überLAGERt – lokale Jugendgeschichtsarbeit an Orten ehemaliger KZ-Außenlager in Brandenburg

Ein Modellprojekt von 2018 bis 2021
12/2021Gedenkstättenrundbrief 204, S. 19-31
Emily Koch, Sandra Brenner

Ein Modellprojekt von 2018 bis 2021

Vorgeschichte

Projektvorhaben entstehen oftmals aus Bedarfen heraus, die im Rückblick kurios erscheinen. So war es auch in dem Projektvorhaben "überLAGERt - lokale Jugendgeschichtsarbeit an Orten ehemaliger KZ-Außenlager in Brandenburg" ("überLAGERt"): Zu Beginn der 2000er-Jahre zogen viele Jugendliche aus dem Osten, aus Brandenburg, weg. Dieses Thema bewegte vor allem die Stiftung Demokratische Jugend und es entstand die Idee, Jugendliche durch die Beschäftigung mit Heimatgeschichte an Brandenburg zu binden.

Das Projekt "Zeitensprünge", in dem sich Jugendgruppen aus ganz Brandenburg mit der Lokalgeschichte ihres Ortes beschäftigen, wird seit 2005 durch den Landesjugendring Brandenburg e.V. (LJR) koordiniert. In ihm etabliert sich die Fachstelle Zeitwerk "Beratungsstelle für lokale Jugendgeschichtsarbeit in Brandenburg": sie initiiert und koordiniert Projektformate im Themenfeld lokale Jugendgeschichtsarbeit und bietet darüber hinaus auch Fortbildungen und Beratungen an. Aus dem sozialraumorientierten Jugendprogramm "Zeitensprünge" gehen Projekte historisch-politischer Bildung hervor. Allerdings finden sich nur wenige Gruppen, die zum Nationalsozialismus (NS) in ihrem Ort forschen. Die Vermutung liegt nahe, dass die (erwachsenen) Projektbegleitenden vor Ort unsicher sind und sich nicht an das Thema herantrauen. Demgegenüber steht die Erfahrung aus mehreren Workcamps, dass das Thema NS für Jugendliche gerade auch deshalb spannend ist, weil es tabuisiert wird. Der LJR hat eine gute Kooperation mit der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück und die Idee für das Projekt "überLAGERt" entstand nicht zuletzt, weil die Mitarbeiterin der Pädagogischen Dienste Ravensbrück Angelika Meyer selbst zu den ehemaligen KZ-Außenlagern von Ravensbrück geforscht und eine besondere Sensibilität für den ländlichen Raum hat. Zudem sind die pädagogischen Dienste des Museums und Gedenkstätte Sachsenhausen offen für das Ausprobieren neuer Projektformate.

Grundsätze der lokalen Jugendgeschichtsarbeit

Der Ansatz der lokalen Jugendgeschichtsarbeit verbindet die Prinzipien der Jugendarbeit mit denen der Geschichtsarbeit: Wir verfolgen dabei den Ansatz des "Entdeckenden Lernens". Dieser ist prozess- und nicht ergebnisorientiert. Wir fokussieren ein neugieriges, eigenständiges Lernen. Dies soll durch die längere Dauer von Projekten ermöglicht werden und dadurch auch ein nachhaltiges Lernen fördern. Wichtig bei unseren Projekten ist immer die Freiwilligkeit, die wir vor allem als gegeben sehen, wenn das Projekt im außerschulischen Kontext stattfindet - ohne Leistungsdruck und Noten. Wir wollen erreichen, dass das Projekt partizipativ ist, indem die Jugendliche eigene Ideen miteinbringen und eine eigene Initiative zum Gedenken finden. Diese eigene Initiative umfasst vor allem Formate, die jugendgerechten Charakter haben und zumeist aktionsorientiert sind. Diese Prinzipien der Jugendarbeit verbinden sich mit den bekannten Grundsätzen Multiperspektivität, Kontextualisierung, Kontroversität und dem Überwältigungsverbot aus der Geschichtsarbeit.

Konzept und Praxis des überLAGERt-Projektes

Dem hier vorgestellten Konzept und dem Pilotprojekt gingen eine Phase der Konzeptualisierung seit 2014 und mehrfache gescheiterte Versuche, nennenswerte Mittel über öffentliche Fördermittelgeber einzuwerben, voraus. Erst 2018 gelang es durch die Förderung der Aktion Mensch und weitere privat-wirtschaftliche Stiftungen, in die dreijährige Pilotphase zu starten.

