»Wir intervenieren!«

10/2024Gedenkstättenrundbrief 215, S. 4-13
Katja Anders

»Wir intervenieren!«

Ein partizipatives Interventionsprojekt in der Ausstellung »Sinti und Roma im Konzentrationslager Sachsenhausen«

 

Mit »Wir intervenieren! Kritische Perspektiven auf die Ausstellung ›Sinti und Roma im KZ Sachsenhausen‹« bringen Expert:innen zum Thema Antiziganismus rassismuskritische Positionen in die Ausstellung in der Gedenkstätte Sachsenhausen ein. Das Projekt ist eine Kooperation der Gedenkstätte und des Bildungsforums gegen Antiziganismus, das zum Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma gehört. Es wurde von der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung sowie im Rahmen des Bundesprogramms »Demokratie leben!« durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert.

Ausgangspunkt von »Wir intervenieren!« waren Überlegungen, wie sich die Gedenkstätte Sachsenhausen stärker für verschiedene Perspektiven öffnen und zukünftig mehr Menschen ermöglichen kann, die Erinnerung an die Geschichte des Ortes zu gestalten. Das Projekt versteht sich als experimenteller Pilot, der auszuloten versucht, wie eine kuratorische Praxis aussehen könnte, in der Gedenkstätten-Mitarbeiter:innen und zivilgesellschaftliche Akteur:innen, Expert:innen und Interessierte gemeinsam Ausstellungen erarbeiten und inwiefern dadurch Diversität und Inklusion gefördert werden können.

Die Ausstellung »Sinti und Roma im KZ Sachsenhausen« wurde 2004 eröffnet und war damals die erste Ausstellung in einer KZ-Gedenkstätte, die den NS-Völkermord an den Sinti* und Roma* ausführlich thematisierte. Bis heute ist sie in einer ehemaligen Krankenrevierbaracke im Rahmen einer größeren Ausstellung zum Thema »Medizin und Verbrechen« zu sehen. Zentrales Ziel war damals, den Besuchenden den rassistischen Charakter der Verfolgung von Sinti* und Roma* deutlich zu machen. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt daher auf der rassistischen Erfassung und Begutachtung von Menschen durch die Kriminalpolizei und die so genannte »Rassenhygienische und kriminalbiologische Forschungsstelle« (RHF). In diesem Zusammenhang werden wirkmächtige Exponate wie Gesichtsabdrücke und erkennungsdienstliche Fotografien präsentiert, die Teil der nationalsozialistischen Verfolgungspraktiken waren. Auf engem Raum werden zudem zahlreiche Biografien von verfolgten Roma* und Sinti* vorgestellt.

Die Ausstellung entstand damals in enger Abstimmung mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. 20 Jahre später wollten die Gedenkstätte Sachsenhausen und das Bildungsforum gegen Antiziganismus einen angemessenen kuratorischen Umgang mit problematischen Exponaten diskutieren. Diese Überlegungen entstanden auch vor dem Hintergrund zahlreicher museumsdidaktischer und öffentlicher Auseinandersetzungen über einen kritischen Umgang mit rassistischen Ideologien, Bildern, Objekten und Sprachen.

Die Perspektiven von Expert:innen, die zu historischem und gegenwärtigem Antiziganismus arbeiten, insbesondere aus den Communities der Sinti* und Roma* selbst, erschienen dabei besonders wichtig und wertvoll: Wie wirkt die Ausstellung auf Menschen, die heute von rassistischer Diskriminierung betroffen sind? Welche Inhalte und Exponate empfinden sie als problematisch und welchen Umgang wünschen sie sich damit?

In dem Projekt veranstalteten die Gedenkstätte Sachsenhausen und das Bildungsforum gegen Antiziganismus zwischen September 2023 und Februar 2024 mehrere Workshops vor Ort und online. Das elfköpfige Kurator:innen-Team setzte sich aus Angehörigen der Communities der Sinti* und Roma* sowie der Mehrheitsgesellschaft zusammen, die sich in den Bereichen politische und historische Bildung, Aktivismus, Wissenschaft/Forschung und in Gedenkstätten gegen Antiziganismus engagieren.

Insbesondere die teilnehmenden Sinti* und Roma* äußerten zunächst Misstrauen gegenüber dem Projekt. Sie befürchteten, dass ihren Stimmen zum Beispiel bei Meinungsverschiedenheiten nur wenig Raum gegeben würde oder dass sie von den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft überstimmt werden würden. Gegenseitiges Vertrauen aufzubauen war daher eine wichtige Aufgabe in dem Prozess.

