peer Guides beschäftigen sich selbst partizipativ mit den Themen der Ausstellung und beziehen als Multiplikatoren weitere Teilnehmende in den Bildungsprozess ein. In den Justizvollzugsanstalten sind es vor allem andere Inhaftierte, Bedienstete, Familienangehörige oder externe Personen von kooperierenden Fachdiensten, Vereinen und Schulen, die an den Ausstellungsbegleitungen teilnehmen. Im Mittelpunkt stehen das gemeinsame Lernen und ein gleichwertiger Umgang, der viel Raum für eigene Erfahrungen und Gedanken lässt.

"Anne Frank war eine ganz normale, optimistische junge Frau, mit Träumen und Zielen. Ich glaube, dass ihr Tagebuch deshalb so populär geworden ist. [...] Mir ist besonders der aktuelle Teil der Ausstellung im Gedächtnis geblieben, weil man viele Bezüge von früher zu heute finden kann. [...] Die Ausstellung hat mir einerseits die Lebensgeschichte von Anne Frank mitgegeben, aber auch gezeigt, dass man einen Menschen nicht nur oberflächlich kategorisieren soll, sondern auch hinter die Fassade blicken sollte", meldete ein Inhaftierter der JVA Rockenberg in Hessen nach dem Projekt zurück. Das Peer Guide Konzept trägt wesentlich zum Gelingen der Bildungsprojekte bei, wie eine andere Rückmeldung deutlich macht: "Zu Beginn hatte ich meine Bedenken, wie werden die Gefängnisbesucher auf mich reagieren? Werden die Menschen voller Vorurteile mir gegenüber treten und mir überhaupt zuhören? Am Ende fühlte es sich gut an. All meine Bedenken waren umsonst, ich wurde akzeptiert wie und vor allem wo ich war und bin. Und ich fühlte mich selbstbewusster, zufriedener und gestärkt."[2]

Das gestiegene Zutrauen in eigene Fähigkeiten, das bei vielen Teilnehmenden zu beobachten ist, verweist auch auf vorhandene Unsicherheiten. Der überwiegende Teil junger Menschen in Haft verfügt über keine oder eine mangelhafte Schul- und Berufsbildung, die familiären Verhältnisse sind oft zerrüttet. Von Angeboten der historisch-politischen Bildung werden marginalisierte Jugendliche kaum erreicht und gerade junge Menschen in Haft sind von allen außerschulischen Angeboten ausgeschlossen. In dieser Hinsicht ist die aufsuchende Projektarbeit mit dem Ansatz der Peer Education ausgesprochen wegweisend. Der Lernprozess geht über die Vermittlung von historischem Wissen hinaus: Die Peer Guides erfahren Selbstwirksamkeit, erweitern durch die Arbeit in und mit Gruppen ihre sozialen Fähigkeiten und erwerben ­Kompetenzen in der Leitung und Moderation von Diskussionen. In der Vermittlungssituation werden sie für Teilnehmende zum Vorbild und in ihrer Persönlichkeit gestärkt. Der Ansatz der Peer Education leistet darüber einen Beitrag der Prävention von menschen­verachtenden Ideologien.

Justizvollzugsanstalten als Lernorte

Insbesondere der Jugendstrafvollzug ist ein Ort des Lernens. Bildungsprozesse finden sowohl im Rahmen der schulischen und beruflichen Aus- und Weiterbildung, wie auch durch sozialpädagogische oder ähnliche Maßnahmen statt. Diese sind dem im Strafvollzugsgesetz bestimmten Vollzugsziel untergeordnet: "Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen" (§2 StVollzG). Nicht auf Anpassung und Unterordnung, sondern auf ein selbstständiges, eigenverantwortliches Leben in Freiheit ist der Strafvollzug also dem Gesetz nach gerichtet. Zugleich ist das Leben in Haft jedoch vollkommen fremdbestimmt und von Ordnungs- und Sicherheitsaspekten dominiert. Regeln und Strafen beherrschen den Alltag: Der gesamte Tagesablauf ist vom frühzeitigen Aufstehen bis zum "Nachtverschluss" vorbestimmt. Erving Goffman beschrieb das Gefängnis als "totale Institution", die jegliche Tätigkeiten und Äußerungen regelt und kontrolliert. Die Haft sei ein Angriff auf das Selbst, indem die betreffende Person von der Gesellschaft isoliert und auf die Rolle des Strafgefangenen reduziert wird. In diesem Zusammenhang spricht er auch vom "bürgerlichen Tod" des Individuums.[3]