Bedarf des Projektes

Neben den beiden großen ehemaligen Konzentrationslagern (KZ) Sachsenhausen und Ravensbrück gab es im heutigen Brandenburg etwa 60 KZ-Außenlager. Die ehemaligen Lager sind heute oftmals nicht mehr zu erkennen - sie wurden überbaut, umgenutzt oder sie sind mittlerweile überwachsen - überLAGERt. Heute sind sie nahezu unbekannt und unerforscht mit der Ausnahme von einigen Gedenkinitiativen. Bei Letzteren findet zumeist eine Art geglättete Weitergabe des Wissens statt - die Geschichte ist schon verhandelt und so wird die konsensuale Deutung tradiert - neue Forschungsergebnisse könnten das bereits mühsam Verhandelte in Frage stellen. Aus Erwachsensicht wird zudem oftmals nicht bedacht, dass die Aufarbeitung der Geschichte, wenn sie vor 10, 15, 20 Jahren stattgefunden hat, die Generation heutiger Jugendlicher noch nicht erreicht haben kann und von diesen als gegebenes Wissen erfahren wird. Die für die Jugendlichen erstmaligen, grundsätzlichen Fragen sind von den vorherigen Generationen vermeintlich schon beantwortet oder mindestens verhandelt. Vielen Initiativen fehlt das pädagogische Know-how, Jugendliche für die Themen zu interessieren und sie in ihrem Aneignungsprozess zu begleiten. Das offizielle Gedenken wird immer noch zu wenig durch jugendgerechte und kreative Interventionen ergänzt.

Eckdaten des Projektes überLAGERt

Das Projekt überLAGERt des LJR wurde 2017 erstmals als Pilotprojekt durchgeführt und ging, mit einer Unterbrechung, 2018 dann noch mal in eine dreijährige Projektphase, die im Oktober 2021 zu Ende ging. Zuständig war die Fachstelle Zeitwerk des LJR. In dem Projekt begaben sich Jugendliche aus Brandenburg auf lokale historische Spurensuche und erforschten die Geschichte der ehemaligen KZ-Außenlager in Brandenburg. Kooperationspartner und -partnerinnen und Fördergeldgeber waren zum einen die jeweiligen pädagogischen Abteilungen der Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück, das Brandenburger Landesamt für Denkmalpflege, die Stiftung "Großes Waisenhaus zu Potsdam", darüber hinaus auch die F.C. Flick Stiftung, die Kurt und Herma Römer Stiftung und die Aktion Mensch. Das Gesamtfördervolumen betrug knapp 300 000 Euro.

Exemplarischer Ablauf eines Projektes

Die Projektgruppen bekamen vom LJR zu Beginn des Projekts ein Starterset, das Materialen enthielt, die zum Gelingen des Projektes beitragen: Leitfäden zum Umgang mit Quellen, zu Archiven in Brandenburg, Interviewführung und Literatur zum Thema KZ-System. Die Gruppen bekamen in der einjährigen Projektlaufzeit 2 000 Euro Projektbudget, das sie selbst verwalteten und somit entscheiden konnten, was sie damit machen: denkbar war die Finanzierung von Exkursionen oder auch die Finanzierung von Fahrtkosten sowie der Endprodukte - Veranstaltungen, Gedenktafeln, Ausstellungen. Das Projekt richtete sich an 14- bis 23-Jährigen aus dem Land Brandenburg. Die Projektgruppe sollte aus mindestens vier Jugendlichen bestehen. Vor Ort wurden sie durch ehrenamtliche Projektbegleiter und Projektbegleiterinnen unterstützt.

Projektphasen

Die Projekte folgten grob den folgenden vier Projektphasen:

Phase 1 - Geschichte erfragen und den eigenen Standort erkunden. Hierzu wurde in Workshops mit Quellen gearbeitet und Informationen gesammelt.

Phase 2 - Geschichte entdecken: Durch Besuche in den Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen wird die Verbindung zwischen KZ-Außenlager und Konzentrationslager sichtbar.

Phase 3 - Geschichte dokumentieren: in Archiven nach Quellen suchen, Experten und Expertinnen befragen, Zeitzeugen und Zeitzeuginnen befragen.

Phase 4 - Geschichte schreiben: die eigenen Rechercheergebnisse präsentieren.

