»Inklusion heißt – meine Zeit stimmt!«

10/2024Gedenkstättenrundbrief 215, S. 26-40
Constanze Stoll

»Inklusion heißt – meine Zeit stimmt!«

Freundlich-kritische Nachbetrachtung zum Pilotprojekt »Erinnern – inklusiv« zur Förderung von barrierefreien Gedenkstättenfahrten

 

Vorhaben

Menschen mit Behinderungen besuchen selten bis nie Gedenkstätten. Bei der Zentralstelle zur Förderung von Gedenkstättenfahrten, die beim Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk gGmbH in Dortmund (IBB gGmbH) angesiedelt ist, stellen außerschulische Gruppen Anträge zur finanziellen und pädagogischen Unterstützung von Gedenkstättenfahrten. In den letzten neun Jahren wurde jedoch nur sehr wenige Anträge für inklusive Fahrten bzw. von einer Gruppe von Menschen mit Behinderung eingereicht.

Um die Zusammenhänge dieser verhinderten historischen Bildung für behinderte Menschen an historischen Orten der Naziverbrechen zu erforschen, entwickelte die IBB gGmbH zusammen mit dem Museum Stutthof (Sztutowo) und dem Schwarzenberg e.V. (Berlin) das deutsch-polnische Kooperationsprojekt »Erinnern – inklusiv«. Es wurde von Januar 2023 bis März 2024 im Rahmen des EU-Programms »Bürgerinnen und Bürger, Gleichstellung, Rechte und Werte« (CERV-2022-CITIZENS-REM) gefördert und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugendliche (BMFSFJ) sowie der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit kofinanziert. Es befasste sich mit der Frage, was getan werden kann und muss, um Gedenkstättenfahrten für behinderte Menschen zu ermöglichen und ihre Benachteiligung beim Lernen aus der Geschichte zu beenden.

Das Projektteam bestand bis auf eine Person aus Menschen ohne Behinderung: Kordian Kuczma, Museumspädagoge und Historiker im Museum Stutthof, war verantwortlich für die Koordination der Projektaktivitäten auf der polnischen Seite; Annika Hirsekorn, Inklusionsexpertin und Bildungsreferentin beim Schwarzenberg e.V.) war beratend, als Mitorganisatorin und als Moderatorin beteiligt; als Bildungsreferentin bei der IBB gGmbH oblag mir die Gesamtleitung und Dokumentation des Projekts. Weitere Unterstützung erhielten wir von Stefanie Thalheim, die ebenfalls als Bildungsreferentin für den Schwarzenberg e.V. ihre Expertise als Moderatorin einbrachte, sowie Darya Kuchynskaya, die als wissenschaftliche Hilfskraft bei der IBB gGmbH wichtige organisatorische Aufgaben übernahm. Bis auf die Kolleginnen vom Schwarzenberg e.V. hatte das Projektteam wenig bis keine Inklusionserfahrung.

 

Kernfrage und Projektarchitektur

Unser Projekt verhandelte explizit das Thema Inklusion in Gedenkstätten. Die Teilnehmer:innen suchten Antworten auf die Frage, was zu tun ist, um Gedenkstätten zugänglich für alle zu machen. Wie in anderen Lebensbereichen zeigt sich in Polen wie in Deutschland auch in den Gedenkstätten: Wir leben in radikal exklusiven Gesellschaften. Menschen mit Behinderungen wurden und werden bislang bei der Konzipierung von Gedenkstätten mehrheitlich nicht mitgedacht.

Ein Besuch von Menschen mit Behinderungen in einer Gedenkstätte bringt oft unvorhersehbare Schwierigkeiten mit sich, weil die meisten Gedenkstätten trotz der zunehmenden Beschäftigung mit Inklusionsfragen bisher nicht barrierefrei sind. Nicht immer halten Gedenkstätten Informationen über ihre Barriere(un)freiheit bereit. Viele Websites von Gedenkstätten sind nicht barrierefrei. Es gibt selten barrierefreie Führungen oder Angebote. Ausstellungen bieten oft nur schwer verständliche Texte an, die nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht verstehen. Angebote in Gebärdensprache gibt es meist nicht. Für mobilitätseingeschränkte Personen sind unwegsame Gelände oft eine Herausforderung und Rollstuhl-Nutzer:innen finden nur mit viel Kraftanstrengung Zugänge. Eine Teilhabe behinderter Expert:innen an der Entwicklung von inklusiven Formaten in den pädagogischen Abteilungen von Gedenkstätten ist eher die Ausnahme.

Im Projekt »Erinnern – inklusiv« setzte das Projektteam in acht Arbeitspaketen fünf Online-Formate und drei Offline-Formate um:

In vier Online-Veranstaltungsreihen mit insgesamt 23 zweistündigen Dialogveranstaltungen luden wir jeweils ein bis drei Referent:innen und Expert:innen zu verschiedenen Schwerpunkten von Inklusion, Barrierefreiheit und Teilhabe in Gedenkstätten aus Polen und Deutschland ein. An den Online-Veranstaltungen nahmen insgesamt 576 Menschen teil. Alle Veranstaltungen wurden simultan in Laut- und Gebärdensprache (Deutsch/Polnisch) übersetzt.

