Lety u Písku. Gedenkstätte für den Holocaust an den Roma und Sinti

07/2024Gedenkstättenrundbrief 214, S. 22-41
Anna Míšková und Karina Hoření

Das Gelände des ehemaligen so genannten Zigeunerlagers in Lety u Písku im Süden der Tschechischen Republik markiert einen wunden Punkt in den Beziehungen zwischen Tschechien und den Rom:nja. Der langwierige Prozess des Vergessens und Erinnerns illustriert dies auf anschauliche Weise. Das Gelände, auf dem ein Schweinemastbetrieb errichtet worden war, ruft grundsätzlich die Geschichte des vergessenen Holocaust an den Sinti:zze und Rom:nja in Europa in Erinnerung. Im Frühjahr 2024 wurde an diesem Ort nach jahrzehntelangem Ringen eine neue Gedenkstätte eröffnet. Dieser Artikel bietet einen Überblick über die Ursachen für diesen langwierigen Prozess, der ihrer Einrichtung vorausging, sowie über die Herausforderungen und Fragen, mit denen die neuen Ausstellungen und die Bildungsprogramme dort gegenwärtig konfrontiert sind. Er betrachtet den Prozess aus einem breiteren Kontext, der die Situation der Rom:nja in der Tschechischen Republik beleuchtet.

In der Tschechischen Republik leben ungefähr 300.000 Rom:nja sowie historisch bedingt auch kleine Gruppen von Sinti:zze. Angesichts der Tatsache, dass die Roma-Identität von Traumata und Vorurteilen geprägt ist – sowohl im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg als auch mit staatlicher Verfolgungspolitik vor dem Holocaust –, erklären sich viele in offiziellen Volkszählungen nicht zu Angehörigen dieser Minderheit. Die Mehrzahl der heutigen Roma-Bevölkerung setzt sich aus Nachkommen von Menschen zusammen, die aus dem slowakischen Teil der ehemaligen Tschechoslowakei nach Tschechien kamen. Von der Roma- und Sinti-Bevölkerung aus der Vorkriegszeit haben nur wenige überlebt. Die Gedenkstätte ist daher dem Gedenken an die nahezu ausgelöschte Kultur der in Tschechien heimischen Rom:nja gewidmet.

Der Krieg machte frühe Bemühungen um eine Emanzipation der Rom:nja zusätzlich zunichte. Zudem wurden die Rom:nja sowohl während des kommunistischen Regimes als auch im liberalen Kapitalismus nach 1989 vom Zugang zum Arbeit- und Wohnungsmarkt und zu Bildung ausgeschlossen. Diese anhaltende Ausgrenzung nährt sich aus unzähligen Stereotypen und Mythen über Rom:nja, die in der Mehrheitsgesellschaft weitverbreitet sind. Diese Stereotype spielten wiederum eine Rolle in dem mehr als 20 Jahre andauernden Ringen um den Aufbau der Gedenkstätte. Prominente Politiker:innen machten sie sich zunutze, um die Existenz des Lagers zu leugnen. Glücklicherweise wurde der Rechtsaußen-Abgeordnete, der das Gelände, auf dem mehr als 300 Menschen den Tod fanden, als »nicht existierendes Pseudo-Konzentrationslager« bezeichnet hatte, von einem Gericht verurteilt,[1] während sich derdamalige Vize-Premierminister (und spätere Premierminister) – der das Gelände als »Arbeitslager« für nicht Arbeitswillige bezeichnet hatte – lediglich entschuldigen musste.[2]

Die Hauptaufgabe der Gedenkstätte Lety besteht darin, das Leid und die Schicksale der Rom:nja vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Missachtung oder aktiven Unterdrückung auf würdevolle Weise zu präsentieren. Ein wesentlicher Teil der tschechischen Gesellschaft hat sich (ermutigt durch zahlreiche führende Politiker:innen) gegen die Einrichtung einer Gedenkstätte ausgesprochen. Bis heute ist das Schicksal der Rom:nja und Sinti:zze während des Krieges kaum im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert. Die Gedenkstätte übernimmt daher eine Doppelfunktion: Sie soll den Familien der Überlebenden einen würdevollen Ort des Gedenkens und der gesamten tschechischen Gesellschaft einen Ort der Lernens über die Vergangenheit bieten.