In den Workshops beschäftigten sich die Kurator:innen intensiv mit der Ausstellung. Sie identifizierten sehr schnell problematische Exponate und Texte und benannten inhaltliche Leerstellen. Zunächst schien es fraglich, wie innerhalb der kurzen Projektlaufzeit eine Intervention entwickelt werden könnte, die der Vielzahl der Änderungswünsche gerecht würde. Gemeinsam mit der Gestalterin Susanne Quehenberger definierten die Kurator:innen passende Formate, um die Ausstellung zu kommentieren, zu erweitern und in Teilen zu verändern. In einem sehr intensiven Arbeitsprozess schrieb das Ausstellungsteam ergänzende Texte und Kommentare und nahm zusätzliche Recherchen vor.

Die Intervention, die die Kurator:innen in verschiedenen Arbeitsgruppen (AG) entwickelten, konzentriert sich auf drei wesentliche Aspekte:

AG 1: Der Umgang mit rassistischer Sprache, die die nationalsozialistische Verfolgung der Sinti* und Roma* prägt, schien den Teilnehmenden in der Ausstellung nicht ausreichend reflektiert. Um darauf aufmerksam zu machen, überklebten sie besonders problematische Begriffe in den Ausstellungstexten. Zudem fügten sie einen längeren Kommentar ein, der Antiziganismus als spezifische Form des Rassismus und historisch gewachsenes Gewaltverhältnis erläutert und kontextualisiert.

AG 2: Mitarbeiter:innen der Kriminalpolizei und der »Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle« fertigten im Rahmen ihrer gewaltvollen Erfassungen und »Untersuchungen« Fotos und Gesichtsabdrücke von Sinti* und Roma* aus Berlin und Ostpreußen an. Sie entmenschlichten Sinti* und Roma*, indem sie sie zu ihren Forschungsobjekten machten und einer erfundenen »Rasse« zuordneten. Die »Untersuchungen« fanden in einer demütigenden Atmosphäre statt.

Die Teilnehmenden wünschten sich deshalb einen deutlich sensibleren Umgang mit diesen Exponaten, der die Würde der Abgebildeten und ihrer Angehörigen wahrt und den Blick der Täter:innen stärker bricht. An diesem Punkt diskutierte die Gruppe das immer wieder aufkommende Spannungsverhältnis historisch-politischer Bildungsarbeit: einerseits gab es den Anspruch, die Objekte als Zeugnisse der rassistischen Verfolgung zu zeigen, andererseits aber eine Reproduktion des ihnen innenwohnenden Antiziganismus und eine erneute Entwürdigung der Opfer zu vermeiden.

Die AG entschied sich dafür, die Mehrzahl der als besonders sensibel eingeschätzten Gesichtsabdrücke zu verdecken. Einige wenige Abdrücke sind in einem durch einen Raumteiler neu geschaffenen geschützten Raum weiterhin zu sehen. Eine Triggerwarnung in Form eines kurzen einführenden Textes soll verhindern, dass Besuchende und insbesondere Angehörige unfreiwillig auf die emotional herausfordernden Exponate stoßen. Darüber hinaus wollen die Kurator*innen damit zu einer bewussteren Begegnung mit den Objekten und ihrer gewalttätigen Geschichte anregen. Zusätzliche Informationen verweisen auf die Überlieferungsgeschichte der Abdrücke, die Anfang der 2000er-Jahre in der Osteologischen Sammlung der Universität Tübingen aufgefunden wurden. Die »Rasseforscherin« Sophie Ehrhardt war dort von 1942 bis 1968 tätig gewesen.

Darüber hinaus sucht die AG fortlaufend nach Angehörigen derjenigen Personen, von denen die ausgestellten Abdrücke abgenommen wurden. Ziel ist es, alle Angehörigen ausfindig zu machen, um ihnen die Entscheidungshoheit darüber zu geben, ob und auf welche Weise die Gesichtsabdrücke in der Ausstellung gezeigt werden sollen.

AG 3: Ein großes Anliegen der Kurator:innen war es zudem, die Kontinuitäten des Antiziganismus nach 1945 als Thema in die Ausstellung zu bringen. Überlebende und Angehörige hatten lange dafür kämpfen müssen, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft die Verbrechen im Nationalsozialismus anerkennt und angemessen daran erinnert. In diesem Zusammenhang war der AG sehr wichtig, die Verdienste der Bürger:innenrechtsbewegung der Sinti* und Roma* zu würdigen, ohne deren Arbeit die Ausstellung in der Gedenkstätte Sachsenhausen nicht möglich gewesen wäre.