Ende September 2023 empfing das pädagogische Team um Ewa Malinowska 29 Deutsche und 29 Polen mit und ohne Behinderung im Museum Stutthof zu einem ersten Netzwerktreffen. Der Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Stutthof, das seit 1962 ein Museum ist, diente dazu, spezifische Barrieren beim Zugang zum Gelände und zur Ausstellung bezüglich der Bedarfe behinderter Menschen bei einer Gedenkstättenfahrt und einem Besuch in Gedenkstätten zu untersuchen.

Aufbauend auf den Ergebnissen dieser ersten inklusiven Gedenkstättenfahrt setzte ein etwas kleineres Team, in dem einige der Teilnehmer:innen wieder vertreten waren, die Arbeit während eines zweitägigen methodenpraktischen Seminars in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück Anfang Dezember 2023 fort.

Eine dritte barrierefreie Gedenkstättenfahrt führte Ende Februar 2024 erneut ins Museum Stutthof. Es nahmen ausschließlich Pol:innen und Deutsche mit Behinderungen teil, die eingeladen waren, die entwickelten Prototypen nach einer Präsentation zu erproben und Feedback zu ihrem Funktionieren zu geben.

Das Projekt wurde Ende März 2024 mit zwei anderthalbstündigen Online-Veranstaltungen, bei denen Teilnehmer:innen und das Projektteam Ergebnisse und wichtige Erkenntnisse zusammentrugen, abgeschlossen.

 

Hürde für die Inklusion: Sie soll möglichst wenig kosten

Das CERV-REM-Programm zu »Bürgerbeteiligung und Teilhabe« fördert Projekte im Bereich Geschichtsbewusstsein und Erinnerungskultur. Es fordert dazu auf, Projekte inklusiv und barrierefrei zu konzipieren – für die EU trat 2011 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft und die Europäische Kommission hat 2021 eine Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen angenommen. Unser Projektantrag mit seiner expliziten Inklusionsthematik konnte in der konkurrenzreichen Ausschreibung 2022 bestehen.

Die erwähnte Architektur von »Erinnern – inklusiv« mit acht Arbeitspaketen und der Unterteilung von Online- und Offline-Formaten entsprach den Förderbedingungen des Programms. Doch so wenig die Förderbedingungen dem inklusiven Anspruch der EU gerecht werden, so wenig bedarfsgerecht hatten wir unser Inklusionsprojekt mit ausreichend Zeit und angemessen bezahlten Leistungen zum Abbau von insbesondere kommunikativen und digitalen Barrieren ausgestattet. Das Programm, das die EU wohlmeinend als »systematische Gleichstellung auch von Menschen mit Behinderungen« bewirbt, ist in der Praxis leider die strukturelle Fortschreibung der Benachteiligung behinderter Menschen. Denn die Förderbedingungen machen keinen Unterschied zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen. In den Förderrichtlinien ist nicht berücksichtigt, ob die zu beteiligenden Menschen besondere Bedarfe haben – und so werden die pauschalen Teilsummen für die Arbeitspakete hauptsächlich von der Anzahl der erreichten Bürgerinnen und Bürger abhängig gemacht. Ob sie Gebärdensprache benötigen, ob die Übertragung in Einfache Sprache oder barrierefreie Unterbringungsmöglichkeiten bezahlt werden müssen, ist nicht relevant. Doch all das sind Leistungen, die gegebenenfalls zu finanzieren sind, die aber durch das Pauschalsummensystem die Fördersumme nicht erhöhen können. Unser Projektteam hat unwissentlich diese Logik reproduziert. Wir haben nach der Bewilligung des Projekts und bei der Projektumsetzung hart mit dieser Logik gerungen und an ihr gelernt.

 

 

 

Inklusive Settings kosten Geld

Mit einem Beispiel möchte ich die fehlende systemische Entsprechung zum Anspruch des CERV-Programms, Inklusion zu fördern, veranschaulichen. Sollte der Absatz für die einen und anderen Leserinnen und Leser zu kleinteilig sein, überspringen Sie das Kapitel einfach!

Die Gesamtfördersumme eines Projekts im CERV-REM-Programm ergibt sich additiv aus den pauschalierten Teilsummen für die jeweiligen Online- oder Offline-Arbeitspakete – den Maßnahmen, die zur Erreichung der Ziele konzipiert werden. Die Pauschalierung ist eine Pro-Kopf-Bemessung und richtet sich nach gestaffelten Teilnehmerzahlen. Die tatsächliche Verausgabung der Teilsummen im Projektverlauf ist nicht an das Arbeitspaket gebunden und muss nicht mittels Belegen nachgewiesen werden. Entscheidend für die schlussendliche Bewilligung der Teilsummen aus den Arbeitspaketen ist, ob man die Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer regelkonform nachweisen kann. Im Einklang mit den Projektzielen konzipiert und budgetiert man bei der Projektentwicklung also eine fixe Anzahl von Arbeitspaketen und errechnet eine spezifische Gesamtfördersumme, die dann sowohl zur Finanzierung der weniger kostenintensiven als auch der kostenintensiveren Maßnahmen genutzt wird.