 

»Rückkehr unerwünscht«

Das lange Ringen um die Anerkennung des Holocaust an den Rom:nja und Sinti:zze verdeutlicht auch das Schicksal von Božena Pflegerová, die das Konzentrationslager Lety überlebte. Das handschriftliche Manuskript ihrer einzigartigen Lebenserinnerungen gehört zu den zentralen Exponaten in der Dauerausstellung der Gedenkstätte. Božena Pflegerová war 60 Jahre alt und lebte mit ihrer Tochter in Kanada, als sie auf ein Buch von Ctibor Nečas mit dem Titel Andr’oda taboris stieß, in dem der Autor eine Liste von Häftlingen der so genannten Zigeunerlager des Protektorats veröffentlichte. Pflegerová fand ihren eigenen sowie die Namen ihres Sohnes Vlastimil und ihrer Tochter Berta Štěpánka auf der Liste. Der Geburtsort ihrer Tochter war mit Lety u Písku angegeben. Pflegerová war schwanger, als sie ins Lager kam. Sie musste ihre Tochter im Lagergefängnis zur Welt bringen und auch ihren späteren Tod miterleben.

Nach der Lektüre von Nečas’ Buch beschloss Pflegerová, ihre Erinnerungen niederzuschreiben, um ihre Verzweiflung über die Ungerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen, die den Rom:nja und Sinti:zze in der Nachkriegsordnung widerfahren war. Sie schrieb darin: »Jüdinnen und Juden jagen schon seit langem Nazi-Kriegsverbrecher, und Zigeuner sollten es ihnen gleichtun. Dies ist einer der Gründe, weshalb ich mich entschlossen habe, diese wenigen Seiten über das Lager in Lety niederzuschreiben, nachdem ich – im Buch Andr´oda taboris – die Namen meines Sohnes [der überlebte] und meiner Tochter gelesen hatte, die im Lager geboren wurde und dort starb: Ich wollte sicherstellen, dass niemand behaupten konnte, es gebe keine Zeitzeugen, die von den Ereignissen dort berichten könnten. Auch wenn es zu spät ist, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und ich frage: Könnte so etwas jemals wieder passieren? Gibt es eine Antwort auf diese Frage?«[3] In ihren Memoiren, an denen sie 40 Jahre schrieb, nennt Pflegerová die Namen von Mithäftlingen und von Lageraufsehern, die die Insassen misshandelten. Sie berichtet von den Massengräbern hinter dem Lager und von den Umständen des Todes ihrer drei Monate alten Tochter, Berta Štěpánka. Sie erzählt von der Gewalt und der täglichen Todesangst, vom Missbrauch der Frauen und davon, wie die Inhaftierten nach und nach jeglicher Menschlichkeit beraubt wurden. Viermal nahm sie Anlauf, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. Mit ihren Memoiren legt sie für künftige Generationen ein wertvolles Zeugnis von den Schrecken des Lagers ab.

Die Verfasserin beschloss, ihren Aufzeichnungen den Titel »Return Undesired« (Rückkehr unerwünscht) zu geben: »Lety u Písku war nur eine Zwischenstation in die Vernichtungslager von Auschwitz-Birkenau, aus denen es für Menschen, die auch nur einen Tropfen Zigeunerblut in sich trugen, kein Entrinnen gab.«[4] Im Manuskript verweist sie auf die Verbindung zwischen den so genannten Zigeunerlagern in Lety u Písku und Hodonín u Kunštátu und dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz II-Birkenau. Nach dem Krieg heiratete Pflegerová den Holocaust-Überlebenden Antonín Hauer. Ihr gemeinsamer Sohn Jan erfuhr erst im Erwachsenenalter, wie die erste Familie seines Vaters ums Leben gekommen war – seine Ehefrau Rozálie und seine Kinder Marie, Vilém, Matěj und Berta. Gemeinsam mit seinem Vater versuchte er 20 Jahre lang, mehr über ihr Schicksal in Erfahrung zu bringen. Allerdings erzählte er seinem Vater nie, was er schließlich über ihren Tod herausgefunden hatte – aus Angst, er könne die Wahrheit nicht verkraften. Jan Hauer machte es sich zur Lebensaufgabe, Dokumente über das Schicksal seiner Familie sowie seltene Familienaufnahmen von Verwandten zu sammeln, die er nie kennengelernt hatte. Die Aufzeichnungen seiner Mutter stiftete er dem Museum für Roma-Kultur in einer Zeit, als bereits klar war, dass der Schweinemastbetrieb auf dem Gelände des ehemaligen Lagers verkauft werden würde. Er wollte den Besucher:innen die Erinnerungen seiner Mutter zur Verfügung stellen, damit alle von den grausamen Lebensbedingungen und dem Todeskampf im Lager lesen konnten.