Spurensuche vor Ort

Während der Spurensuche im Projekt haben die Jugendliche sich beispielsweise folgende Fragen gestellt: Wo befanden sich die Lager und welche Spuren sind heute noch sichtbar? Wer waren die Menschen, die dort von den Nationalsozialisten inhaftiert wurden und Zwangsarbeit leisten mussten? Haben sie überlebt? Warum wurde ein Lager in meinem Ort errichtet? Wie hat sich die ortsansässige Bevölkerung verhalten? Wie wird heute mit der Geschichte umgegangen? Gibt es Zeichen öffentlicher Erinnerung? Wie wollen wir erinnern?

Ziel des Projektes

Das Modellprojekt überLAGERt sollte die Jugendlichen dazu befähigen, Erinnerungskultur aktiv mitzugestalten und sie darin bestärken, als Akteure und Akteurinnen in Diskursen aufzutreten sowie die gesellschaftliche Aufarbeitung der NS-Geschichte in einem östlichen Bundesland anzugehen.

Während der Projekte sollten die teilnehmenden Jugendlichen durch eigene Recherchen den Zusammenhang von Mechanismen der Abwertung, Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten mit solchen von Machtempfinden, Gruppenzwang und "Duckmäusertum" verstehen. Die Jugendlichen sollten die Möglichkeit erhalten, ihr lokales Kontextwissen einbringen zu können, welches ihnen den Zugang zu Interviewpartnern und -partnerinnen und noch nicht entdeckten Quellen ermöglichen sollte.

Umsetzung in den überLAGERt-Gruppen - landesweite Koordination mit Begleitangeboten

Die Fachstelle Zeitwerk hat während der Projektlaufzeit von überLAGERt die landesweite Koordination des Vorhabens sowie die Planung, Umsetzung und Evaluierung der Begleitangebote für die überLAGERt-Gruppen verantwortet. In einem ersten Schritt haben sich die überLAGERt-Gruppen, zumeist der Projektbegleiter oder die Projektbegleiterin, beim LJR gemeldet und dann eine Beratung durch die Mitarbeitenden der Fachstelle Zeitwerk erhalten. In einem idealen Projektjahr wurde dann ein Auftaktworkshop mit allen überLAGERt-Gruppen durchgeführt, sodass sich die Projektbegleitenden und Jugendlichen untereinander kennenlernen und ihr Forschungsinteresse vorstellen konnten. In der Praxis sind Gruppen auch im laufenden Projektjahr zu uns gestoßen und wir haben auf deren Bedarfe flexibel mit Projektbesuchen und Workshops reagiert. Einige Gruppen waren so sehr dabei, dass wir sie über mehrere Projektjahre unterstützen konnten. Eine Gruppe hat nach dem ersten Projektjahr selbstständig weitergeforscht, erinnert und präsentiert. Die überLAGERt-Gruppen haben sich regelmäßig zu Teamtreffen vor Ort verabredet, um gemeinsam zu recherchieren und an der Projektpräsentation zu arbeiten. Die Mitarbeitenden des Zeitwerks haben die Projekte kontinuierlich begleitet: sowohl durch Projektbesuche vor Ort, durch regelmäßige Projektbegleitenden-Treffen, durch die Koordination und Begleitung von Gedenkstättenbesuchen und weiteren Exkursionen. Durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie wurden zunehmend auch Online-Workshops zu Themen durchgeführt, die die teilnehmenden Jugendlichen nachgefragt haben. Die Gruppen haben sich in unterschiedlicher Weise vor Ort an Gedenk- oder öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen beteiligt. Eine gemeinsame Abschlussveranstaltung im September 2021 wurde in Präsenz durchgeführt.

Lokale Forschung in den Gruppen

An dem Projekt überLAGERt haben im Pilotprojekt 2017 Gruppen aus Bad Belzig, Lauchhammer, Königs Wusterhausen, Cottbus und Grüneberg teilgenommen. Zwischen 2018 und 2021 haben sich insgesamt acht Gruppen aus Grüneberg, Eisenhüttenstadt, Perleberg, Cottbus, Perleberg, Bernau, Wildau und Fürstenwalde/Spree beteiligt. Es gab weiteres Interesse von Trägern der Jugendhilfe, die jedoch nicht genügend Jugendlichen für eine Gruppe zusammen bekamen. Die Projektlaufzeit der einzelnen beteiligten Gruppen variierte von zwei Monaten bis drei Jahren.