Um in »Erinnern – inklusiv« die niedrigsten möglichen pauschalierten Teilsummen für die insgesamt fünf inklusiven Online-Veranstaltungsreihen zu erhalten, mussten wir mit diesen fünf Veranstaltungsreihen jeweils mindestens 101 Personen aus Polen und Deutschland als Teilnehmende erreichen. Dabei durfte eine Person auch bei mehrmaliger Teilnahme an verschiedenen (digitalen) Sessions innerhalb einer Veranstaltungsreihe nur einmal gezählt werden. Es wurde schnell klar, dass wir mit den ursprünglich geplanten drei bis vier Online-Sessions pro digitaler Veranstaltungsreihe ganz und gar nicht die jeweils 101 Personen erreichen. Für den unverzichtbaren Erhalt der Teilsummen der Online-Veranstaltungsreihen war es keine Option, etwas weniger Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu erzielen, denn im Falle des Nichterreichens der Zielmarke (von 101 Personen) entfällt die entsprechende Teilsumme komplett. Also mussten wir wesentlich mehr inklusive Online-Sessions organisieren, die wie alle anderen Sessions von sechs Laut- und Gebärdensprachdolmetscher:innen begleitet wurden. So stiegen die Kosten der fünf Online-Arbeitspakete erheblich und, was ebenso schwerwiegend war: Die Länge der drei barrierefreien Gedenkstättenfahrten mussten wir aufgrund der Mehrausgaben bei der Online-Veranstaltungsreihe erheblich kürzen. Wir verbrachten jeweils nur zwei bzw. drei Tage in den beiden Gedenkstätten – Zeiträume, die für die anspruchsvollen Aufgaben, die wir gemeinsam bewältigen wollten und sollten, viel zu kurz waren.

Somit haben wir taube und blinde und sehbehinderte Menschen, Menschen mit Lernschwierigkeiten und Menschen mit einem Autismusspektrum, aber auch Dolmetschende und alle anderen Teilnehmenden und uns einem notorischen Zeitstress ausgesetzt. Dies widersprach unserem Anspruch, bedarfsgerechte Teilhabe zu leben und entsprechend Barrieren für die Kommunikation und die Kooperation abzubauen. Ich habe gelernt: Zeitdruck ist ein absolutes Do-not für Inklusion! Die Kommunikation unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern fand unter diesem permanenten Zeitdruck statt. Dabei war für die Erledigung der Aufgaben in einem bedarfsgerechten und angebrachten Tempo beim Sprechen und Nachdenken sowie für Pausen nicht ausreichend Zeit vorhanden. Insgesamt kosteten der Modus des »Auf-Sicht-Fahrens« und der Zeitstress unheimlich viel Kraft. Beides hat das Team und den Gesamtverlauf erheblich strapaziert.

Wen trifft die Kritik? Wir hatten ähnlich wie die Verantwortlichen der EU-CERV-REM-Programmlinie zu wenig bedacht, dass inklusives Handeln konkrete Auswirkungen auf Kostenpläne und Finanzierungsstrategien hat: Menschen mit Lernschwierigkeiten lernen gut anhand von Wiederholungen, in kleinen Gruppen und subjektbezogen am liebsten offline. Der Austausch und Dialog zwischen Menschen mit und ohne Behinderung braucht generell Zeit, damit Verständigung und Annäherung gelingt. Das gilt umso mehr für die inklusive Beschäftigung mit der barrierefreien Vermittlung von NS-Verbrechen und dem Gedenken an die Opfer des Naziregimes. Die Gestaltung von Kommunikations- und Aushandlungsräumen, in denen bedarfsgerechte Zugänge und Teilhabe gelingen, kostet Geld: Gebärdendolmetscher:innen, Einladungstexte in Einfacher Sprache, Audiodeskription, Vorbereitungszeit!

 

Index für Inklusion

Trotz und eingedenk dieser Schwierigkeiten war uns wichtig, »Erinnern – inklusiv« weitgehend als inklusive Struktur im Themenfeld Gedenkstättenarbeit und Erinnerungskultur anzulegen. Hier folgten wir dem Grundsatz »Nicht ohne uns über uns«. Bei der Umsetzung der Aktivitäten hat das deutsch-polnische Projektteam versucht, sich an der Empfehlung von Prof. Dr. phil. Petra Fuchs zu orientieren, an einem beliebigen Punkt anzufangen, um

•          »inklusive Kulturen (Gemeinschaft bilden) zu schaffen,

•          inklusive Strukturen (eine Einrichtung für alle […]) zu etablieren und

•          inklusive Praktiken (Curricula für alle erstellen) zu entwickeln.«

In den beiden folgenden Kapiteln berichte ich über die Online-Veranstaltungsreihe und die barrierefreien Gedenkstättenfahrten.