Heute, 80 Jahre nach den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und 40 Jahre nach Niederschrift des Manuskripts, erhalten die Erinnerungen von Božena Pflegerová einen Ehrenplatz in der neu errichten Gedenkstätte. Die Namen von Božena, Vlastimil und Berta Štěpánka sind nebeneinander am Kreis des Gedenkens auf dem Gelände angebracht. Weder Pflegerová noch ihr Sohn Jan Hauer haben die Eröffnung der Gedenkstätte miterlebt. Dennoch hoffen wir, sie wären zufrieden gewesen und hätten womöglich sogar ihren Frieden gefunden.

 

So genanntes Zigeunerlager I Lety u Písku

In einer abgelegenen Region Südböhmens, im ehemaligen Protektorat Böhmen und Mähren, wurde am 2. August 1942 ein Konzentrationslager errichtet. Ein ähnliches Lager wurde am selben Tag beim Dorf Hodonín nahe Kunštát in Mähren eröffnet. Ihre Einrichtung folgte einem Erlass »zur Bekämpfung der Zigeunerplage« der eine offen rassistische Politik gegen Rom:nja und Sinti:zze im Protektorat einleitete. In den ersten Augusttagen des Jahres 1942 erfassten örtliche Polizeistationen alle »Zigeuner, Zigeunermischlinge und nach Zigeunerart lebenden Menschen«. Von dort transportierte man viele der Familien direkt in die Lager. Nach ihrer Ankunft mussten sie eine erniedrigende Aufnahmeprozedur über sich ergehen lassen: Nachdem sie sich nackt auf einem »apelplac«, Tschechisch für Appellplatz, versammelt hatten, wurden sie von Kopf bis Fuß rasiert und ihr gesamtes Hab und Gut konfisziert. Die Männern erhielten ausrangierte, schwarz eingefärbte Militäruniformen, die Frauen und Kinder mussten ihre Sommerkleidung weitertragen, die in den Wintermonaten völlig unzureichend war.

Ganze Familien, darunter Schwangere, Kleinkinder und ältere Menschen, kamen als Häftlinge ohne Aussicht auf Entlassung in das Lager. Nach Angaben des Historikers Ctibor Nečas wurden im August 1942 insgesamt 553 Männer und Frauen und 561 Kinder unter 14 Jahren im Lager interniert – junge Kinder machten die Hälfte der Häftlinge aus. Die geringe Aufnahmekapazität des Lagers war eines der größten Probleme: Schon in den ersten beiden Wochen lebte bereits die dreifache Anzahl an Menschen auf dem Gelände, das lediglich für etwa 400 Menschen ausgelegt war. Kinder ab zwei Jahren wurden von ihren Eltern getrennt in großen Baracken in der Lagermitte untergebracht. Bis zu 17 Männer und Frauen lebten separat in Zellen für vier Personen. Die Häftlinge, darunter auch alle Kinder ab 10 Jahren, mussten in einem nahegelegenen Steinbruch, in Sandgruben, in den Wäldern oder auf örtlichen Bauernhöfen arbeiten. Frauen, manche mit ihren Babys auf dem Rücken, und Mädchen wurden gezwungen, Steine zu klopfen. Die Inhaftierten mussten täglich 10–12 Stunden bei Wind und Wetter arbeiten. Die Lebensmittel- und Wasserrationen entsprachen nicht den Vorgaben oder den Bedürfnissen der erschöpften und ausgehungerten Häftlinge.

Während der Betriebszeit des Lagers kamen dort 36 Kinder zur Welt, von denen 29 in den ersten Lebensmonaten starben und eines nach Auschwitz II-Birkenau deportiert wurde. Die hygienischen Bedingungen im Lager waren katastrophal. Die Häftlinge hatten nicht einmal für eine grundlegende Körperpflege einen geeigneten Ort oder Möglichkeiten. Der einzige Brunnen konnte das Lager nicht ausreichend mit Wasser versorgen. Im Dezember 1942 brach eine Typhus-Epidemie aus, und allein im Januar 1943 starben etwa 136 Häftlinge. Am 17. Februar 1943 wurde das Lager unter Quarantäne gestellt, sodass es keinerlei Kontakt zwischen dem Lager und der Außenwelt gab; niemand durfte das Lager verlassen, und die Aufseher wurden mit zusätzlichen Waffen ausgestattet, um Fluchtversuche zu verhindern. Um das Lagergelände wurde ein hoher Holzzaun gezogen, der am oberen Ende mit einer Reihe Stacheldraht abschloss. Tag und Nacht patrouillierten bewaffnete Aufseher mit Hunden. Nichtsdestotrotz wagten einige Menschen die Flucht – und einige Wenige von ihnen schafften es. Zu den bekanntesten Fällen gehört wohl der von Josef Serinek, einem Überlebenden, der als Schwarzer Partisan Berühmtheit erlangte, weil er sich nach seiner Flucht aus dem Lager dem Widerstand anschloss. Die Aufseher waren in der Mehrzahl ehemalige Gendarmen. Die Führung des Lagers unterlag ihrer Zuständigkeit.

