»Voll Opfer?«

Ein viertägiger Geschichts- und Kunst-Workshop für junge Menschen
06/2021Gedenkstättenrundbrief 202, S. 39-43
Andrea Hoffend und Marie Kämpf

Ein viertägiger Geschichts- und Kunst-Workshop für junge Menschen

Ansatz, Idee und Umsetzung

»Du Opfer!« zählt seit Jahren zu den gängigsten Beschimpfungen auf deutschen Schulhöfen. Der Begriff ›Opfer‹ löst demnach bei Jugendlichen nicht mehr automatisch Gefühle von Mitleid und Empathie aus, sondern wird bewusst eingesetzt, um Schwächere zu demütigen und zu beleidigen. Dadurch – so Stephan Voß – versichern Jugendliche sich ihrer eigenen Identität und bringen zugleich unbewusst die Angst zum Ausdruck, selbst in die Opferrolle versetzt zu werden.[1] Diese Umdeutung des Begriffs geht eng mit der Tendenz zur Täter-Opfer-Umkehr einher: Durch ›Victim Blaming‹ wird den Opfern selbst die Schuld an der sie schädigenden Tat zugeschrieben.

Der Opfer-Begriff bietet damit einen idealen Ansatzpunkt, um junge Menschen mit dem Thema ›Nationalsozialismus‹ einerseits sowie mit heutigen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit andererseits zu konfrontieren und sie auf diese Weise dafür zu sensibilisieren. So kann ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, was es in der Vergangenheit bedeuten konnte, zum Opfer zu werden, und was es heute bedeuten kann:

Wann und wie werde ich zum Opfer? Welche Handlungsmöglichkeiten habe ich als Opfer? Kann ich Opfer und trotzdem mutig sein? Im Zuge eines kunstpädagogischen Ansatzes wollte das Team des Projekts Lernort Kislau jungen Menschen einen niederschwelligen Zugang zu all diesen Fragen bieten und ihnen eine gegenwartsbezogene Auseinandersetzung mit der historischen Dimension der Thematik ermöglichen.

Denn durch eigenes künstlerisches Schaffen – so die zugrunde liegende Idee – eröffnet sich nicht nur die Möglichkeit, sich der NS-Vergangenheit empathisch anzunähern, sondern auch ein Weg, Geschichte zu reflektieren, ohne der Gefahr einer falschen Identifikation mit Verfolgungsopfern zu erliegen.[2] Durch die Ergänzung faktenbasierter Bildungsarbeit um die Dimension der bildenden Kunst lassen sich zudem Zielgruppen erreichen, die sich von herkömmlichen didaktischen Konzepten eher selten angesprochen fühlen – darunter etwa bildungsschwache junge Menschen sowie junge Menschen mit Migrationshintergrund.[3]

Nachdem der Landkreis Karlsruhe dankenswerterweise die Option geschaffen hatte, diese Idee im Zuge einer ›Partnerschaft für Demokratie‹ im Rahmen des Bundesprogramms ›Demokratie leben!‹ zur Umsetzung zu bringen, konnte es an die Vorbereitungen für einen viertägigen Geschichts- und Kunst-Workshop gehen, der schließlich in den Sommerferien 2020 stattfand.

Ein Methodenmix aus Geschichtsvermittlung, Antidiskriminierungsarbeit und Kunstpädagogik eröffnete den – leider ausschließlich weiblichen – Teilnehmerinnen die Gelegenheit, sich gedanklich wie künstlerisch mit Mechanismen von Ausgrenzung und Diskriminierung sowie mit Formen und Folgen mutigen Handelns in Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzusetzen. Im Mittelpunkt stand dabei nicht die Vermittlung historischer Fakten und Details, sondern die Schärfung des historischen und sozialen Urteilsvermögens sowie der Fähigkeit, individuelle wie gesamtgesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten zu erkennen.