 

Online-Veranstaltungsreihe

Insgesamt organisierten wir 23 zweistündige deutsch-polnische Online-Sessions zu unterschiedlichen Aspekten inklusiver Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit. Die Veranstaltungen richteten sich an Menschen mit und ohne Behinderung oder Beeinträchtigung, die als Betroffene, Eltern, Lehrkräfte, Mitarbeitende in Gedenkstätten oder Studierende an einer inklusiven Erinnerungsarbeit interessiert sind. Die Online-Sessions waren dialogorientiert: In loser Folge waren verschiedenen Expert:innen aus Polen und Deutschland zu Gast, um gemeinsam das auch interkulturell komplexe Thema Inklusion in Gedenkstätten zu erschließen.

In der Auftaktveranstaltung im März 2023 warnte Dr. Meike Günther, Professorin an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin, davor, Grenzen nur bei Menschen mit Behinderungen zu sehen. Die bewusste Wahrnehmung eigener Grenzen des Verstehens und des eigenen Scheiterns seien wichtige Kernkompetenzen, wenn es um den Abbau von Barrieren behinderter Menschen innerhalb unserer »radikal exklusiven« Gesellschaften gehe. Sie sensibilisierte für unterschiedliche deutsche und polnische Perspektiven auf die Erinnerung der NS-Vergangenheit und stellte in Aussicht, dass es auch bei der Inklusion interkulturell bedingt unterschiedliche Erfahrungen gebe, die es zu berücksichtigen gelte. Die Kolleginnen aus dem Museum Stutthof stimmten das Publikum in derselben Session darauf ein, dass die veraltete Ausstellung in ihrer Gedenkstätte einen langen Atem brauche, um Inklusion zu gewährleisten – aufgrund der Gesetzeslage gebe es hierzu allerdings keine Alternative.

Das Plädoyer der Teilnehmerin Verena Tönnes, wir mögen Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht vergessen, bestärkte das Projektteam, Barrierefreiheit und Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung behinderungsübergreifend zu behandeln. Gemeinsam mit ihr organisierten wir einen vierteiligen Kurs zum Nationalsozialismus in Einfacher Sprache ausschließlich für Menschen mit Lernschwierigkeiten aus Deutschland. Auf diese Weise knüpften wir Kontakt zu Menschen mit Lernschwierigkeiten, die an den barrierefreien Gedenkstättenfahrten teilnahmen und die Entwicklung von Prototypen als »kleine Lösungen für große Barrieren« beförderten.

Zwei taube Gäste – Claudia Kermer, Dozentin für Gebärdensprachdolmetschen an der Hochschule Magdeburg-Stendal, und Dr. Mark Zaurov, Historiker aus Hamburg – bereicherten zwei Sessions unsere Online-Veranstaltungsreihe, indem sie tiefere Einblicke in die Gehörlosenkultur und -geschichte gaben. Claudia Kermer berichtete, wie Gehörlose den Besuch einer Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus wahrnehmen und was ihnen den Zugang zu den angebotenen Inhalten erleichtern könnte. Mark Zaurov forscht zur Geschichte der Gehörlosen in der NS-Zeit und stellte die Ergebnisse seiner Forschungen zum »Deaf Holocaust« vor.

In einer weiteren Session berichteten die beiden Museumspädagoginnen Alicja Wójcik und Anna Pilzak von der Mammutaufgabe, an der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau inklusive Formate zu etablieren. Die Architektin Joanna Wasiluk erläuterte ihre Pläne für ein barrierefreies Besucherzentrum, das derzeit für das Museum Stutthof gebaut wird – unter der Überschrift »Barrieren der Inklusion in der Architektur von Gedenkstätten: Möglichkeiten und Grenzen«. Eine der Grenzen, an die unser Projektteam während der Planung von »Erinnern – inklusiv« ebenfalls stieß: die Sicht nicht von Behinderung betroffener Expert:innen auf Inklusion, die meinen, ohne die Erfahrung und das Wissen betroffener Menschen auszukommen. In der Tat ist die Teilhabe behinderter Menschen an der Planung inklusiver Projekte und Produkte und ihre Mitbestimmung als Expert:innen in eigener Sache bislang sehr selten – obwohl sie wesentliches Element der UN-Behindertenrechtskonvention ist: Behinderte Menschen sind im Sinne ihrer Gleichstellung eben nicht als ausschließliche Nutzer:innen von barrierefreien Produkten zu behandeln, sondern als Menschen mit einer besonderen Expertise.

Dass es anders geht, stellten der Museumspädagoge Christian Marx aus der Euthanasie-Gedenkstätte Brandenburg an der Havel und die beiden Guides Kathleen Tesmer und Lutz Albrecht in einer Session dar. Sie erzählten von ihrem inklusiven Prozess zur Ausbildung von Guides mit Lernschwierigkeiten und der Entwicklung von ihnen geführter Touren, die ohne das Aushängeschild »Führung von Menschen mit Lernschwierigkeiten« mittlerweile von allen Gästen gebucht werden.

