Internationalisierung im Kontext des Gedenkstättenreferats

07/2023Gedenkstättenrundbrief 210, S. 113-119
Elke Gryglewski

Gedenkstättenarbeit ist per se international geprägt. Ausgehend von den geografisch weitreichenden nationalsozialistischen Herrschaftsambitionen und der daraus resultierenden europäischen und globalen Dimension der Verfolgung von ethnisch und kulturell sehr diversen Opfer- und Betroffenengruppen war der Umgang mit dem Nationalsozialismus nach 1945 von Beginn an international. So waren die sogenannten Lagergemeinschaften ehemaliger KZ-Häftlinge international zusammengesetzt und agierten über Grenzen hinweg, ein für viele Gedenkstätten maßgeblicher Sachverhalt. Damit hatte auch die Arbeit des Gedenkstättenreferats seit seiner Gründung 1983 eine unabwendbar internationale Dimension, wobei die Reflexion der Bedeutung und Folgen dieser Internationalität sich ebenso kontinuierlich entwickelt hat wie andere Facetten der Arbeit auch.

So lohnt ein näherer Blick, wie Internationalität in der Gedenkstättenarbeit im Verlauf der Jahrzehnte wahrgenommen wurde, was sie begünstigt hat und welche Herausforderungen sich durch sie ergeben haben. Und natürlich, wie sie Perspektiven und Ansätze (nicht nur) in der Bildungsarbeit verändert hat.

Thomas Lutz hat die unterschiedlichen Phasen seit 1984 erlebt und mitgestaltet. Die Begegnung mit den Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager während seiner Freiwilligenzeit mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in Polen hat ihn geprägt. Zwangsläufig hatte die Tätigkeit des Gedenkstättenreferats unter seiner Leitung so von Beginn an einen grenzübergreifenden Charakter. Über die Ebene persönlicher Erfahrung hinaus liegt dies auch an der originären Anbindung an Aktion Sühnezeichen Friedensdienste: Bereits ab Ende der 1950er-Jahre, als die gesellschaftliche Ablehnung einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit deutlich überwog – waren durch die frühen Freiwilligendienste der Aktion Sühnezeichen in Norwegen, Frankreich und anderen europäischen Ländern wichtige Kontakte zu erinnerungskulturell und -politisch dort tätigen Organisationen entstanden, die länderübergreifende Kooperationen ermöglichten.

Hatte diese Internationalität im Zuge der Freiwilligenarbeit einerseits etwas Selbstverständliches, so waren es andererseits zugleich mühevolle Zeiten, was Polen oder die Sowjetunion anbelangt: Durch den Kalten Krieg und die Grenzregelungen waren der Zugang und die Kontaktmöglichkeiten zu ehemaligen Häftlingen oder Zwangsarbeiter_innen in Osteuropa ebenso erschwert, wie zu zivilgesellschaftlich getragenen Initiativen. Aber es gab sie auch hier seit den 1960er-Jahren,[1] so dass die Kontakte von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste zu Einzelpersonen, Verbänden und Organisationen in ganz Europa sich mit den Kontakten des Gedenkstättenreferats zu den sukzessive gegründeten Gedenkstätten und Gedenkinitiativen verbanden.

Gegenstand der Reflexion durch die Beteiligten war Internationalität damals allerdings nicht: Vielmehr wurde das vorhandene Netzwerk als selbstverständlich angesehen, und seine besondere Qualität – die sich in der Vielzahl der Kontakte einer einzigen Institution zu gänzlich unterschiedlichen Organisationen und zahlreichen Ländern äußerte – gar nicht wahrgenommen. Weder der in allen Ländern bestehende spezifisch nationale Blick auf Geschichte noch die Vorstellung einer homogenen Sowjetunion wurden als besondere Herausforderungen angesehen.