Rom:nja wurden aus diesem Lager schrittweise nach Auschwitz verbracht. Transporte aus den Lagern in Lety und Hodonín sollten eigentlich als Erste des Protektorat verlassen. Doch weil beide Gelände unter Quarantäne standen, befanden sich in den ersten Transporten (ab März 1943) Rom:nja, die bis dahin in Freiheit gelebt hatten. Am 4. Mai 1943 wurden die Rom:nja aus Lety in das »Zigeuner-Familien-Lager« in Auschwitz II-Birkenau verbracht. Der jüngste Deportierte war Jiří Růžička mit gerade mal einem Monat, der älteste František Richter mit 87 Jahren.

Insgesamt passierten 1.294 Menschen das Lager in Lety. Etwa 183 Personen wurden freigelassen, 335 Menschen überlebten die Internierung nicht (darunter 241 Kinder unter 14 Jahren), und mehr als 500 Häftlinge wurden nach Auschwitz I und Auschwitz II-Birkenau in den nahezu sicheren Tod deportiert. Allerdings sind dies noch keine endgültigen Zahlen. Sie beruhen auf unsystematischen Listen der Lagerleitung, die nicht die Namen aller bekannten Häftlinge enthalten.

Am 8. August 19kein Ent3 wurde das Lager geschlossen. Die Baracken wurden abgerissen und das gesamte Gelände inklusive Zaun abgebrannt. Nachdem man alles dem Erdboden gleichgemacht hatte, wurde das Gelände mit einer Kalkschicht bedeckt.[5]

 

Lety u Písku nach dem Krieg und der Schweinemastbetrieb

Kurz nach dem Krieg wurde auf Initiative der Familie Čermák, deren Angehörige unter den Internierten des Konzentrationslagers gewesen waren, ein Holzkreuz mit einer Dornenkrone aus Stacheldraht in der Nähe des ehemaligen Lagers errichtet. Im Jahr 1960 tauchte auf dem Friedhof von Mirovice eine Gedenktafel mit den Namen von sechs Mitgliedern zweier Familien und der Inschrift »In Erinnerung an die Opfer des Konzentrationslagers in Lety« auf. In den Chroniken von Mirovice ist zu lesen, dass es 1968 eine Gedenkzeremonie für die Opfer von Lety gab. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989 beschloss der Bürgermeister von Mirovice, Adolf Vondrášek, der sich seit den 1970er Jahren für das Schicksal der Häftlinge interessiert hatte, eine Gedenktafel für die Roma-Opfer zu stiften. Die feierliche Enthüllung und Einweihung im Jahr 1992 war die erste offizielle Gedenkveranstaltung für die Opfer des Lagers Lety. In den Jahren 2000–2001 errichtete das Komitee für die Entschädigung des Roma-Holocausts (VPORH) unter Leitung von Čeněk Růžička Gedenktafeln mit den Namen der Opfer und eine Skulptur der trauernden Mütter neben einem symbolischen gebrochenen Wagenrad.

Im Jahr 1974 wurde ein »riesiger Schweinemastbetrieb« für Tausende von Tieren nahe der Stadt Lety errichtet. Ein Überlebender des Lagers stellte fest: »Nachdem die Gebäude des Schweinemastbetrieb wenige Hundert Meter von den Massengräbern gebaut worden waren, ging keiner [der Überlebenden] mehr an diesen Ort«. Nach Fertigstellung umfasste die Anlage 13 Hallen mit einer Gesamtkapazität von 13.000 Schweinen. Auf Luftaufnahmen aus der Zeit ist zu sehen, dass die Umrisse des Lagers sogar beim Bau des Schweinemastbetriebs noch auszumachen waren. Der ehemalige Standort war den Anwohner:innen ohne Zweifel bekannt, und sie wussten von den Schrecken, die sich dort ereignet hatten.

 

1990er Jahre – Entdeckung des »Unbekannten Holocaust«

und Engagement für den Abriss der SchweinemastanlageHistoriker:innen und Anwohner:innen kannten die Geschichte dieses Orts. Professor Ctibor Nečas hatte sich seit den 1970er Jahren mit dem Thema auseinandergesetzt und mehrere wichtige Publikationen dazu verfasst. Doch erst in den 1990er Jahren fand das Thema Eingang in den nationalen Diskurs, als der amerikanische Journalist Paul Polansky die internationale Aufmerksamkeit auf die Existenz des Lagers Lety und den auf dem ehemaligen Gelände errichteten Schweinemastbetrieb lenkte. Gemeinsam mit dem Büro von Präsident Václav Havel schlug Nečas vor, am Standort der Gräber eine Gedenkstätte zu errichten. Die Einweihung des Denkmals fand am 13. Mai 1995 in Anwesenheit von Präsident Havel statt.