Hier wird überaus deutlich, das pädagogisches Handeln im Strafvollzug von Widersprüchen geprägt ist: Auf der einen Seite steht die Förderung von Mitwirkung und Verantwortungsübernahme, das Schaffen von Gestaltungsspielräumen für Inhaftierte. Auf der anderen Seite stehen die Regeln und Sanktionen des Strafvollzugs, die Möglichkeiten und Erfahrungen des Missbrauchs von Freiräumen wie auch häufig begrenzte personelle und zeitliche Ressourcen.[4] Auch mit Blick auf die historisch-politische Bildungsarbeit des Anne Frank Zentrums zeigt sich dieses Spannungsfeld: Während in Seminaren gemeinsam Möglichkeiten besprochen werden, sich gesellschaftlich zu engagieren, macht das Gefängnis, als ein nach Sicherheitsaspekten regulierter Raum, eigeninitiatives und couragiertes Handeln geradezu unmöglich. Pädagogische Angebote müssen sich in die Abläufe im Strafvollzug einfügen und sind mitunter nur schwer mit ihnen in Einklang zu bringen, sei es durch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die beschränkte Nutzung moderner Medien oder mangelnde Offenheit der Anstalten.

Durchaus umstritten ist, wie sinnstiftend und nachhaltig pädagogische Projekte im Strafvollzug sind, wenn die Teilnehmenden nach einem "erfolgreichen" Projekt wieder auf ihren Häftlingsstatus zurückgeworfen werden und sich den Regeln der Anstalt zu fügen haben. "Dem Jugendstrafvollzug helfen auch die besten Projekte nicht", meint etwa Werner Nickolai, der die Abschaffung des Jugendstrafvollzugs fordert. Die Haft zerstöre soziale Beziehungen, erschwere die Vermittlung menschlicher Werte und befördere eher die Abkehr von der Gesellschaft, als auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten.[5] Gleichwohl ist der (Jugend-) Strafvollzug gesellschaftliche Realität und gestaltbar. "Zwischen harten, unmenschlichen Verwahrformen und einem modernen Jugendstrafvollzug in freien Formen gibt es eine Fülle von Modelle[n] und Ansätzen"[6], so Jens Borchert. Er plädiert dafür, den Strafvollzug unter Rückgriff auf reformpädagogische Ideen zu reformieren, um Entfaltungsspielräume zu schaffen und Eigeninitiative zu ermöglichen. Hier können Bildungsprojekte ansetzen und den regulierten und streng hierarchischen Haftalltag zumindest zeitweise vergessen machen, indem die Teilnehmenden nicht als "Gefangene", sondern Subjekte ernst genommen werden und man ihnen vorurteilsfrei begegnet.

Historisch-politische Bildung inklusiv gestalten

Die Erfahrungen des Anne Frank Zentrums der letzten vier Jahre aus der historisch-politischen Bildungsarbeit im Strafvollzug haben deutlich gemacht: Die Zielgruppe "junge Gefangene" ist mit Blick auf verschiedene Aspekte sehr heterogen, ­insbesondere mit Blick auf die Kategorien Herkunft und Sprache. Eine Gemeinsamkeit, die viele Gefangene teilen, ist eine brüchige Bildungsbiografie. Die häufig negativen Erfahrungen mit Institutionen und Akteuren der formalen Bildung wirken sich auch auf die Bereitschaft aus, an ergänzenden Bildungsangeboten im Strafvollzug teilzunehmen. Für die politische Bildungsarbeit, für die der Aspekt der Freiwilligkeit zentral ist, stellt dies eine besondere Herausforderung dar. Hier braucht es eine Offenheit von Seiten der Justizvollzugsanstalten wie auch der externen politischen Bildner und Bildnerinnen für die jeweilige Spezifik und Arbeitsweise des Gegenübers. Für eine nachhaltige Umsetzung von Angeboten der historisch-politischen Bildung im Strafvollzug sollte die Institution als Ganzes in den Blick genommen werden, das heißt auch Mitarbeiterinnen und ­Mitarbeiter sollten möglichst einbezogen und informiert sein.[7]