Um den Besuchenden dies bewusst zu machen, fügten die Kurator:innen zusätzliche Bild-Text-Tafeln im Eingangsbereich der Ausstellung ein, welche die generationenübergreifenden Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgung auf viele Lebensbereiche der betroffenen Familien bis in die Gegenwart thematisieren. So beschreiben Zitate von Überlebenden ihre prekäre Situation nach dem Krieg. Außerdem ergänzte das Ausstellungsteam Informationen über Täter:innen, die ihre beruflichen Laufbahnen nach Kriegsende ohne Einschränkungen und Strafverfolgung fortführen konnten.

Anlässlich des 79. Jahrestages der Befreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen eröffneten die Kooperationspartner und Kurator*innen die Intervention am 18. April 2024 mit einer Podiumsdiskussion, einem kurzen Film und einem Rundgang durch die überarbeitete Ausstellung. Seitdem können sich Interessierte die Intervention im Rahmen der regulären Öffnungszeiten der Gedenkstätte ansehen. Mit Führungen durch die Ausstellung, Workshops – unter anderem für Gedenkstätten-Mitarbeiter:innen – sowie Angeboten für Roma* und Sinti* soll zukünftig ein breiter Kreis Interessierter angesprochen werden. Die Teilnehmenden erhoffen sich, dass die Intervention dazu anregt, Ausstellungsprojekte in Zukunft häufiger partizipativ zu gestalten.

 

»Früher wurden oft Ausstellungen ohne uns Angehörige initiiert. Wenn wir eine Begegnung auf Augenhöhe, wenn wir Vertrauen aufbauen wollen und wenn man von Partizipation spricht, dann geht das nicht mehr ohne uns.«

Margitta Steinbach, Menda Yek e.V.

 

»Ich finde es super wichtig, die Diversität der Community darzustellen. Unterschiedliche Eigenperspektiven, die oft übersehen werden, in der Ausstellung sichtbar werden zu lassen, kritische Einwände und Erleben als Nachfahrin mit einbringen zu können – das waren meine Gründe, am Projekt teilzunehmen.«

Sonja Kosche, Aktivistin und Nachfahrin

 

»Ich fand es sehr, sehr toll, diese Erfahrung gemacht zu haben. Es wird gewährleistet, dass unsere Deutungshoheit mit einfließt in diese Ausstellung. Auch Sinti wie ich, die sehr weit weg wohnen, hatten die Chance, teilzunehmen.«

Franz-Elias Schneck, Studierendenverband der Sinti und Roma in Deutschland

 

»Mit veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen und durch das Mitwirken von Betroffenen verändert sich das Erinnern auch in dieser Ausstellung. Die Frage, welche Funktion Antiziganismus heute hat, ist wesentlich für mich.«

Lukas Engelmeier, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten/Kompetenzstelle gegen Antiziganismus)

 

»Die Intervention wurde von verschiedenen Teilnehmenden erarbeitet, aus unterschied-

lichen Forschungsrichtungen und mit unterschiedlichen Überzeugungen. Meine Perspektive war es, die eigene Familie zu vertreten oder die ganze Community an sich. Das Interessante war dann, einen Konsens zu finden, dass wir uns einigen, wie wir diese Intervention in die Wege leiten. Es gab viele Gespräche miteinander, um einen gemeinsamen Nenner zu finden. Man konnte aushandeln, Kompromisse finden. Nun gibt es eine Multiperspektivität in der Ausstellung. Es ist nicht so, wie es eine Person wollte, sondern wie wir alle gesagt haben: ›So kann man das machen.‹«

Franz-Elias Schneck, Studierendenverband der Sinti und Roma in Deutschland

 

»Ich engagiere mich in der Gedenkarbeit und habe gemerkt, dass es noch viel Rassismus auch an den Gedenkorten gibt. Dass es immer noch rassistische Begriffe gibt, die nicht richtig eingeordnet werden. Dass die Bilder der Nazis verbreitet werden, ohne dass sie in den richtigen Kontext gerückt werden. Dass nicht gesagt wird, dass das die Bilder der Nazis sind und nicht unsere. Wir haben deshalb zum Beispiel auch dafür gesorgt, dass das Olympia-Propaganda-Plakat in der Ausstellung abgeklebt wird. Genauso, wie wir den Begriff ›Gypsies‹ abgeklebt haben und auch die rassistische Fremdbezeichnung – wo es nicht nötig ist, sie zu reproduzieren und wo es uns einfach total triggert. Jedes Mal erinnert sie uns wieder daran, wie wir entmenschlicht wurden.«