Im Folgenden werden einige Gruppen exemplarisch vorgestellt:

Grüneberg

Die Gruppe aus Grüneberg hat bereits in der Pilotphase 2016 zu ihrem Ort geforscht und seit 2018 aufbauend auf den damaligen Forschungen zum ehemaligen KZ-Außenlager in ihrem Ort die Veranstaltungsreihe "Grüneberg liest" als Erinnerungsformat etabliert sowie einen Actionbound gestaltet und programmiert. In diesem interaktiven Guide sind vielfältige Forschungsergebnisse in Form von Berichten, Bildern und Videos zusammengetragen. Die Gruppe war zu Gesprächen mit Zeitzeuginnen in Ljubljana und hat eine Gedenktafel initiiert.

Welche Art der Zwangsarbeit mussten die Inhaftierten leisten?

"Die Häftlingsfrauen mussten 12-Stunden-Schichten in der Grüneberger Munitionsfabrik leisten. Das Gedenkzeichen soll an sie erinnern. Die Form eines Patronenhülsenbodens weist auf die Herstellung von Infanteriegeschossen in der Munitionsfabrik hin. Das Gedenkzeichen wurde anlässlich des 76. Jahrestages der Befreiung an der Gedenkmauer der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück angebracht." Tony S., Projektteilnehmer

Welche Hürden gab es im Projekt?

"Schwer war das ganze Thema, es ist im Dorf nicht so beliebt. Wir haben die Ecken und Kanten dieser Aufarbeitung gespürt. Ein nächstes Projekt würde die Dorfbevölkerung stärker mit einbeziehen." Ruth-Barbara S., Projektbegleiterin

Perleberg

Die Jugendgruppe aus Perleberg forschte zum frühen Konzentrationslager vor Ort, an dessen Standort sich heute ein DDR-Museum befindet. Die Gruppe hat an Exkursionen teilgenommen und Nachfahren ausfindig machen können. Die Einschränkungen durch Corona haben die Arbeit an dem Projekt und in der Gruppe sehr erschwert. In Zusammenarbeit mit einem Filmemacher ist ein Dokumentarfilm zur Arbeit der Gruppe entstanden.

Wie habt ihr vor Ort recherchiert?

"Wir haben vor Ort im Stadtarchiv und in der Bibliothek recherchiert, Gespräche mit den Verantwortlichen im DDR-Museum sowie des Stadt- und Regionalmuseums Perleberg und mit Familienangehörigen der Inhaftierten geführt und eine Umfrage unter Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Wissen zum KZ Perleberg durchgeführt." Jessika M., Projektbegleiterin

"Besonders berührt hat mich das Interview mit dem Angehörigen des Inhaftierten." Leo B., Projektteilnehmer

Eisenhüttenstadt

Die überLAGERt-Gruppe Eisenhüttenstadt gründete sich aus der Jugendfeuerwehr. Gegenüber der neuen Feuerwache befand sich das Außenlager sowie das Stalag IIIB, was die Jugendlichen dazu brachte, sich mehr mit dem Ort auseinanderzusetzen. Sie nahmen ebenfalls an Exkursionen und Workshops teil, trafen Experten und recherchierten in Archiven und Museen. Zu Beginn des Projektes wussten die Jugendlichen nur, dass sich an dem Standort ein Lager befunden hat - dass es sich um ein Kriegsgefangenenlager handelt, fanden sie erst während des Projektes heraus.

Warum engagiert ihr euch in dem überLAGERt-Projekt?

"Auf dem Übungsgelände unserer Feuerwehr befand sich das ehemalige Stammlager IIIB, in dem bis 1945 mehr als 100 000 Menschen interniert waren und Zwangsarbeit leisten mussten. Man versucht, sich das vorzustellen, was hier passiert ist. Es ist schon ein komisches Gefühl, an diesem Ort zu trainieren. Es ist wichtig, sich mit der Geschichte von seinem Ort zu beschäftigen. Schade, dass das in der Schule nicht passiert." Niklas K., Projektteilnehmer

Bernau

Über das Netzwerk des LJR hat sich der Kontakt zum Humanistischen Verband Bernau und einer engagierten Projektbegleiterin entwickelt. Die Jugendlichen machten eine Fahrradtour auf den Spuren des ehemaligen Außenlagers in Bernau und besuchten das NS-Dokumentationszentrum, um Methodiken der Erforschung einer Biografie kennenzulernen. Das ehemalige Außenkommando, das dem Konzentrationslager Sachsenhausen unterstellt war, ist kaum erforscht. In der wenigen Literatur werden jedoch gleich mehrere mögliche Standorte genannt, so zum Beispiel die ehemalige SD-Führerschule auf dem heutigen Gelände des Bauhaus-Museums Bernau.

Was war besonders schwer im Projekt?