Zwei Jahre später begannen die Verhandlungen über den Abriss des Schweinemastbetriebs. Ein Gericht veranschlagte den möglichen Kaufpreis für die gesamte Anlage auf 2 Millionen Euro. Anfang 1999 verabschiedete die Regierung einen Beschluss über die Vorlage eines Haushaltsvoranschlags für den Erwerb der Anlage. 20 Jahre lang bemühten sich Vertreter:innen der Überlebenden und ihrer Familien und Vertreter:innen von Rom:nja und für Rom:nja eintretenden Organisationen um die Schließung des Betriebs. Einer der führenden Aktivisten in diesem Kampf war der Vorsitzende des Komitees für die Entschädigung des Roma-Holocausts (VPORH), Čeněk Růžička, der seit den 1990er Jahren immer wieder auf die Schändung der Gedenkstätte durch den Schweinemastbetrieb verwiesen hatte. In der Tschechischen Republik und Europa plädierte er auf politischer Ebene für die Schließung des Betriebs und organisierte alljährlich am 13. Mai eine Gedenkfeier für die Opfer des Lagers Lety. Dank des Engagements der Roma-Organisation Konexe wurde die Problematik der Schweinemastanlage auch über die Grenzen der Tschechischen Republik hinaus bekannt. Neben Blockaden der Zufahrtstraße zur Anlage organisierten die Konexe-Mitglieder auch eine internationale Gedenkfeier am ehemaligen Standort des Lagers in Lety u Písku. Aktivist:innen begannen im Jahr 2014 mit der Tradition, Blumen in den Zaun zu stecken, der das Gelände von der Anlage trennte.[6]

 

Lety u Písku. Gedenkstätte für den Holocaust an den Roma und Sinti in Böhmen

Im Jahr 2017 wurde auf Grundlage eines Beschlusses der tschechischen Regierung ein Kaufvertrag mit der Aktiengesellschaft AGPI über den Erwerb des Schweinemastbetriebs in Lety u Písku unterzeichnet, und 2018 übernahm das Museum für Roma-Kultur das Gelände. Die letzten Schweine wurden im März desselben Jahres abtransportiert. Umfangreiche Ausgrabungen brachten zahlreiche persönliche Gegenstände der Inhaftierten und den genauen Standort der Gräber auf dem provisorischen Gräberfeld zutage. [7]7

Das Museum für Roma-Kultur entschied sich für eine Planung der Gedenkstätte im einem partizipativen Verfahren. Es veranstaltete Rundtischgespräche mit der Bevölkerung, Dorfbewohner:innen aus der Umgebung, Fachleuten, Architekt:innen und Vertreter:innen der betroffenen Familien. Bei einer Ausschreibung in der zweiten Jahreshälfte 2019 gingen in der ersten Runde 41 Vorschläge aus aller Welt ein. Ein Ausschuss aus Architekt:innen, Schriftsteller:innen, Künstler:innen, Historiker:innen und Vertreter:innen der Familien der Überlebenden schickte sieben der Vorschläge in die zweite Runde. Jan Hauer nahm an der Evaluierungssitzung zur zweiten Runde teil. Nach einem kurzen Blick auf alle Entwürfe zeigte er ohne lange Umschweife auf den Entwurf, der später den Zuschlag erhielt. Die Jury wählte den Entwurf von Terra Florida Studio und Architekt Jan Sulzer. Die architektonische Gestaltung fügt sich in die Landschaft ein und überträgt diese symbolisch zurück an die Roma. Eine lange Betonmauer trennt das Gelände von dem mit einem Raster aus Bäumen bepflanzten Parkplatz, der wiederum eine Abgrenzung zur Zufahrtstraße bietet. Nachdem die Besucher:innen das Tor passiert haben, fällt ihr Blick auf den neu gepflanzten Wald, das Besuchszentrum, eine letzte noch stehende Schweinemasthalle und den Kreis des Gedenkens.[8]

 

Ort des Gedenkens und Gedenken an einen Ort

Im Besucherzentrum gibt es eine öffentliche Dauerausstellung mit dem Titel »Ort der Erinnerung und Erinnern an einen Ort«. Die Ausstellung unterteilt sich in vier Schwerpunktbereiche, die für die vier thematischen und zeitlichen Phasen in der Geschichte des Geländes stehen. Wie der Titel der Ausstellung andeutet, liegt ihr Fokus auf den Ereignissen des 20. Jahrhunderts, aber auch auf der symbolischen Bedeutung des Geländes im Ringen um eine allgemeine Anerkennung des Leids der Rom:nja und Sinti:zze im Zweiten Weltkrieg. Das Hauptziel der Ausstellung besteht darin, den Stimmen der Verschwundenen erneut Gehör zu verschaffen. Sie konfrontiert die Perspektiven der Rom:nja und Sinti:zze mit den Standpunkten der Behörden, der Aufseher:innen oder der Presse der damaligen Zeit.