Inklusion als Anspruch der historisch-politischen Bildung ist ein breit diskutiertes Thema. Die Arbeit im Strafvollzug und mit der Zielgruppe junger Inhaftierter verdeutlicht die Notwendigkeit inklusiver Ansätze und Zugänge, insbesondere mit Blick auf die herausfordernde und komplexe Geschichte des Nationalsozialismus. Aus der Perspektive der Vermittlung zeigt sich ein Spannungsfeld verschiedener Ansprüche, die schwer vereinbar sind: die Angemessenheit der Vermittlung mit Blick auf den ­historischen Gegenstand versus die Angemessenheit mit Blick auf die Zielgruppe.[8] Wie kann die Geschichte des Nationalsozialismus und die Geschichte Anne Franks ohne unzulässige Auslassungen oder sogar Fehlinformationen vermittelt werden? Wie kann die Vermittlung insbesondere an chancenarme Jugendliche gelingen, ohne diese zu überfordern? Hier zeigt sich ein grundlegendes Dilemma der historisch-politischen ­Bildung, wenn diese den Anspruch verfolgt, möglichst inklusiv zu sein und verschiedene Ziel­gruppen zu erreichen. Diese unterschiedlichen Ansprüche können nicht aufgelöst werden, verdeutlichen jedoch die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Reflexion auf Seiten der Vermittelnden wie auch einer möglichen Anpassung des Bildungsangebots an die Zielgruppe. Auch wenn die Bildungsarbeit im Strafvollzug in einem besonderen Setting stattfindet, müssen sich die Inhalte und Vermittlungsmethoden nicht grundlegend von anderen Bildungsangeboten unterscheiden. Die Einbeziehung des spezifischen Kontextes der Bildung im Strafvollzug darf nicht zu einer erneuten und einseitigen Zuschreibung der Teilnehmenden auf die Rolle als Gefangene beitragen. Weder die Ausstellung, noch die Ausstellungskataloge oder die pädagogischen Materialien des Anne Frank Zentrums wurden eigens für die Bildungsarbeit in Justizvollzugsanstalten konzipiert. Die Motivationen der Gefangenen am Projekt teilzunehmen sind verschieden und die Gruppen - abgesehen vom Haft-Status - heterogen. Dieser Heterogenität der Teilnehmenden wird in der Umsetzung der Bildungsangebote Rechnung getragen. In den Seminaren werden daher Materialien in einfacher Sprache eingesetzt, aber auch Bücher mit weiterführendem Hintergrundwissen für interessierte Teilnehmende bereitgehalten. Das Team setzt bei den Fragen der Teilnehmenden an, arbeitet mit dem Wissen, das in der Gruppe vorhanden ist und erarbeitet gemeinsam mit ihnen die Inhalte der Ausstellung "'Lasst mich ich selbst sein' - Anne Franks Lebensgeschichte". Die Teilnehmenden beschäftigen sich intensiv mit der Biografie Anne Franks - oft schon im Vorfeld durch die Lektüre des Tagebuchs. ­Insbesondere Anne Franks Erfahrungen im Versteck und das Gefühl des Eingesperrtseins ermöglichen einen Zugang zu den Gefangenen und ihrer Lebensrealität. Die Geschichte des Verstecks ist ein Ansatzpunkt eines reflektierten und kritischen Geschichtslernens, indem die besondere Situation Anne Franks und die Geschichte ihrer Verfolgung im Unterschied zum Strafvollzug heute diskutiert werden. In der Frage der Kontinuitäten nach 1945 werden lokalgeschichtliche Beispiele einbezogen, etwa die Geschichte der Justizvollzugsanstalt während der NS-Herrschaft. Der Haftalltag der Gefangenen kommt auch an mehreren Stellen im Seminar zur Sprache, darunter der Umgang mit ­Diskriminierung, Antisemitismus und Rassismus. Die Teilnehmenden berichten mitunter von konkreten Vorfällen: Sprüchen, Schmierereien oder Gewalttaten im Strafvollzug. Provokationen durch andere Gefangene, die Peer Guides häufig vor den Begleitungen befürchten, bleiben in der Regel aus. Am Ende von jedem Projekt steht ein Feedbackseminar und die meisten Teilnehmenden werten das Projekt als große Bereicherung.

Geschichtslernen im Strafvollzug

Zweifelsohne sind Justizvollzugsanstalten keine "politikfreien Räume". Im Zuge von Debatten um Gefängnisse als mögliche Rekrutierungsanstalten rechtsextremer und islamistischer Szenen und Möglichkeiten der Prävention menschenverachtender Ideologien und Gewalt ist das Feld des Strafvollzugs in den letzten Jahren stärker ins Blickfeld der politischen Bildung geraten. Das Bundesprogramm "Demokratie leben!" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterstützt die Bildungsarbeit in Gefängnissen mit dem Förderschwerpunkt "Prävention und Deradikalisierung in Strafvollzug und Bewährungshilfe".[9] Mit den Projekten werden junge Menschen erreicht, die aufgrund ihrer besonderen Lebenssituation keinen Zugang zu Angeboten der historisch-politischen Bildung haben.