"Der genaue Ort des Außenkommandos und weitere Informationen sind noch nicht erforscht. Wir haben die Beschreibungen des Außenkommandos in den Zeugenaussagen gesammelt und anhand dieser Kriterien mögliche Orte in und um Bernau gesucht. Die Lockdowns während der Corona-Pandemie 2020/21 haben leider zu einem Kontaktabbruch in der Gruppe und zum Abbruch des Projektes geführt." Projektbegleiterin Charlotte Wilke

Fürstenwalde

Mit dem Fürstenwalder Fuchsbaubunker und seiner Geschichte zur Zeit der DDR hat sich die Gruppe im Jahr 2019/2020 bereits innerhalb des Jugendprogramms "Zeitensprünge" beschäftigt. Über diese Recherchen haben sie auch Hinweise darauf erhalten, dass der Bunker zu NS Zeiten von Zwangsarbeitern erbaut werden musste. Den Kontakt zum LJR hatte ein engagierter Jugendlicher gesucht, nachdem er über Instagram auf das Projekt aufmerksam wurde. Der dortige Sozialarbeiter war von Anfang an den Ideen der Jugendlichen gegenüber sehr aufgeschlossen und hat sich inzwischen zu einem Motor für die lokale Jugendgeschichtsarbeit vor Ort entwickelt.

Worüber wolltet ihr etwas herausfinden?

"Wir wollten die Entstehung der Bunkeranlage durch NS-Zwangsarbeit erforschen. Mithilfe des Buchs von Odd Magnussen, einem ehemaligen norwegischen Häftling, und durch Besuche der Anlage haben wir vor Ort recherchiert." Dominik L., Projektteilnehmer

Wildau

Im Juni 2021 haben Schüler und Schülerinnen einer 8. Klasse aus Wildau eine Projektwoche zum Thema Zwangsarbeit in Wildau umgesetzt. Die Jugendlichen machten sich auf die Suche nach Spuren von Zwangsarbeit in Wildau, besuchten das NS-Dokumentationszentrum Schöneweide und sprachen mit Experten. Die jungen Menschen erstellten Schablonen mit Zitaten von Menschen, die Zwangsarbeit in Wildau leisten mussten. Diese brachten sie mit Sprühkreide auf dem Gelände der TH Wildau an, dem Standort der ehemaligen Fabrik, in der Zwangsarbeit geleistet werden musste.

Ebenfalls ist eine Kurzdokumentation der Projektwoche entstanden:

www.youtube.com/watch?v=BYVnMYXo_V8

Ergebnisse und Fazit - Potenziale

Fokus: lokale Ebene

Auf der lokalen Ebene birgt das Projekt überLAGERt das Potenzial, dass Jugendliche Kontextwissen zu ihrem Ort mitbringen. Auch der Zugang zu Quellen ist oft leichter, da den Jugendlichen gegenüber mit weniger Skepsis begegnet wird und ältere Menschen sich oft freuen, wenn die Jugend sich für ihre Geschichte interessiert.

Des Weitern findet das Projekt in der unmittelbaren Lebenswelt der Jugendlichen statt, und so haben sie einen Bezug zum Thema - es ist greifbarer. Sie trauen sich eher, Themen kritisch zu hinterfragen: unmittelbare Nachbarschaft versus "man habe von nichts gewusst". Die lokale Ebene kann ein Ansatz sein, der abstrakten Zahl von Millionen Opfern des Nationalsozialismus ein Gesicht zu geben, indem Ereignisse und Biografien vor Ort recherchiert werden. Durch die Veröffentlichung einer Onlinekarte, mit den nach heutigem Stand bekannten ehemaligen KZ-Außenlagern in Brandenburg, weiteren Orten und digitalen Sammlungen auf www.ueberlagert.de wird weiteres lokales Forschungspotenzial aufgedeckt und aktiviert.

Fokus: Jugendarbeit

Mit dem Fokus auf das Potenzial für die Jugendarbeit in dem Projekt überLAGERt stärkt die aktive Teilnahme an dem Projekt das Geschichtsbewusstsein und Engagement der Jugendlichen nachhaltig und gibt ihnen die Möglichkeit, sich im öffentlichen Raum zum Thema Nationalsozialismus zu positionieren. Die Jugendlichen eignen sich Wissen an, beschäftigen sich mit eindeutigen und uneindeutigen Opfern und (Mit-)Tätern und (Mit-)Täterinnen, sie finden Raum für das Ausloten eigener Positionen, mischen sich in lokale Diskurse ein, gestalten Erinnerungskultur im ländlichen Raum Brandenburgs aktiv mit, statt passive Empfänger oder Empfängerinnen zu sein. Die jungen Menschen finden unter Anleitung Zugänge zu kreativen Ansätzen der Erinnerung, statt das unhinterfragte, ritualisierte Gedenken zu reproduzieren oder aber, nutzen das ritualisierte Gedenken bewusster nach der eigenen Auseinandersetzung damit. Vor diesem Hintergrund wurde die Qualität der Projekte nicht anhand eines Ergebnisses oder eines Produktes, sondern anhand eines gelungenen Beteiligungsprozesses beurteilt.