Die Besucher:innen folgen der Geschichte der Rom:nja und Sinti:zze von der Vorkriegszeit, über die Zeit des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust – mit einem Schwerpunkt auf dem sogenannten Zigeunerlager in Lety u Písku – bis in die Nachkriegszeit. Den Abschluss bilden die Auseinandersetzungen mit dem Kriegstrauma, das Ringen um eine Gedenkstätte und der Kampf um den Abriss des Schweinemastbetriebs. Die Ausstellung umfasst 16 audiovisuelle Elemente mit Zeitzeugenberichten, Archivdokumenten und Fernsehberichten. Im Mittelpunkt steht ein Zeitstrahl, auf dem sich Besucher:innen mit Hilfe von Magneten mit historischen Ereignissen und Beschriftungen wie »Meine erste Liebe« interaktiv in einer Geschichte orientieren und in sie eintauchen können – und auf diese Weise hoffentlich verstehen, dass die Ereignisse noch nicht lange zurückliegen. Den Schwerpunkt der einzelnen Bereiche bilden Exponate, die das behandelte Thema am besten vermitteln. Im ersten Bereich mit dem Titel »Vor dem Krieg« sind dies Familienfotografien aus der Zeit vor dem Krieg, die zeigen, wie Rom:nja und Sinti:zze gelebt haben und ihren Nachkommen in Erinnerung bleiben wollten. In einigen Fällen gibt es Überlebende, die die Namen und Schicksale der Menschen auf den Fotografien bezeugen können. In anderen Fällen gibt es niemanden mehr, der die Geschichte der ausgelöschten Familien erzählen könnte.

Den Schwerpunkt des zweiten Bereichs »Im Lager« bilden archäologische Funde auf dem Gelände. Die Häftlinge mussten alle Dinge abgeben, die sie bei sich hatten. Sie wurden anschließend in der Müllgrube des Lagers entsorgt. Darunter waren persönliche Gegenstände wie Keramikbecher mit der Aufschrift »In Liebe«, Emaille-Geschirr für Kinder mit Musikmotiven oder Schmuck der weiblichen Inhaftierten. Den Schwerpunkt des dritten Bereichs mit dem Titel »Überlebende« bilden die bereits erwähnten Aufzeichnungen von Božena Pflegerová. Auf über 120 handgeschriebenen Seiten liefern sie ein stilles Zeugnis von den Ereignissen der Vergangenheit. Als Schwerpunkt des vierten und letzten Bereichs mit dem Titel »Verfechter der Erinnerung« sind Nachbildungen der Bänder an den anlässlich der ersten Gedenkfeier 1995 niedergelegten Kränzen zu sehen. Dort hängen Seite an Seite die Bänder des ersten tschechischen Präsidenten, Václav Havel, und des derzeitigen Präsidenten Petr Pavel – den beiden einzigen Präsidenten, die der Gedenkstätte einen Besuch abgestattet haben.

 

Pfad der Erinnerung

Auf dem Außengelände der Ausstellung erhalten Besucher:innen über die einzigartigen Perspektiven von Rom:nja und Sinti:zze einen Einblick in die Geschichte des Ortes. Sie können sich auch ohne Führung jederzeit auf den Pfad der Erinnerung begeben, der am Besuchszentrum startet. Der Pfad der Erinnerung zeichnet die Lebenswege von Rom:nja und Sinti:zze von der Vorkriegszeit bis heute nach. Dort erfahren die Besucher:innen in Tonaufnahmen von Zeitzeugen oder über Zitate mit Fotografien von den Erinnerungen und Erlebnissen dieser Menschen. Ein zentraler Teil des Wegs ist der Kreis des Gedenkens mit den Namen aller Inhaftierten. Hier haben die Besucher:innen Gelegenheit, innezuhalten und einen Bezug zur Gegenwart herzustellen, wenn sie durch die Stimmen von Zeitgenoss:innen von vergangenen Ereignissen erfahren.