Matthias Rittner und Lisa Herbst von der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg stellten ihr Programm »Geschichte zum Anfassen« vor, in dem ebenfalls Menschen mit Lernschwierigkeiten in Tandems mit Museumspädagog:innen die Geschichte des ehemaligen Konzentrationslagers vermitteln. Außerdem berichteten sie von einem inklusiven Tanzprojekt zur psycho-emotionalen Verarbeitung der leidvollen und grausamen Geschichte, das aus der Zusammenarbeit mit neurodivergenten Besucherinnen und Besuchern entstanden ist.

Robert Parzer von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und Thomas Künnecke von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. thematisierten die Rolle der indirekten Betroffenheit behinderter Menschen durch die NS-Gewalt. Die zentrale Botschaft: Behinderte Menschen müssen wie andere selbst bestimmen dürfen und können, ob sie sich mit der NS-Geschichte befassen und sich insbesondere die Geschichte(n) der Krankenmorde an Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen in den Tötungsanstalten in Deutschland und den annektierten Gebieten zumuten wollen. Dafür braucht es ausreichende Informationen und Angebote in Einfacher und Leichter Sprache sowie eine adäquate Begleitung für die Beschäftigung mit den Themen in Gedenkstätten.

Zwei Online-Sessions widmeten sich dem spannenden Thema Einfache und Leichte Sprache: Andrea Halbritter, die unter anderem Ausstellungstexte im NS-Kontext in Leichte und Einfache Sprache übersetzt, sprach über die Regeln, Vorzüge, Herausforderungen und Unterschiede der beiden Sprachen im Deutschen. Mit Marlene Seifert und der Prüferin für Leichte Sprache Duygu Özen begab sich ein ausschließlich deutsches Publikum in die Praxis und versuchte sich in der Produktion Leichter Sprache im Kontext der Vermittlung von NS-Geschichte.

Einen Ausflug ins weitere Verständnis von inklusiver Erinnerungskultur unternahmen wir in einer von Annika Hirsekorn vorbereiteten Online-Session. Das Künstlerduo Various & Gould und der Künstler Nando Nkrumah stellten ihre Interventionen in öffentlichen Erinnerungsräumen vor, in denen sie sich kritisch mit der gesellschaftlichen Geschichtswahrnehmung im Stadtraum auseinandersetzen: Am Berliner Bismarck-Nationaldenkmal (Various & Gould) und am Reiterstandbild des »Großen Kurfürsten« Friedrich Wilhelm von Brandenburg vor dem Schloss Charlottenburg in Berlin (Nando Nkrumah) zeigten sie, wie Gewalt, Sklavenhandel und Entrechtung als Teil von Kolonialgeschichte in Statuen und Denkmälern vergangener Jahrhunderte unsichtbar gemacht werden. Mit ihren Interventionen holen sie diese Inhalte zurück ins öffentliche Geschichtsbewusstsein.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Online-Veranstaltungsreihe der Erkundung bereits bestehender Praxisbeispiele gelungener Teilhabe und der Vorstellung inklusiver Vermittlungsformate im NS-Kontext diente. Darüber hinaus erwies sie sich als wichtiger inklusiver Lernort für das erweiterte Projektteam: Die Anwesenheit von jeweils sechs Laut- und Sprachdolmetscher:innen machte Sprachbarrieren sichtbar und zeigte gleichermaßen, wie sie überwunden werden können. Wir schufen eine inklusive Kultur und entwickelten ein inklusives Curriculum. Die beiden letzten Online-Sessions nutzten wir, um wichtige Erkenntnisse und Lehren herauszustellen sowie nach den Grenzen von Inklusion zu fragen. Diese Grenzen sind verschiebbar, denn sie sind abhängig von den Entscheidungen der politischen nicht-behinderten Mehrheiten. Inklusion wird meist gewollt, doch es fehlt eine Normalisierung inklusiver Praxis. Es gilt aufzupassen, dass Inklusion nicht ein minderheitengesellschaftlicher Exkurs bleibt. Solange eine Mehrheit den Abbau von Barrieren als exklusives Geschenk an behinderte Menschen und nicht als Vorteil für alle begreift, wird sich an ihrer Diskriminierung nichts ändern und die rechtliche Verbindlichkeit der UN-BRK und nationaler Gesetze bleibt für die Gesellschaft nur auf dem Papier bestehen.

 

Offline-Veranstaltungen: Drei inklusive Gedenkstättenfahrten

Einen weiteren Schwerpunkt bildeten drei inklusive Gedenkstättenfahrten – eine Gruppe von 60 Menschen besuchte das Museum Stutthof, 43 Menschen die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Die Gruppe bestand aus Menschen mit und ohne Behinderungen im Alter zwischen 21 und 70 Jahren aus verschiedenen Städten in Deutschland und Polen. Die Teilnehmenden beschäftigten sich aus beruflichem oder persönlichem Interesse mit inklusiver Erinnerungskultur im Kontext von NS-Gedenkstätten.