In den 1990er-Jahren wurden dann– mit der sogenannten Wende in Deutschland, dem Ende der Sowjetunion und den damit einhergehenden neuen (eigentlich alten) Nationalstaatsgründungen – viele bestehende Narrative in Frage gestellt. Auch gewohnte Begegnungsrituale waren plötzlich nicht mehr möglich, etwa im Rahmen der in vielen KZ-Gedenkstätten alljährlich stattfindenden internationalen Jugendbegegnungen: Mit einem Wodka alle osteuropäischen Gäste mit dem Trinkspruch »Nasdorowje« zu begrüßen konnte nun zum Scheitern eines angedachten Programms führen. Die zunehmende Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus, die teilweise, etwa in Polen, mit einer Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen einhergingen, stellte eine weitere Herausforderung dar, die sich auch in der internationalen Arbeit des Gedenkstättenreferats widerspiegelte. Durch seine begleitende Rolle vieler Aktivitäten und Institutionen war Thomas Lutz bei all dem nicht nur häufiger Gast, sondern auch ein gefragter Berater. Die große Stärke des Gedenkstättenreferats bestand in der guten Vernetzung seines Mitarbeiters. Die konstruktiven Ratschläge entstanden nicht im luftleeren Raum oder am grünen Tisch. Im Gespräch mit Akteur_innen der unterschiedlichen Länder, beim Zuhören der spezifischen (neuen) Bedürfnisse, die nunmehr formuliert werden konnten und nicht mehr einem übergreifenden sowjetischen oder jugoslawischen Narrativ untergeordnet werden mussten, wurden tragfähige Antworten generiert. Tragfähig waren diese auch deswegen, weil es dem Gedenkstättenreferat vielfach gelang, Menschen mit unterschiedlichen Positionen miteinander ins Gespräch zu bringen, Bereitschaft zum Zuhören zu bewirken und Verständnis für die jeweils andere Position zu wecken.

Die Überlegung, das Gedenkstättenreferat angesichts der Finanzkrise von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in der Stiftung Topographie des Terrors anzusiedeln, war eine inhaltlich gute Entscheidung, die eine Fortschreibung und gleichzeitig den Ausbau der internationalen Arbeit ermöglichte. Schließlich war der historische Ort, der Sitz des Reichssicherheitshauptamts in der Prinz-Albrecht- und Wilhelmstraße, nicht nur zentral gelegen, sondern stand auch für die europäische Dimension der Verfolgung. Seit ihrer Gründung war die »Topographie des Terrors« auch Ort eines zunehmend internationalen Publikums. Und so überrascht nicht, dass hier unterschiedliche Fragestellungen und Herausforderungen einer globalisierten Erinnerungskultur wie in einem Brennglas zusammenliefen.

Angeregt durch Besucher_innen aus Post-Militärdiktaturen Lateinamerikas, die bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus Bezüge zu eigenen Erfahrungen herstellten, weiteten sich Ende der 1990er-Jahre die Perspektiven auf Vergleiche zu strukturellen Ähnlichkeiten zum Umgang mit gewaltbelasteten Vergangenheiten auch in anderen Regionen der Welt. Deswegen führte die Stiftung Topographie des Terrors gemeinsam mit der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und der Paolo-Freire-Gesellschaft 1998 die erste große Tagung zum Vergleich durch. Die Tagung mit dem Titel »Der Umgang mit der Vergangenheit nach der Überwindung von Diktaturen. Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen Argentinien, Chile, Deutschland, Polen und Südafrika« zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass die Perspektiven der einzelnen behandelten Länder von Referent_innen aus den jeweiligen Ländern eingebracht wurden und nicht ein »deutsches Reden über« stattfand.

Mit dieser Tagung entstanden wichtige Kontakte, die die globale Zusammenarbeit im Themenfeld bis heute prägen und tragen, und zugleich wurden wichtige Fragestellungen und für den Dialog kritische Momente identifiziert. So war schon zum damaligen Zeitpunkt ersichtlich, dass in Gesellschaften mit gewaltbelasteten Vergangenheiten, deren Erfahrungen nicht wahr- oder wertgeschätzt werden, vielfach objektiv unzutreffende Vergleiche zwischen den in ihrem Land begangenen Menschenrechtsverletzungen und der systematischen Massenmordpolitik des NS-Regimes gezogen werden, um Empathie für die eigene Geschichte zu wecken. Geheime Haftzentren der Militärdiktatur wurden im Sprachgebrauch mit Auschwitz gleichgesetzt, Verhaftung und Folter mit »Vernichtung«.[2]