Kurzzeitpädagogische Angebote können schwer eine Antwort auf verfestigte antisemitische Einstellungen und andere menschenverachtende Ideologien sein. Zudem sollten Bildungsangebote sich nicht nur an "Radikalisierte" und "Extremisten", sondern alle Jugendlichen richten und darauf ausgerichtet sein, den demokratischen Diskurs zu stärken. Um die pädagogische Arbeit nachhaltig zu gestalten, bedarf es der Verzahnung mit anderen weiterführenden Projekten sowie den Regelstrukturen, etwa dem Schulunterricht in Justizvollzugsanstalten, für den das Anne Frank Zentrum pädagogische Materialien bereithält. In zwei Berliner Justizvollzugsanstalten hat das Anne Frank Zentrum begleitend zur Ausstellung Zeitzeugengespräche mit Holocaust-Überlebenden umgesetzt.

Ein Teilnehmer eines Ausstellungsprojektes in der JVA Bützow 2011 merkte an, dass in Justizvollzugsanstalten mehr unternommen werden müsste, um an den Holocaust zu erinnern: "Die Neonazis feiern die Geburtstage ihrer Idole, wir sollten Gedenktage für die Opfer der Nazis abhalten." Anlässe und Möglichkeiten für eine lebendige Erinnerungskultur in Justizvollzugsanstalten gibt es allenthalben. In vielen Justizvollzugsanstalten gibt es Gedenkorte für die Opfer der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz, die auf die jeweilige Anstaltsgeschichte verweisen. Allerdings haben sich Gedenkstätten, die an frühere Hinrichtungsstätten und Zuchthäuser erinnern und Gefängnisse des "modernen Strafvollzugs" nebeneinander eingerichtet und ein eher pragmatisches Verhältnis. Vereinzelt werden Gedenkstättenbesuche für Inhaftierte ermöglicht oder "verordnet", das eigentliche Potenzial für die historisch-politische ­Bildung hingegen wird übersehen: Außerschulische partizipative Formen des Geschichtslernens sind auch im JVA-Kontext möglich, etwa in Form von Geschichtswerkstätten, Workshops und Ausstellungsprojekten.

 

Franziska Göpner, M.A. (Kulturwissenschaften, Germanistik), arbeitet seit 2015 im Anne Frank Zentrum und leitet seit 2017 den Arbeitsbereich Wanderausstellungen. Zuvor war sie für das Kulturbüro Sachsen und die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten tätig.

Roman Guski, M.A. (Politikwissenschaften, Soziologie, Neuere Geschichte Europas), arbeitet seit 2017 im Arbeitsbereich Wanderausstellungen des Anne Frank Zentrums und ist Projektleiter für (historisch-)politische Bildung im Strafvollzug.

 

[1] Vgl. Martin Nörber: Peer-Education, Bildung und Erziehung von Gleichaltrigen durch Gleichaltrige, Münster 2003, S. 10.

[2] Anne Frank Zentrum: Historisch-politische Bildungsarbeit in Justizvollzugsanstalten, Projektbericht 2015/2016, abrufbar unter: www.annefrank.de/themenfelder/jugendliche-qualifizieren/ausstellungstournee-durch-justizvollzugsanstalten.

[3] Erving Goffman, Asyle, Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1973, S. 26.

[4] Vgl. Philipp Walkenhorst: Der Jugendstrafvollzug als nachhaltiges pädagogisches Handlungsfeld, in: Marcel Schweder (Hrsg.): Jugendstrafvollzug - (k)ein Ort der Bildung!?, Weinheim 2017, S. 44.

[5] Werner Nickolai: Dem Strafvollzug helfen auch die besten Projekte nicht. In: Forum Strafvollzug, Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, Heft 2, Jg. 64, März/April 2015, S. 100-101.

[6] Jens Borchert: Pädagogik im Strafvollzug, Grundlagen und reformpädagogische Impulse, Weinheim 2016, S. 8.

[7] Siehe hierzu: Anne Frank Zentrum: Angebote der politischen Bildungsarbeit in Justizvollzugsanstalten - ein Beitrag zu Deradikalisierung und Prävention von menschenverachtenden Ideologien und Gewalt?, Bundesweiter Fachtag, 23. Juni 2017, Hannover; abrufbar unter: www.annefrank.de/themenfelder/jugendliche-qualifizieren/ausstellungstournee-durch-justizvollzugsanstalten.

[8] Siehe hierzu: Barbara Thimm, Gottfried Kößler, Susanne Ulrich (Hrsg.): Verunsichernde Orte, Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt am Main 2010.

[9] Auf der Website des Bundesprogramms "Demokratie leben!" findet sich eine Übersicht der geförderten Projekte in diesem Themenfeld: www.demokratie-leben.de/bundesprogramm/ueber-demokratie-leben/praevention-und-deradikalisierung-in-strafvollzug-und-bewaehrungshilfe.html, 20. 5. 2019.