Ende September 2023 führte die deutsch-polnische Gruppe im Museum Stutthof eine Untersuchung der dortigen Barrieren durch. Nach intensiven Führungen durch das Museum sammelten die Teilnehmenden im »Open Space« ihre Gedanken und Ideen zu folgenden Fragen: »Welche Barrieren gibt es in Gedenkstätten und auf Gedenkstättenfahrten?«, »Was brauchen wir?«, »Wie können wir besser in Gedenkstätten lernen?«. Im Anschluss wurden die Fragen in selbst organisierten Arbeitsgruppen an zwei Tagen diskutiert. Dabei kamen unter anderem folgende Anliegen zum Vorschein: »Wie schaffen wir diverse Zugänge zum Thema, bevor der Besuch in der Gedenkstätte stattfindet?», «Wie lang darf ein Video in Gebärdensprache sein und wo kann es gezeigt werden?«, »Wie können die schwierigen Themen einer Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus in Einfacher oder sogar Leichter Sprache vermittelt werden?«, »Wie kann blinden und sehbehinderten Menschen ein weitläufiges Gelände zugänglich gemacht werden?«, »Wie schaffen wir Ruheräume?«, »Sind gewaltvolle Themen und ihre Darstellung eine Barriere?«.

Mit Blick auf die Entwicklung von Ideen zum Abbau spezifischer Barrieren im Museum Stutthof vertieften die Teilnehmenden ihre Erörterungen anschließend. Orientiert an den beiden zuvor von den Moderatorinnen identifizierten Schwerpunkten Zugänglichkeit & Infrastruktur und Erlebnis & Interaktion verständigte sich das Projektteam am Ende der ersten Gedenkstättenfahrt auf die Weiterarbeit an zwei grundlegenden Bedarfen: Ein Besucherservice muss inklusive Angebote bündeln, zielgruppengerecht aufbereiten und vermitteln. Sehbehinderte und blinde Menschen, taube Menschen und Menschen mit Lernschwierigkeiten brauchen bedarfsgerechte Angebote und Darstellungsformate, um einen Erinnerungsort für sich erschließen und begreifen zu können.

Zwei Monate später, Anfang Dezember 2023, trafen sich 42 polnische und deutsche Teilnehmende aus dem Projektteam zu einem zweitägigen Workshop in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. In Arbeitsgruppen entwickelten sie ausbaufähige Prototypen. Als Prototypen bezeichnet das Projektteam konkrete Lösungen für spezifische Barrieren. Es sind Zwischenprodukte, die den Weg weisen sollen, wie das Museum im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention inklusiv werden kann.

Vier Prototypen, an denen die deutsch-polnischen Teams in der verbleibenden Projektzeit weiterarbeiteten, nahmen Gestalt an:

Besucherservice: Ein barrierefreier Besucherservice ist der erste und wichtigste Schritt, um Menschen mit Behinderungen den Zugang zu Gedenkstätten zu erleichtern. Der Prototyp ist ein interaktiver Ratgeber und Fragebogen für einen barrierefreien Besucherservice in Einfacher Sprache. Während unserer barrierefreien Gedenkstättenfahrt im Februar 2024 richtete sich der entwickelte Prototyp direkt an potenzielle Besucher:innen mit Behinderungen. Als interaktiver Ratgeber und Fragebogen informiert er darüber, mit welchen Barrieren im Museum zu rechnen ist, und bezieht seine Nutzer:innen mit ein, um weitere notwendige barrierefreie Angebote zu identifizieren und zu schaffen.

Gebärdenvideos: Videos in Gebärdensprache sind ein essenzielles Mittel, um Gehörlosen und Schwerhörigen den Zugang zu den Inhalten von Gedenkstätten zu ermöglichen. Der entwickelte Prototyp besteht aus zwei Videos, die in deutscher und polnischer Gebärdensprache in die Geschichte des ehemaligen Konzentrationslagers Stutthof einführen. Die inhaltliche Grundlage bildet eine Texttafel in schwerer Sprache am Eingang des Museums, die zunächst in Einfache Sprache übertragen wurde.

Einfache Sprache: Die Verwendung Einfacher Sprache ist ein weiterer Schlüssel, um Gedenkstätten für Menschen mit Lernschwierigkeiten, aber auch Menschen, die aus anderen Gründen die oft komplexe und fremdwortlastige Sprache von Ausstellungstexten zur vielschichtigen NS-Geschichte nicht verstehen, zugänglicher zu machen. Der Prototyp besteht aus vier bebilderten Texttafeln in Einfacher deutscher und polnischer Sprache zur zur »Quarantäne-Baracke« im ehemaligen Konzentrationslager Stutthof.

Führung für Blinde und Sehbehinderte: Blinde und sehbehinderte Menschen benötigen spezielle Führungen, um die Inhalte und das Gelände von Gedenkstätten wahrnehmen zu können. Der entwickelte Prototyp ist eine Tastführung zu ausgewählten Gegenständen bzw. Orten im Museum Stutthof. Dazu gehört auch die Schulung eines deutschsprachigen sehenden Guides, der diese Tastführung anleitet.