Auseinandersetzung mit der historischen Dimension

Um der historischen Dimension des Workshop-Themas Rechnung zu tragen, wurde dieser in unmittelbarer räumlicher Nähe zur Schlossanlage Kislau realisiert, in der von 1933 bis 1939 ein Konzentrations- und Bewahrungslager untergebracht war. Seit dem Frühjahr 1934 war Kislau das einzige KZ im damaligen Land Baden. In den sechs Jahren seines Bestehens waren dort mehr als 1 500 Männer inhaftiert. Wie kein anderer Ort in Baden steht Kislau damit für den Übergang von einem rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesen in ein Unrechtssystem. Am historischen Ort selbst gibt es bislang keine Räumlichkeiten, die für die historisch-politische Bildungsarbeit genutzt werden können: Die Schlossanlage dient heute als Justizvollzugsanstalt. Das Vorhaben, auf einem angrenzenden Grundstück einen Lernort-Neubau zu errichten, konnte aus Kostengründen noch nicht realisiert werden. In der lichten Aula einer nahegelegenen Schule fand sich eine geeignete Räumlichkeit für die Durchführung des Workshops.

Ausgehend vom titelgebenden Begriff ›Opfer‹, erschlossen sich die Teilnehmerinnen an den ersten beiden Vormittagen die historischen Hintergründe. Eine Führung rund um die Kislauer Schlossanlage bot den Einstieg und half ihnen dabei, ein Gespür für den Ort zu entwickeln. Mithilfe biografischer Mappen, die je eine Kurzbiografie mit Zitaten, Fotos sowie Kopien von Häftlingskarteikarten, Verwaltungsakten und zeitgenössischen Zeitungsartikeln enthielten, konnten sich die Teilnehmerinnen die Lebenswege und Verfolgungsschicksale ausgewählter Kislauer KZ-Häftlinge erschließen. Über die Ergebnisse ihrer Recherchen tauschten sie sich ebenso aus wie über die Frage, inwiefern sich die im Konzentrationslager erfahrenen Demütigungen auf das spätere Handeln dieser Männer ausgewirkt haben könnten. Die individuelle Auseinandersetzung mit einzelnen Biografien sollte ihnen dabei helfen, die Männer eben nicht nur als wehrlose Opfer, sondern als couragierte und aktiv handelnde Menschen zu begreifen.

Im direkten Anschluss diskutierten die Teilnehmerinnen miteinander sowie mit den beteiligten Kunstschaffenden über die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ›Opfer‹ und die Assoziationen, die sie damit verbinden. Ebenso reflektierten sie die heutige Verwendung des Begriffs in der Jugendsprache und schilderten Erfahrungen aus ihrem eigenen schulischen und außerschulischen Alltag: Der Begriff werde durch Umdeutung verharmlost und jeglicher Empathie entkleidet, durch seine beleidigende Konnotation werde Opfern ihre eigene vermeintliche Schwäche vor Augen geführt. Fast alle Teilnehmerinnen berichteten zugleich, dass der Begriff nicht ausschließlich für die Abwertung und Verhöhnung Schwächerer oder Hilfloser stehe, sondern auch in freundschaftlich-scherzhafter Absicht in der eigenen Peer Group Verwendung finden könne.

Reflexion und Abbau von Diskriminierungsmechanismen durch Anti-Bias-Arbeit

Um den Begriff ›Opfer‹ in all seinen Dimensionen beleuchten zu können, sollten im Rahmen des Workshops auch Übungen aus der Anti-Bias-Arbeit zum Einsatz kommen. Dieser Ansatz verfolgt den Zweck, Menschen ihre gesellschaftlichen Zugehörigkeiten und die damit einhergehenden Einflüsse auf das eigene Werte- und Verhaltensmuster zu verdeutlichen, um auf dem Wege der Selbstreflexion diskriminierende Sichtweisen aufzuzeigen und schließlich abzubauen.[4] Darüber hinaus soll letztlich auch ein Bewusstsein für die Notwendigkeit geschaffen werden, die Gesellschaft aktiv in humanistischem Sinne mitzugestalten.[5] Im Rahmen eines rund dreistündigen Trainings konfrontierte eine Anti-Bias-Expertin die Teilnehmerinnen des Workshops mit Gruppenübungen und Diskussionsrunden zu Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmechanismen in der Gegenwart. Mit ihrer Unterstützung erarbeiteten die Jugendlichen und jungen Erwachsenen Argumentations- und Handlungsstrategien, um sich im eigenen Alltag wie im gesamtgesellschaftlichen Kontext Diskriminierungen entgegenzustellen.

Künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema

Die ersten drei Nachmittage des Geschichts- und Kunst-Workshops sowie der gesamte letzte Tag standen ganz im Zeichen der gemeinsamen kreativen Arbeit. Für die gestalterischen Programmpunkte konnten Künstlerinnen und Künstler aus der Gemeinde Bad Schönborn gewonnen werden, auf deren Gemarkung Kislau heute liegt. Damit wurde nicht nur eine weitere Verbindung zum Ort, sondern auch zum lokalen bürgerschaftlichen Engagement hergestellt.

Eingangs der künstlerischen Arbeit kam eine Technik zum Einsatz, die die Selbstwahrnehmung fördern sollte: Angeleitet durch einen Künstler, erstellten die Teilnehmerinnen mit geschlossenen Augen Selbstporträts und lenkten so ihre Aufmerksamkeit auf das Wesentliche. Darüber hinaus fertigten sie gemalte ›Selfies‹ an – Bilder, auf denen sie sich so darstellen sollten, wie sie sich selbst gerne sehen.

Im Weiteren animierte eine Künstlerin die Teilnehmerinnen dazu, Kunst und Musik in Form von Notationen miteinander zu verbinden. Zunächst galt es, Lieder auszuwählen, die sich mit ›Opfer sein‹, Zivilcourage und Mut befassen. Die Teilnehmerinnen entschieden sich für ›Imagine‹ von John Lennon, ›Aufstehn‹ von der Heidelberger Alternative-Band Irie Révoltés, ›Aber‹ von dem Deutsch-Rapper Eko Fresh und ›Sag nein‹ von den Song-Poeten Wie Ihr. Abermals mit geschlossenen Augen brachten sie dann die Eindrücke, die sie beim Hören der Lieder gewannen sowie die Assoziationen, die diese bei ihnen auslösten, mit Kohlestiften zu Papier.

Über mehrere Nachmittage hinweg fertigten die Teilnehmerinnen zudem individuelle Arbeiten aus Gesteinsmehlen an, die jeweils um einen von ihnen frei wählbaren Begriff kreisen sollten. ›Freiheit‹, ›Toleranz‹, ›Zivilcourage‹ und ›Erkenntnis‹ – so lauteten die Begriffe, die sich schließlich auf den Werken fanden.

Aus mitgebrachten Zeitungsartikeln, Zitaten und Bildern sowie mit reichlich Farbe entstanden darüber hinaus über mehrere Tage hinweg nach und nach großformatige Gemeinschaftscollagen. Die gemeinsame Auswahl der aufzuklebenden Ausschnitte und Motive bot steten Anlass für Diskussionen über deren Bedeutung sowie über deren Wirkung. Im Ergebnis standen vier Bildkompositionen rund um die Themen ›Opfer‹, ›Mut‹, ›Zivilcourage‹ und ›Widersprechen‹. Das eigene künstlerische Schaffen hielt für die Teilnehmerinnen ein enormes Potenzial bereit, um sich gemeinsam wie individuell produktiv mit dem emotionalen Thema ›Opfer sein‹ auseinanderzusetzen. Der stetige Aushandlungsprozess um Inhalte und Bedeutungen der Gemeinschaftscollagen schulte zudem soziale Kompetenzen und erhöhte die Akzeptanz für andere Herangehensweisen, Bedeutungskonstruktionen und ästhetische Vorstellungen. Die gemeinsame Erarbeitung eines künstlerischen Produkts, das später im Rahmen einer Ausstellung der Öffentlichkeit präsentiert werden sollte, verlieh den Stimmen der Teilnehmerinnen auch über den Workshop hinaus Gewicht und zeigte ihnen, dass ihre gesammelten und in den Kunstwerken verarbeiteten Erfahrungen wertgeschätzt werden. Durch den gestalterischen Prozess wurde zugleich der Erkenntnis Rechnung getragen, dass handlungsorientierte und selbstgeleitete Lernprozesse besonders nachhaltig und motivierend wirken und dass Geschichte auf diese Weise erlebbar gemacht werden kann.[6]