Fokus: Erinnerungskultur

Potenziale für die Erinnerungskultur finden sich im Zugänglich-Machen von "Laien"-Wissen, was oftmals mit einer Übersetzungsleistung verbunden ist: denn das, was Historikern und Historikerinnen oft leicht zugänglich scheint, wie die Kenntnis unterschiedlicher Sammlungen, muss in ehrenamtlichen Jugendprojekten erst als grundsätzliche Kompetenz in der Kenntnis von Recherchewegen erlernt werden. Weiterhin wurden durch das Projekt bestehende oft informelle Netzwerke zur Geschichtsarbeit vor Ort sichtbar und aktivieren somit die Erinnerungskultur und -politik vor Ort. Nicht zuletzt wird der gemeinsame Austausch und das Wohlwollen zwischen den Akteuren und Akteurinnen gestärkt.

Fokus: langfristige Begleitung

Ein besonderes Potenzial des Projektes überLAGERt liegt in der institutionellen Grundförderung der Beratungsstelle Zeitwerk des LJR, die mit ihren Mitarbeitenden seit 2005 als verlässliche Ansprechpartnerin in Brandenburg Vorhaben im Bereich Jugendgeschichtsarbeit initiiert und begleitet. Projektpartner und -partnerinnen werden als langfristige Netzwerkpartnerschaften vor Ort betrachtet und nicht in der Logik zeitlich abgegrenzter Förderungen. Daher haben Umsetzungen von Projekten vor Ort in der Zusammenarbeit auch eher den Charakter von Vorhaben, sodass aus einem abgeschlossenen Projekt möglichst sinnvoll anschlussfähige neue Projekte entstehen können. Weiterhin ist das Selbstverständnis der Arbeit im Landesjugendring nie nur die reine Vermittlungsarbeit, sondern immer auch die Stärkung und das Bewusstmachen der Möglichkeiten lokalen Engagements.

Hier wird's schwierig - Forschung versus Auseinandersetzung

Die praktische Arbeit der Projekte vor Ort barg unterschiedliche Herausforderungen und Hürden: Projektbegleitende und Jugendliche gingen nicht immer mit denselben Motivationen in die gemeinsame Projektarbeit. So hatten Projektbegleitende einen Fokus auf dem Vorantreiben der Forschung zum NS vor Ort, während die Jugendlichen sich zunächst auf der Ebene einer ersten Auseinandersetzung mit der NS-Zeit vor Ort beschäftigen wollten. Weiterhin findet überLAGERt im außerschulischen Bereich statt, sodass die Arbeit in der Projektgruppe mit anderen Freizeitaktivitäten wie Sport-AG oder Freunde und Freundinnen treffen konkurriert. Der Wunsch nach schnellen Forschungserfolgen und guten Quellen steht oft der Unmittelbarkeit des Zugangs zu Quellen gegenüber. Der Frust der Projektbeteiligten ist entsprechend groß, wenn sich keine Quellen oder Interviewpartner und -partnerinnen vor Ort finden.

Eine gemeinsame Struktur finden

Auf der Ebene der Gruppe müssen die Lebenswelten und -realitäten der Jugendlichen mitbedacht werden: Wie kann sinnvoll mit Fluktuation in der Gruppe umgegangen werden, auch vor dem Hintergrund fester Projektzeiträume? Wie können gemeinsame Termine gefunden werden, die für die jungen Menschen verbindlichen Charakter haben? Wie kann mit der plötzlichen Umstellung auf Onlinetreffen umgegangen werden, wenn Beschränkungen aufgrund einer Pandemie Vor-Ort-Treffen verbieten? Hier kann unter anderem bei den Projektbegleitenden angesetzt werden, die mit sehr verschiedenen Motivationen, pädagogischen Vorerfahrungen und historischen Vorkenntnissen in diese Rolle gekommen sind. Eine Stärkung jeweils der Expertisen, in denen noch nicht so viele Vorerfahrungen vorhanden sind in Form von Weiterbildungsangeboten und Einzel- sowie kollegialer Supervision wurde im Rahmen von überLAGERt angeboten, eine projektbegleitende Supervision tatsächlich aber nur einmal in Anspruch genommen.