 

Von Dezember 2023 bis Ende Februar 2024 arbeiteten die vier Gruppen weiter an den Prototypen. In dieser letzten Phase spürten Projektteam und Teilnehmende erneut die Zwänge fehlender Ressourcen wie Zeit und finanzielle Mittel: Nicht alle Arbeitsgruppen konnten wir gleichermaßen intensiv begleiten, was sich auf die Qualität der Prototypen auswirkte.

Während der dritten Gedenkstättenfahrt nach Stutthof vom 26. bis 29. Februar 2024 wurden die vier Prototypen einer neuen Gruppe von ausschließlich behinderten jungen Menschen präsentiert und von ihnen erprobt. Neben dem Inhalt und der Anwendung des jeweiligen Prototyps richtete sich das Augenmerk auch auf den Prozess seiner Entwicklung, der nachvollziehbar gemacht werden sollte.

Dieser Fokus auf die Nachvollziehbarkeit unserer Prozesse der Prototypentwicklung hängt mit der Lernerfahrung aller Beteiligten im Projekt »Erinnern – inklusiv« zusammen, die wir für die Nachahmung transparent gemacht haben. Hierbei gehört die folgende Beobachtung zum zentralen Lerngewinn: Wir stellten in »Erinnern – inklusiv« die Teilhabe im Sinne der UN-BRK ins Zentrum des Pilotprojekts. Dort wird sie als wesentliches Ziel und Aufgabe zur Überwindung von Diskriminierung von behinderten Menschen und ihrer Gleichstellung beschrieben. Während der Umsetzung haben wir festgestellt, dass die Qualität der Teilhabe behinderter Menschen am historischen Lernen in Gedenkstätten stark davon abhängt, wie sehr sie in die Entwicklung der dafür notwendigen Maßnahmen zur Schaffung von Barrierefreiheit einbezogen werden. Gelingt die Teilhabe von beispielsweise blinden Menschen bei der Entwicklung einer Tastführung für Blinde, von tauben statt ausschließlich hörenden Gebärdensprachexpert:innen bei der Produktion von Gebärdenvideos, von Menschen mit Lernschwierigkeiten bei der Entwicklung von einfachen Texten über komplexe NS-Geschichte, dann gesellt sich zu Teilhabe Teilgabe. Teilgabe lehnt sich als Wortneuschöpfung an den Begriff der Teilhabe an, betont aber ein aktives »Geben« im Gegensatz zum »Haben«. Der Mehrwert für alle Beteiligten im Projekt ergab sich genau aus der Kombination von Teilhabe und Teilgabe. Sie sollte Normalität in allen Lebens- und Gesellschaftsträumen – und in unseren zukünftigen Projekten werden.

Über das Maß von Teilhabe und Teilgabe waren sich die Beteiligten im deutsch-polnischen Austausch nicht immer einig. Zum Beispiel zeigten sich kontroverse Auffassungen darüber, wie die inklusive Umgestaltung von Gedenkstätten und ihren teilweise überalterten Dauerausstellungen zu bewerkstelligen sei. Einige anwesende Pädagog:innen und Historiker:innen befürworteten zwar inklusive Formate, standen jedoch einem partizipativen Ansatz, in dem Menschen mit Behinderung an der Überarbeitung von Ausstellungen beteiligt sind, eher skeptisch gegenüber. Dies kritisierten insbesondere diejenigen Teilnehmer:innen, die eine Behinderung haben, als eine Fortsetzung von Privilegien nicht-behinderter Menschen.

Die Kontroverse um Gleichbehandlung, Einfluss und Mitsprache bei der Inklusion wurde besonders deutlich bei der Präsentation der polnischen und deutschen Gebärdensprachvideos mit einführenden Texten zum ehemaligen KZ Stutthof. Die deutschen tauben Teilnehmer:innen betonten, in Deutschland gelte die Regel, dass nur taube Gebärdensprachdolmetscher:innen Gebärdenvideos erstellen dürfen, um die Privilegien von Hörenden abzubauen. Es wurde kritisiert, dass im Projekt die tauben Expert:innen nicht im Vordergrund standen, sondern ihre hörenden Kolleg:innen. Der wichtige Appell war, den Audismus, also die strukturelle Benachteiligung und Stigmatisierung tauber Menschen, zu berücksichtigen. Für Taube ist Gebärdensprache ihre erste und eigene Sprache, keine Übersetzung der Lautsprache. Die polnischen tauben Teilnehmer:innen stimmten den deutschen zu und betonten, dass auch in Polen taube Menschen nicht gleichberechtigt behandelt würden und stigmatisiert seien. Dabei geht es um Verdienstmöglichkeiten und die Anerkennung der Expertise tauber Gebärdensprachdolmetscher:innen im Vergleich zu hörenden.

 

Fazit

Wir haben abwechslungsreiche Begegnungen und aspektreiche Diskussionen über inklusive Formate der Vermittlung und Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte und dem Empowerment für und mit behinderten und nicht-behinderten Menschen organisiert.

Wir haben Kontinuitäten zwischen der behindertenfeindlichen Verwertungslogik der Nazis und der immer noch paternalistischen Nichtbeteiligung von behinderten Menschen an der NS-Erinnerungskultur thematisiert.