Am Ende des Pfads gelangen die Besucher:innen zum Katarzis-Kreis, wo sie in einer Nachricht ihre Gefühle und Erlebnisse niederschreiben und dort zum künftigen Gedenken hinterlassen können. In der Nähe des Besuchszentrums können sie sich anschließend ein Video ansehen, das die Frage stellt: »Was bedeutet Lety u Písku für mich?« Anschließend führt der Pfad zu einem möglichen Endpunkt: einer provisorischen Grabstätte und Gedenkstätte von 1995. Dort können die Besucher:innen all derer gedenken, die die Internierung im Lager von Lety nicht überlebten.

 

Bildungsprogramme

Die Gedenkstätte Lety ist darüber hinaus ein wichtiger Bildungsort. Viele Schüler:innen und Student:innen aller Altersgruppen wissen nur wenig über den Holocaust an den Sinti:zze und Rom:nja und noch viel weniger über die allgemeine Geschichte dieser ethnischen Gruppe auf dem Gebiet Tschechiens (ihr Wissen hängt von der Bereitschaft ihrer Lehrkräfte ab, sich mit diesem Teil der Geschichte auseinanderzusetzen). Vor diesem Hintergrund füllt die Gedenkstätte eine Lücke im tschechischen Lehrplan, indem sie einen authentischen Ort der Geschichte auf einzigartige Weise erfahrbar macht.

Seit ihrer Eröffnung bietet die Gedenkstätte ein besonderes Bildungsprogramm für Schüler:innen und Student:innen im Alter von 15-18 Jahren (in diesen Jahrgangsstufen wird neuere Geschichte an tschechischen Schulen behandelt und die Lehrkräfte sind besonders motiviert, mit ihren Klassen Exkursionen zu unternehmen). Da die Schulklassen nur über ein begrenztes Wissen verfügen, zielt das Programm vor allem darauf ab, Informationen über die Lebenswege der Rom:nja und Sinti:zze und vor, während und nach Krieg und das nötige Hintergrundwissen für den Besuch der historischen Orte an der Gedenkstätte zu vermitteln. Auf diese Weise greift das Programm auch das Hauptziel beider Ausstellungen auf: einen Blick auf die Geschichte aus den Augen und mit den Worten der Rom:nja zu werfen. Es verzichtet daher auch bewusst auf den Einsatz von Dokumenten staatlicher Stellen und aus der Mehrheitsgesellschaft. Im Rahmen des Bildungsprogramms erfahren die Schüler:innen mit Hilfe historischer Dokumente von den Lebenswegen verschiedener Rom:nja und Sinti:zze. Weil es nur wenige Dokumente gibt, in denen Rom:nja über ihre Erfahrungen berichten, war es keine leichte Aufgabe, Geschichten zu finden, deren Aussagekraft sich anhand von Archivmaterialien belegen lässt. Die ausgewählten Biografien sollen die Fülle der Lebensentwürfe vor dem Krieg und die unterschiedlichen Formen der Auseinandersetzung mit den Kriegserfahrungen vermitteln. Alle Geschichten haben nur eines gemein: Ihre Protagonist:innen verbrachten einen Teil der Kriegszeit im Lager von Lety, wo man sie aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer angeblichen Wurzeln internierte. Junge Besucher:innen lernen auf diese Weise nicht nur die Verfasserin der einzigartigen Memoiren, Božena Pflegerová, sondern auch den Roma-Partisan Josef Serinek kennen, der aus dem Lager fliehen konnte, oder auch Alžběta Růžičková, die am Ende ihres Lebens in der Lage war, über ihre Haftzeit im Lager von Lety zu sprechen. Ihr Sohn Čeněk wiederum gehörte zu den wichtigsten Verfechtern der Einrichtung einer Gedenkstätte. Oder sie erfahren vom nicht minder wichtigen Schicksal von Františka Šmídová, die als Kind im Lager starb. Ein weiterer zentraler Beweggrund für den Aufbau der Ausstellung war auch die Zusammenarbeit mit den Familien der Überlebenden – auf ihren Wunsch enthält das Bildungsprogramm keine Informationen über das Schicksal der Täter:innen.

Die Bildungsinhalte wurden vor der Eröffnung der Gedenkstätte zunächst von Lehrkräften geprüft. Dabei traten die Herausforderungen und Grenzen eines Bildungsprogramms über den Roma-Holocaust deutlich zutage: Stereotype über Rom:nja sind derart fest in der Gesellschaft verankert, dass sogar Menschen mit Hochschulbildung dazu neigen, historische Quellen auf Grundlage dieser Klischeevorstellungen zu betrachten. Dabei werden die Grenzen einer Gedenkstätte als Ort der Bildung deutlich – die weitverbreitete Unwissenheit von der Geschichte und den Schicksalen der Rom:nja und das Misstrauen zwischen den beiden Gemeinschaften lassen sich nicht in einem mehrstündigen Workshop überwinden. In der Anfangszeit wird die Gedenkstätte also vor allem ein Ort der Begegnung, der Information und der Horizonterweiterung sein. Für spätere Phasen, sobald sich die Gedenkstätte und ihre Bildungsprogramme etabliert haben, sind längere und tiefergehende Programme und Workshops geplant, die sich intensiver mit diesen Vorurteilen auseinandersetzen.