Äußere Erwartungen

Hinzu kommen äußere Erwartungen, dass die Jugendlichen etwas herausfinden sollen, das vorher noch niemand wusste. Erwachsene bedenken oft nicht, dass für die Jugendlichen ein sehr großer Anteil des historischen Wissens neu ist. In der Arbeit vor Ort kann es auch ein "Zuviel" Erinnerung an den NS geben - Menschen vor Ort wollen, auch wenn sie dem Thema gegenüber aufgeschlossen sind, weil sie etwa selbst traumatische Kindheitserinnerungen haben, auch über eigene Biografien sprechen, weil sie geflüchtet sind, umgesiedelt wurden, bespitzelt wurden und so weiter. Damit laufen die Projekte die Gefahr, dass die Menschen vor Ort "dicht machen"; insbesondere im ländlichen Raum, in welchem es anders als in der Stadt, nur wenige Ausgleichsmöglichkeiten gibt. Ist in einem Ort etwas Thema, dann ist es dort das Thema schlechthin, es wird auch informell zwischen den Bewohnern und Bewohnerinnen besprochen, unabhängig von erinnerungskulturellen Veranstaltungsformaten.

Materialien

Im Rahmen des Projektes überLAGERt sind verschiedene Materialien entstanden, die sowohl Fachkräfte als auch Jugendliche darin unterstützen sollen, im Bereich der lokalen Geschichtsarbeit aktiv zu werden. Anspruch bei der Entwicklung dieser Materialien ist es uns gewesen, den Nutzer und Nutzerinnen ein "gleich loslegen" zu ermöglichen.

Online-Karte

Gemeinsam mit unseren Kooperationspartnern haben wir ein Online-Karte erstellt, in der alle uns bekannten Außenlager verzeichnet und mit Informationen versehen sind. Die Standorte sind farblich markiert, unterschiedlich danach, ob sie zu Sachsenhausen oder Ravensbrück gehören. Die Karte ist auf www.ueberlagert.de zu finden. Die Karte greift im Wesentlichen auf die Publikationen von Wolfgang Benz und Barbara Diestel "Der Ort des Terrors" zurück. Die 2005 erschiene Sammelreihe ist eine der wenigen Quellen mit Grundlageninformationen in unserem Zusammenhang.

Handreichung zur lokalen Geschichtsarbeit

"Was noch erinnert werden kann ... Handreichung zur lokalen Geschichtsarbeit" ist eine Handreichung für Menschen, die vor Ort mit Jugendlichen lokale Jugendgeschichtsprojekte umsetzen (wollen). Die Handreichung kann online heruntergeladen oder kostenfrei hier bestellt werden:

www.ljr-brandenburg.de/zeitwerk/ueberlagert-lokale-jugendgeschichtsarbeit-an-orten-ehemaliger-kz-aussenlager-in-brandenburg-2/ueberlagerte-geschichte-weitertragen

Logbuch zur NS-Geschichte vor Ort

Das "Logbuch zur NS-Geschichte vor Ort" ist ein Blog mit verschiedenen gestalteten Arbeitsblättern, der sich an Jugendliche richtet und mit dem NS-Geschichte vor Ort erkundet werden kann. Das Logbuch kann online heruntergeladen oder kostenfrei hier bestellt werden:

www.ljr-brandenburg.de/zeitwerk/ueberlagert-lokale-jugendgeschichtsarbeit-an-orten-ehemaliger-kz-aussenlager-in-brandenburg-2/ueberlagerte-geschichte-weitertragen

Fragen fragen - Das Kartenspiel für gute Gespräche

Das Kartenspiel "Fragen fragen - Das Kartenspiel für gute Gespräche" ist ein Fragespiel in leichter Sprache, das als intergenerationeller Einstieg für Gespräche über die Vergangenheit genutzt werden kann. Das Kartenspiel kann online heruntergeladen oder kostenfrei hier bestellt werden:

www.ljr-brandenburg.de/zeitwerk/ueberlagert-lokale-jugendgeschichtsarbeit-an-orten-ehemaliger-kz-aussenlager-in-brandenburg-2/ueberlagerte-geschichte-weitertragen