Das Projektteam konnte auf die wertvolle Expertise zum Thema Inklusion von Annika Hirsekorn und Stefanie Thalheim vom Verein Schwarzenberg e.V. zurückgreifen und das differenzierte historische Wissen und die pädagogische Erfahrung unseres Kollegen Kordian Kuczma vom Museum Stutthof nutzen. Das Projektteam hat gemeinsam gerungen, an welchen Stellen unsere Planung, Workshops und Moderation teilhabeorientierter werden können. Wir haben uns anregen lassen und viel gelernt, beispielsweise: Kritik von behinderten Menschen anzunehmen, aus Fehlern zu lernen, anstatt sich für sie zu entschuldigen oder zu erklären, wieso dies und das nicht bedarfsgerechter gestaltet ist. Im Verlauf hat das Projektteam intensiv diskutiert, ob ein finanziell nicht ausreichend ausgestattetes Inklusionsprojekt besser vorzeitig beendet werden sollte, anstatt den Bedarfen inklusiver Teilhabe wieder nicht gerecht zu werden. Dabei kam zur Sprache, dass die Umsetzung der gesetzlich verbindlichen UN-BKR einen systemischen Wandel erfordert, der sich vor allem darin zeigen muss, dass Inklusionskosten durch die Förderkriterien gedeckt sind, weil der Abbau von Barrieren und die Schaffung von Teilhabe eben Geld kosten. Das Projektteam entschied einvernehmlich, das Projekt zu Ende zu bringen.

Im Sinne eines Pilotprojekts ist es uns im Einklang mit den zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten gelungen, eine inklusive Gemeinschaft zu bilden und inklusive Praktiken zusammen zu erleben, zu entwickeln und zu erproben.

Das Projektteam hat im Zuge des Projekts gelernt, sich barrierebewusster zu verhalten. Dieser Lerneffekt betraf auch viele Teilnehmer:innen und insbesondere Menschen ohne Behinderungen. Die nicht-behinderten Personen sind während der Veranstaltungen und Gedenkstättenfahrten aufmerksamer geworden gegenüber den Hürden und den Mechanismen der Exklusion. Sie wurden sensibilisiert, etwa hinsichtlich exklusiver Ausstellungsdesigns, fehlender Sitzmöglichkeiten, langer Arbeitszeiten, komplizierter Redebeiträge oder fehlender Audiodeskriptionen. Wir haben gelernt, dass es viel mehr Zeit und Raum in inklusiven Projekten geben muss und dass die Wahrscheinlichkeit angemessener zeitlicher Ausstattung mit der Beteiligung behinderter Menschen während der Entwicklung von inklusiven Projekten steigt.

Die erwähnten Problematiken des Pauschalsummen-Systems des CERV-REM-Projekts konnte ich mit Vertreterinnen der nationalen CERV-Kontaktstellen diskutieren und bin auf Verständnis gestoßen. Der Anspruch auf Gleichstellung (behinderter Menschen mit nicht-behinderten Menschen) geht noch nicht einher mit der Erkenntnis, dass Gleichstellung nicht Gleichheit der Mittel, sondern Anpassungen der Mittel und Ausnahmen von der Regel braucht. Wir haben hierdurch gelernt, das Pauschalsummen-System deutlich zu den eigenen Gunsten anzuwenden und die Arbeitspakete entsprechend den Bedarfen bei der teilhabenden Kooperation mit behinderten Menschen anders zu kombinieren und auszugestalten, sodass sich mehr Zeit und schlicht höhere Fördersummen für die einzelnen Arbeitspakete ergeben.

Das Projekt »Erinnern – inklusiv« hat gezeigt, dass es wichtig und notwendig ist, Gedenkstätten für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu machen. Es hat nicht nur gezeigt, wie Teilhabe organisiert werden muss, sondern auch, wie bereichernd Teilgabe durch inklusive Kooperation und Kommunikation ist. Inklusion, Teilhabe und Teilgabe bergen vielfältige Chancen einer zutiefst aufmerksamen Kommunikation und des Lernens aus der Geschichte. Durch die Entwicklung und Umsetzung inklusiver Formate in Gedenkstätten können diese historischen Orte der Erinnerung und Bildung für alle Menschen geöffnet werden. Barrieren abzubauen und die bewusste Teilhabe aller Menschen zu ermöglichen, ist nicht nur ein rechtlicher Auftrag, der sich aus der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in allen EU-Staaten ergibt, sondern auch eine moralische Verpflichtung, die aus den Verbrechen und dem Unrecht der Vergangenheit erwächst. Nur durch eine inklusive Erinnerungskultur können wir Antworten auf die Frage »Nie wieder was?« finden. Das ist gerade wie fortwährend aktuell.

 

 

Constanze Stoll arbeitet seit Oktober 2022 als Referentin für Internationale Historische Projekte bei der IBB gGmbH. Sie ist Slawistin und Historikerin und hat lange Jahre als freiberufliche Facilitatorin und Projektentwicklerin gearbeitet.