Sonja Kosche, Aktivistin und Nachfahrin

 

»Es ist mir als Sintizza vom Sinti-Verein Menda Yek e.V. besonders wichtig, unsere kulturelle Verantwortung für unsere verstorbenen und lebenden Angehörigen zu gewährleisten. Es ist uns ein Anliegen, wie man mit unseren Familienangehörigen in KZ-Gedenkstätten umgeht, wie man sie darstellt, gerade auch mit Biografien oder mit Fotos. Das ist für uns immer sehr schwierig, weil es uns immer wieder traumatisiert und wir damit nicht umgehen können. Weil nie jemand gefragt hat, wie wir emotional damit umgehen. Nicht-Sinti schreiben über uns, nehmen Bilder, die wir selbst nicht kennen, ohne uns die Möglichkeit zu geben, mitzusprechen. Es ist nun der Zeitpunkt gekommen, nicht mehr ohne uns über uns zu sprechen, damit sich Sinti nicht ausgeschlossen und ausgegrenzt fühlen.«

Margitta Steinbach, Menda Yek e.V.

 

»Mir ist es wichtig, dass es in Ausstellungen einen sorgsamen und verantwortungsvollen Umgang mit visuellem Material gibt, das in Gewaltsituationen entstanden ist und die Abgebildeten in einer Weise zeigt, die sie sich selbst nicht ausgesucht haben. Die Perspektiven von Nachkommen müssen dabei meiner Ansicht nach unbedingt berücksichtigt werden.«

Mareike Otters, Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen

 

»Nach der NS-Zeit geschah die zweite Verfolgung deutscher Sinti* und Roma*. Die historische Aufarbeitung der Zweiten Verfolgung wurde erst Ende 2023 vom Bundestag beschlossen. Viele wissen um den langen Weg der Sinti* und Roma* zur Anerkennung der eigenen Diaspora gar nicht, und ohne jene gäbe es die Ausstellung hier nicht.«

Sevin Begovic, Bildungsforum gegen Antiziganismus

 

»Ein großes Augenmerk haben wir auf den Rassismus nach 1945 gelegt und auf die Kämpfe, die heute geführt werden. Uns war wichtig aufzuzeigen, dass Rom:nja in ganz Europa nach wie vor große Schwierigkeiten haben, die ganz klar auf den Holocaust zurückzuführen sind.«

Sonja Kosche, Aktivistin und Nachfahrin

 

»Wenn man heute Ausstellungen macht, ist es wichtig, die Geschichte der Gedenkstätte selbst zu berücksichtigen. Die Kontinuitäten des Antiziganismus sollten thematisiert werden, einerseits was die Vorgeschichte des Nationalsozialismus betrifft, aber andererseits auch, was danach passiert ist. Ich denke dabei auch an gesellschaftliche Brüche, Veränderungen und Erfolge von Aktivismus. Bergen Belsen war beispielsweise eine wichtige Station der Bürgerrechtsbewegung. Diese Herausforderung anzunehmen ist lohnenswert. So kann Gedenkstättengeschichte in zukünftigen Ausstellungen angemessen berücksichtigt werden.«

Lukas Engelmeier, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

 

»Gedenken ist nichts Statisches und somit nie ›abgeschlossen‹. Vielmehr sind Erinnerungsarbeit und die damit verbundene Produktion und Vermittlung von Wissen Prozesse und stets im Wandel. Die kritische Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit wie Gegenwart ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die vom Dialog lebt. Hierbei müssen sich alle einbringen, um demokratische Teilhabe im Sinne aller zu ermöglichen.«

Jakob Mirwald, Netzwerk Sinti Roma Kirchen/Evangelische Akademie zu Berlin/Landesrat Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg e.V.

 

 

Katja Anders ist Erziehungswissenschaftlerin (MA) und Mitarbeiterin der Bildungsabteilung der Gedenkstätte Sachsenhausen. Als Projektleitende, Kurator:innen und Gestaltende waren an der Intervention außerdem beteiligt: Mareike Otters, Daniel Tonn, Vincent Schmidt, Sevin Begovic, Lukas Engelmeier, Sonja Kosche, Jakob Mirwald, Kai Müller, Franz-Elias Schneck, Margitta Steinbach und Susanne Quehenberger