Fortsetzung des Pilotprojektes als Jugendguide-Ausbildung

Ausbildung: Jugendguide zur NS-Geschichte vor Ort

Im Anschluss an das Projekt überLAGERt werden Jugendliche und junge Menschen ab Januar 2022 in einer Ausbildung die Möglichkeit erhalten, sich selbst zu Jugendguides zur NS-Geschichte vor Ort ausbilden zu lassen. Die Ausbildung richtet sich an Jugendliche von 14 bis 23 Jahren, die in Brandenburg leben und sich für die Auseinandersetzung mit NS-Geschichte in ihrem Ort interessieren, mitreden und ihr Wissen mit anderen teilen wollen. Die etwa 90 Stunden umfassende Ausbildung befähigt die Jugendlichen dazu, für ein Publikum eigene Rundgänge, Veranstaltungen und Aktionen zu lokaler NS-Geschichte zu gestalten. Darüber hinaus soll die Teilnahme durch das Knüpfen von Kontakten zu lokalen Gedenk- und Erinnerungsinitiativen zu langfristigem Engagement anregen.

Fokus der Ausbildung

Jugendliche können mit dieser Ausbildung Wissen zu den vielfältigen Bezügen lokaler NS-Geschichte erwerben und dieses Wissen an Gleichaltrige und weitere Zielgruppen vermitteln. Dies umfasst ehemalige Außen- und KZ-Stammlager, frühe Konzentrationslager, Kriegsgefangenenlager, Hachschara-Stätten, Orte und Formen von Zwangsarbeit, Todesmärsche, Bücherverbrennung, jüdische Friedhöfe, Orte ehemaliger Synagogen, Denkmäler, Erinnerungsstelen, Informationstafeln und generell Spuren jüdischen Lebens. Innerhalb der Ausbildung erlangen die Jugendlichen in verschiedenen Bausteinen und Prozessen Kenntnisse und Handlungskompetenzen bspw. in den Bereichen Methoden, Kommunikations- und Gruppenprozesse, Lebenswelten Jugendlicher sowie Rechtsfragen. In spezifisch regionalen bzw. gedenkstättenorientierten Bausteinen werden lokale Ansätze zur Aneignung und Weitergabe von Wissen vermittelt. Fachlich begleitet wird die Projektarbeit von der Beratungsstelle Zeitwerk im Landesjugendring Brandenburg e.V. sowie dem neu gegründeten Netzwerk "Erinnerungsschmiede" (Arbeitstitel), in welchem u.a. auch die pädagogischen Dienste der Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen vertreten sind.

Fazit: Für uns war die Zusammenarbeit mit den Gedenkstätten extrem wichtig. Ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen waren für uns und die Jugendgruppen unmittelbar und flexibel ansprechbar. Wir konnten Sie in allen historischen Belangen fragen, uns bei Unklarheiten versichern oder auch unsere Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, wie wenig dann doch erforscht oder in der Öffentlichkeit bekannt ist. Erinnerungsarbeit geht weiter, in der lokalen Spurensuche und der Aushandlung um die öffentliche Erinnerung vor Ort liegt viel Potenzial, (ehrenamtliche) Erinnerungsakteure und -akteurinnen helfen Träger- und Netzwerkstrukturen und es gilt, neue Generationen mitzunehmen.

 

Sandra Brenner, (Dipl. Sozialpädagogin, systemische Coach), hat ihre Kindheit und Jugend im ländlichen Brandenburg verbracht. Sie leitet seit 2005 den Fachbereich "Zeitwerk" im Landesjugendring e.V. und koordiniert damit über die Jahre eine große Bandbreite an Jugendgeschichtsprojekten: Jugendprogramm "Zeitensprünge", (deutsch-polnische) Workcamps, "Aktion Wimpernschlag", "Du bist Geschichte", "Im Schatten des Lichtkegels", "Meine, Deine, unsere Geschichte", Jugendprojekt "überLAGERT- lokale Jugendgeschichtsarbeit an Orten ehemaliger KZ-Außenlager in Brandenburg", sowie aktuell: "Jugendguide zur NS-Geschichte vor Ort", "Unterm Radar - Jugend.Macht.Geschichte".

Emily Koch, (Medienwissenschaftlerin, Fachkraft für Kulturelle Bildung) ist seit 2021 Jugendgeschichtsreferentin in der Fachstelle "Zeitwerk" im Landesjugendring Brandenburg e.V. und hat das Projekt "überLAGERT- lokale Jugendgeschichtsarbeit an Orten ehemaliger KZ-Außenlager in Brandenburg" begleitet, sowie aktuell die Juleica-Ausbildung "Jugendguide zur NS-Geschichte vor Ort".