 

Die Geschichte geht weiter

Der Abriss des Schweinemastbetriebs, der Bau der neuen Gedenkstätte und ihre Einweihung am 23. April 2024 sind Meilensteine, die einen grundlegenden Wandel der öffentlichen Wahrnehmung dieses Orts mit seiner wechselhaften Geschichte und zentralen Bedeutung für die Tschechische Republik markieren. Eine Abkehr von der Verleugnung der eigenen Geschichte, von dem Versuch, das Schicksal der eigenen Mitbürger:innen zu vergessen, von Rassismus und Ausgrenzung hin zu Verantwortungsbereitschaft, Mitgefühl und Anerkennung.

Wir hoffen, die neu eröffnete Gedenkstätte wird ihren Platz in unserer Gesellschaft finden und von Menschen aus aller Welt, Schulgruppen und Nachkommen der Überlebenden besucht. Wir hoffen, dass sie hier einen Ort des stillen Gedenkens, der Bildung, Erinnerung und Reflektion finden werden und dass die bedeutsame Geschichte dieses Orts – und der Ort selbst – einen Eindruck bei allen Besucher:innen hinterlassen und ihnen dabei helfen werden, zu verstehen, wohin Vorurteile, Hass und Angst führen. Mit dem Bau der Gedenkstätte ist die Geschichte von Lety u Písku nicht abgeschlossen. Er ist lediglich eine weitere Etappe auf dem Weg hin zu mehr Wissen, Verständnis, Mitgefühl und Handlungsbereitschaft.

Wir freuen uns auf Ihren Besuch.[9]

 

Anna Míšková ist Historikerin am Museum für Roma-Kultur in Brünn. Sie beschäftigt sich mit dem Thema Holocaust an Roma und Sinti und ist Mitautorin der Ausstellungen in der neuen Lety-Gedenkstätte. Sie ist Teil der tschechischen Delegation der IHRA und war 2023 Vorsitzende des Committee on the Genocide of the Roma.Komitees (IHRA).

Karina Hoření ist Historikerin und Soziologin, spezialisiert auf moderne Geschichte und ethnische Beziehungen in Mitteleuropa. Von 2022 bis 2024 arbeitete sie als Pädagogin am Lety Memorial.

 

 

[1]www.romea.cz/en/czech-republic/czech-ex-lawmaker-gets-six-months-suspended-for-one-year-for-his-remark-about-the-wwii-era-concentration-camp-for-roma-at

 

[2] www.romea.cz/en/czech-republic/czech-pm-says-his-vice-pm-is-leeching-off-of-anti-romani-sentiment-and-crossed-the-line-into-nazism

 

[3] Wir verwenden hier das Originalzitat mit den Worten und der Selbstbezeichnung von Pflegerová. Božena Pflegerová, Return Undesired. Unveröffentliche Erinnerungen. Aus den Sammlungen des Museums für Roma-Kultur.

 

[4] Božena Pflegerová, Return Undesired.

 

[5] Weitere Informationen zur Geschichte des Orts siehe Nečas, Ctibor. Holocaust českých Romů. Praha: Prostor, 1999; Horváthová, Jana, ed. ...... to jsou těžké vzpomínky. I. svazek. Brno: Větrné mlýny, Muzeum romské kultury, 2021; www.holocaust.cz/en/history/the-genocide-of-the-roma-and-sinti-during-the-second-world-war/.

 

[6] Eine Reihe mit drei Aufsätzen beschäftigt sich mit der neueren Geschichte des Orts: www.romea.cz/en/czech-republic/lety-after-the-romani-genocide-part-one-local-authorities-wanted-to-build-another-camp-there-for-roma-after-the-war

 

[7] Vařeka, Pavel, ed. Svědectví archeologie o tzv. cikánském táboře v Letech. Brno: Muzeum romské kultury, ZČU, 2022; Vařeka, Pavel. »Archaeology of Zigeunerlager: Results of the 2018–2019 Investigation at the Roma Detention Camp in Lety.« Heritage, Memory and Conflict 3 (10. 5. 2023): 31–38.

 

[8] Alle Informationen zum Wettbewerb sowie die eingereichten Entwürfe siehe www.novypamatniklety.cz/navrhy/vitezny-navrh/.

 

[9] Nähere Informationen siehe www.rommuz.cz/cs/lety-u-pisku/