Und es deutete sich schon zu diesem Zeitpunkt die große Diskrepanz an, zwischen der Verflochtenheit der Geschichten der Länder und Kontinente bei gleichzeitig geringem Kenntnisstand und schwach ausgeprägtem Bewusstsein dieser Verflechtung. Obwohl viele Mitarbeiter_innen der Gedenkstätten für NS-Opfer damals von sich sagten, sie hätten ihre politische Sozialisation durch die Solidaritätsbewegung mit Chile nach dem Putsch 1973 oder mit Argentinien 1976 erfahren, standen die historischen Sachverhalte unverknüpft nebeneinander. Erst mit dem direkten Kontakt zu Vertreter_innen der in Chile oder Argentinien entstehenden Gedenkstätten erfuhr man beispielsweise vom antisemitischen Umgang mit jüdischen Oppositionellen oder dem Schicksal von Holocaust-Überlebenden, deren Kinder von den Militärs verhaften wurden. Auch die Tatsache, dass sich die zweitgrößte jüdische Gemeinde in der Welt nach New York damals in Argentinien befand, wurde erst durch die erwähnten Kontakte konkret wahrgenommen. Trotz allen Engagements für die Bearbeitung der Folgen des Nationalsozialismus hatten Themen wie Nachkriegsbiografien von NS-Täter_innen jenseits von Deutschland oder Österreich und deren Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen bis dahin eher zu den blinden Flecken der Auseinandersetzung gehört.[3]

Im Jahr 1998 wurde die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) gegründet – damals noch International Task Force for Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research genannt –, womit die internationale Zusammenarbeit von staatlichen Institutionen, Bildungseinrichtungen und Gedenkstätten im Hinblick auf den Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen einen wichtigen Anschub erhielt. Vergessenen oder vernachlässigten Opfergruppen konnte nun die Aufmerksamkeit zuteilwerden, die sie verdienten.[4] Durch das Konzept internationaler Fortbildungen für Multiplikator_innen lernten nicht nur die Teilnehmer_innen etwas über Vermittlungsstandards, sondern die durchführenden Einrichtungen auch immer etwas über die Erinnerungskultur der Länder aus denen die Teilnehmer_innen stammten. Die grenzübergreifende Auseinandersetzung schien facettenreicher, vielfältiger und durchaus komplexer zu sein, und damit auch dem historischen Kontext mehr zu entsprechen. Die wachsende globale Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ging jedoch auch mit Vereinfachungen einher – vielleicht zwangsläufig, weil die Kenntnisse zur Geschichte umso geringer wurden, je weiter geografisch entfernt ein Land lag. Umso schwieriger war es oft im deutschen Fall, Zusammenhänge zwischen Ideologien, Strukturen und Personen eines Regimes zu erklären, dessen Verbrechen sich beispielsweise durch die Beteiligung der Verwaltung mitsamt der Schreibtischtäter_innen von anderen Gewalttaten unterschied.

Gleichzeitig bildete sich eine weitere Facette im Diskurs um Internationalität heraus: Ein Ergebnis der Diskussionen um die Gestaltung der Erinnerungskultur in der vielfältigen (deutschen) Gesellschaft war die Erkenntnis, dass alle Gesellschaften in sich divers sind und für die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus inhaltliche Angebote jenseits nationaler Grenzen sinnvoll und richtig sind. Anfangs war in der Diskussion zunächst der Vorschlag formuliert worden, die breiten Erfahrungen und Kompetenzen der internationalen Zusammenarbeit auf die (vermeintliche) didaktische Herausforderung innergesellschaftlicher »anderer« zu übertragen. Dabei wurde jedoch nicht beachtet, dass es sich bei den anzusprechenden Zielgruppen um Menschen handelte, die mehrheitlich in Deutschland sozialisiert worden waren und deswegen überhaupt nicht als kulturell »andere« oder »ausländische« Gruppe zu behandeln waren. Wenngleich Erinnerungsdiskurse in anderen Ländern die Perspektive von Teilnehmer_innen, deren Familienmitglieder dort sozialisiert worden waren, durchaus beeinflussen können, so bildete sich in der Diskussion bald die Überzeugung heraus, dass die Entscheidung, welche Verbrechensgeschichten über den Nationalsozialismus hinaus im Geschichtsunterricht zu behandeln seien, sich nicht an der Herkunft einzelner Schüler_innen sondern an den Lernzielen für die gesamte Lerngruppe richten sollten.[5] Hinzu kam die Erkenntnis, dass jenseits ethnischer oder kultureller Zugehörigkeiten und Zuschreibungen andere Kategorien wie zeitliche Distanz, tradierte Narrative und – in jüngster Zeit – auch zunehmend Identitätsfragen die viel entscheidendere Rolle im Rahmen von Bildungsformaten spielten.