Fazit: Eröffnung neuer Zugänge zu Geschichte durch gestalterische Arbeit

In der Feedback-Runde, die den Workshop beschloss, wurde deutlich, dass die Teilnehmerinnen in den vorangegangenen vier Tagen wichtige Denkanstöße erhalten hatten: Die Auseinandersetzung mit Mechanismen von Ausgrenzung und Gewalt sowie mit Formen mutigen Handelns in Vergangenheit und Gegenwart hatte sie dazu animiert, neue Perspektiven einzunehmen, eigenes diskriminierendes Verhalten zu reflektieren und sich im Alltag aktiv gegen Diskriminierung einzusetzen. Im Rahmen des künstlerischen Gemeinschaftsprozesses hatten sie ungezwungener und offener in den Dialog treten können, als dies in einer klassischen Vermittlungssituation möglich gewesen wäre, und sich aktiv mit gestalterischen Mitteln positionieren können.

Die Autorinnen dieses Beitrags wiederum sehen sich durch Verlauf und Ergebnisse des Workshops in der Auffassung bestätigt, dass historische Lernprozesse eng an die Lebenswelten ihrer Adressatinnen und Adressaten angebunden werden müssen und dass künstlerische und andere Formen der Annäherung eine wertvolle Ergänzung zu faktenorientierten Formen der Vermittlung von NS-Geschichte darstellen. Je mehr diesen Erkenntnissen Rechnung getragen wird – so daher ihr Fazit –, umso besser lässt sich auch und gerade bei jungen Menschen die von Gryglewski postulierte Erkenntnis befördern, »dass es ihre eigene, durch ihre aktuelle Situation geprägte Perspektive ist, mit der sie auf Geschichte blicken und Geschichte bewerten«.[7]

 

Dr. Andrea Hoffend ist Zeithistorikerin und Politikwissenschaftlerin mit jeweils langjähriger Erfahrung in Forschung und Lehre, im Archivwesen sowie im Kommunikationsmanagement. Seit 2015 leitet sie das Projekt Lernort Kislau.

Marie Kämpf ist europäische Zeithistorikerin und Politologin. 2019/20 war sie als pädagogisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Lernort Kislau. Derzeit bereitet sie sich auf eine

 

[1]    Vgl. Voß, Stephan: »Du Opfer …!«, in: Berliner Forum Gewaltprävention Nr. 12, Berlin 2003, S. 58.

[2]    Vgl. Schwerendt, Matthias u. a.: Kunst als Zeugnis, 2009, URL: www.bpb.de/lernen/projekte/geschichte-begreifen/42338/kunst-als-zeugnis?p=0 (letzter Aufruf: 19. 2. 2021).

[3]    Vgl. Dorner, Birgit: Gedenkstätten als kulturelle Lernorte – Gedenkstättenpädagogik mit ästhetisch-künstlerischen Mitteln. In: Kulturelle Bildung online, 2012/13, o. S. URL: www.kubi-online.de/artikel/gedenkstaetten-kulturelle-lernorte-gedenkstaettenpaedagogikaesthetisch-kuenstlerischen (letzter Aufruf: 19. 2. 2021).

[4]    Vgl. Gramelt, Katja: Der Anti-Bias-Ansatz. Zu Konzept und Praxis einer Pädagogik für den Umgang mit (kultureller) Vielfalt. Wiesbaden 2010, S. 196.

[5]    Vgl. Dorner 2012/13, o. S.

[6]    Vgl. Dorner 2012/13, o. S.

[7]    Vgl. Gryglewski, Elke: Gedenkstättenarbeit zwischen Universalisierung und Historisierung, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 14. 1. 2016, URL: www.bpb.de/apuz/218722/gedenkstaettenarbeit-zwischen-universalisierung-und-historisierung (letzter Aufruf: 30. 10. 2020).