Nicht zuletzt durch die Migrationsbewegungen der letzten Jahre hat sich inzwischen ein Bewusstsein für eine globalisierte Welt und Erinnerungskultur durchgesetzt. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Heterogenität von Gruppen in jedem Lernkontext von Gedenkstätten wahrgenommen wird. Die Kompetenzen und das Wissen um notwendige Reflexion und Fortbildung sind in der Gedenkstättenlandschaft erheblich gewachsen – und lassen, im Vergleich zur fröhlichen Unbedarftheit der 1980er-Jahre, vieles nachdenklicher und an der einen oder anderen Stelle weniger optimistisch und naiv erscheinen. Das Wissen um die Komplexität von Geschichte und deren internationale Verflechtung auf unterschiedlichen Ebenen bietet heute sehr viele Anknüpfungspunkte, auch um auf ganz individuelle Bedürfnisse in unterschiedlichen Kontexten eingehen zu können.

 

Fazit

Wenn man die Entwicklung der Internationalität von Gedenkstättenarbeit betrachtet, dann hat sie sich trotz aller Widrigkeiten von einer lange Zeit vorherrschenden und nicht besonders wertgeschätzten »Selbstverständlichkeit« hin zu einer reflektierten und qualifizierten Wahrnehmung von komplexen historischen und gegenwärtigen Zusammenhängen entwickelt. Im Weiteren lässt sich eine Teilung feststellen: Ein Strang der internationalen Zusammenarbeit versucht, die Komplexität aufrechtzuerhalten und den zuvor bewusst gemachten komplexen Zusammenhängen gerecht zu werden, wie beispielsweise den Bezügen zwischen Nationalsozialismus und Kolonialismus. Ein weiterer Strang versucht die Komplexität der verflochtenen Narrative zu reduzieren und dem Risiko einer Trivialisierung der NS-Verbrechen durch Fokussierung auf das unvergleichbarste Menschheitsverbrechen entgegen zu treten. Beide Stränge berühren sich hin und wieder, verlaufen aber auch immer wieder parallel zueinander, ohne miteinander in Kontakt zu kommen.

Wollte man die Entwicklung als Zeichnung darstellen und ein Bild für Thomas Lutz und das Gedenkstättenreferat ergänzen, müsste man eine Figur malen, die sich zunächst entlang der Entwicklungslinie bewegt und nach der Bildung der Stränge in der Lage ist, sich von einem Strang zum anderen hin und her zu bewegen und diese auch situativ miteinander in Verbindung zu bringen. Es war kein Zufall, dass Thomas Lutz sich in den unterschiedlichen regionalen, bundesweiten und auch internationalen Netzwerken wie IHRA oder IC MEMO wie selbstverständlich bewegt und die unterschiedlichen Diskurse miteinander in Verbindung gebracht hat. Gerade angesichts von sich in Teilen verhärtenden Debatten ist diese Funktion wichtig. Das Gedenkstättenreferat kann durch seine vielen nationalen wie internationalen Kontakte vermitteln und moderieren. Vor allem aber kann es auch in Zukunft wichtige Fragestellungen auf die Tagesordnung bringen, die ohne die Gedenkstättenseminare und andere Veranstaltungsformate in Vergessenheit zu geraten drohen.

Dr. Elke Gryglewski ist Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Sie war Freiwillige von ASF in Israel und hat lange Jahre in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz gearbeitet.

 

[1]    Detlef Garbe: Die Entwicklung der Gedenkstätten und ihre Vernetzung. Rückblick und Perspektiven, in: GedenkstättenRundbrief 189 (3/2018), S. 11–21, hier: S. 12.

[2]    Daniel Gaede/Elke Gryglewski: Vergleiche in der Gedenkstättenpädagogik, in: Elke Gryglewski/Verena Haug et. al. (Hrsg.), Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Berlin 2015, S. 345–356.

[3]    Personelle Kontinuitätslinien und deren Folgen insbesondere in der Bundesrepublik wurden dabei durchaus thematisiert, wie sich stellvertretend an der Auseinandersetzung mit der Person Hans Globke zeigt.

[4]    Seit Prof. Yehuda Bauer im Kontext der IHRA den Völkermord an den Sinti und Roma als solchen anerkannt hatte, stieg beispielsweise das Engagement zur Erarbeitung antiziganismuskritischer Bildungsangebote.

[5]    Ein Beispiel war die Diskussion um die Thematisierung des Völkermords an den Armeniern. Dieser hat eine Relevanz für alle – auch im Hinblick auf die Beteiligung Deutscher, und sollte deswegen nicht als Thema »für türkische Jugendliche« gesehen werden, die sich wegen eines vermeintlich fehlenden Bezugs zum Nationalsozialismus dann damit beschäftigen sollten.